Angst und Mut

Erst war alles dunkel. Dann eine Frau, azurblaur Augen die ihn anblickten. Ein warmes Lächeln. Darauf folgte wieder die Dunkelheit.

Eine Hand, ein stechender Schmerz in seiner Wange, der trübe, zornige Blick seines Vaters. Er musste fliehen! Doch er konnte nicht, konnte sich nicht bewegen, war dem Schmerz ausgeliefert.

Andere Erinnerung voller Schmerz und Demütigung, Situation, in denen sein Vater ihm das Leben zur Hölle machte. Er konnte nicht entkommen. Er sah einen Käfig, befand sich hinter den eisernen Gitterstäben, versuchte sich vergeblich zu befreien. Er schrie. Dann kam wieder sein Vater, eine Bierflasche in der Hand, umhüllt vom Geruch von Alkohol und Tabak. Er drehte sich um, doch der Mann kam von allen Seiten. Er war gefangen in einem Käfig voller Bestien, wie das Fegefeuer selbst. Nur dass er nichts falsch gemacht hatte. Er wollte entkommen, doch sein Vater umzingelte ihn, kam von überall. Dann folgte der Schlag und er wurde ins Wasser geworfen.

Eisige Kälte ergriff seinen Körper, er wurde herumgewirbelt, dann wurde alles still. Kein Geräusch, keine Bewegung, als wäre die Zeit stehengeblieben. Alles wirkte tot und leer, eine zerstörte Heimat von ehemals unfassbarer Vielfalt. Er blickte umher, konnte nichts erkennen, was diese Leere verursacht hatte, kein Grund, für diese Trostlosigkeit, die von ihm Besitz ergriff. Als hätte er etwas verloren, wusste jedoch nicht, was es war. Blickte er auf die Folgen eines Sturms oder die gefährliche Ruhe davor? War etwas verschwunden, oder hatte nie etwas existiert? Er wusste es nicht. Fühlte bloß, wie sein Körper im trüben Wasser schwebte. Er sank nicht zum Grund, war so still wie seine Umgebung. Aber irgendetwas musste es doch geben, oder? Er hörte einen Schrei, der ihm bekannt vorkam. Dann sah er ein kleines blondes Mädchen, festgehalten von Unbekannten, im Wasser strampeln. Er wollte zu ihr, doch er blieb gefangen, dazu verdammt zuzusehen, wie das Mädchen weggezerrt wurde. Er wollte ebenfalls schreien, doch kein Laut verließ seinen Mund. Das Mädchen verschwand, an ihrer Stelle erschien ein Junge, der ihn vorwurfsvoll und enttäuscht anschaute und kurz darauf nirgends mehr zu sehen war. Das Echo der Schreie wurde vom Wasser verschlungen, doch bevor die Stille wiederkehren konnte, entstand um ihn ein Wirbel aus Wasser und er wurde in den Dreck katapultiert. Der Lärm schien von überall zu kommen, er sah Berge von Müll, dazwischen Staub, aber kein Tropfen Wasser. Geradeaus sah er eine Wüste, wo einst das Meer war. Er erschrak, taumelte vorwärts, doch bevor er fallen konnte, änderte sich seine Umgebung erneut. Er stand im Wasser, wollte raus, wusste, dass es ihm schadete, doch er verstand nicht, weshalb, konnte nicht hinaus, weil die Sehnsucht zu groß war. Dann bewegte sich auf einmal das Wasser, Berge aus Plastik schwammen auf ihn zu, seltsame Wesen, die vor dem Müll flohen. Er sah schreiende Menschen, die aus dem Wasser stiegen, jemand fiel, aber er konnte nicht helfen, denn auf einmal schlang sich etwas um seine Beine und er fiel. Er wollte sich befreien, strampelte, doch das verschlimmerte die Situation bloß.. Er sah ein kleines rotes tintenfischähnliches Wesen, das um Hilfe rief, ihn aus unzähligen Augen anstarrte und sich, wie er erst jetzt bemerkte, in einer Plastiktüte verfangen hatte. Er versuchte zu dem Wesen zu gelangen, doch auf halbem Weg schwamm ihm etwas in den Weg, ein Mann, der ihm nur allzu bekannt war. Der Mann blickte ihn höhnisch an und er wollte zurückweichen, doch der Müll hatte eine Mauer um ihn gebaut und somit jeden Fluchtweg blockiert. Wut ergriff von ihm Besitz, er stand auf und wollte den Mann schlagen, doch er schlug ins Leere und fand sich kurz darauf erneut an einem anderen Ort wieder. Er schlug hart auf dem Boden auf, als hätte ihn etwas gestoßen und blickte auf. Jemand hielt ihm eine Hand hin, ein ihm unbekannter Mann, der auf den ersten Blick ganz nett wirkte. Aber er wusste es besser, auch wenn unklar war, weshalb, sprang auf und griff ihn an. Doch plötzlich änderte sich das Bild erneut und er sah Augen, von so unfassbaren Grün, dass er sich nicht losreißen konnte. Das Mädchen aus seinem Traum. Ihr Blick war warm und voller Liebe, jedoch konnte er nicht lange genug in dieser Wärme baden, da die Szene im nächsten Moment erneut wechselte.

Die Bilder, die er sah, wurden immer verschwommener und ohne jeden Sinn, dabei spürte er die Hitze, die von seinem Körper ausging nun deutlicher. Der Schmerz, welcher sowohl von seinem Kopf, als auch dem Rest von ihm ausging, war zuvor zwar vorhanden, jedoch nicht im Vordergrund gewesen, was sich nun schlagartig änderte. Farben wurden vor seinen Augen zu einer einzigen Masse, Geräusche, die er nicht zuordnen konnte, vermischten sich und dröhnten in seinen Ohren, dass es wehtat. Wie aus weiter Ferne hörte er Stimmen. Er nahm ein Stöhnen wahr, wusste aber nicht, ob es ihm selbst entsprungen war. Er wollte endlich raus aus diesem Traum, in dem er sich offensichtlich befand, der seine Gefühle und Ängste gegen ihn verwendete! Er musste der Realität bereits näher sein, zumindest hatte er nicht mehr das Gefühl, gefesselt zu sein, er konnte entkommen! Er sammelte seine Kraft, dann kamen die Schatten wieder um ihn und er sah nichts als Dunkelheit.

Lennox schlug die Augen auf. Er lag auf einem Lager aus Decken und Kissen, Schweiß rann ihm über die Stirn und er stöhnte laut auf. Sein Kopf stach und er war am Zittern, doch dann überkam ihn die Erinnerung an die letzten Ereignisse. Lennox wollte aufspringen, ignorierte die Proteste seines Körpers. Er musste Enya und Mark helfen! Er hatte sie nicht beschützen können, das Jugendamt hatte sie mitgenommen, also musste er ihnen wenigstens jetzt helfen.
Bevor er allerdings aufstehen konnte, packten ihn Hände und drückten ihn zurück in die Kissen.

„Scheiße, endlich bist du wach, Lennox, wir haben uns verdammt nochmal Sorgen um dich gemacht!"

Lennox erkannte Lukes Stimme sofort, obwohl der enthusiastische Unterton fehlte. Bei der momentanen Lage keine Überraschung.

„Luke! Hey, wie geht es dir? Du warst einen Tag lang weg, Lennox, nur zwischendurch hast du die Augen ein bisschen aufgemacht und seltsame Sachen gesagt.", sagte Luna.

Bevor er jedoch zum Sprechen kam, fügte jemand hinzu:

„Lasst ihn in Ruhe, er hat Fieber!"

Scheinbar war dies Kai, welcher die anderen zurecht wies. Danach sprach Noah:

„Du hast immer wieder geschrien und vor wahrscheinlich vor Schmerz gestöhnt, was ist denn passiert?"

Jetzt endlich fand Lennox die Kraft, um etwas zu erwidern:

„Wo ist Ryan?", fragte er mit rauer Stimme.

Die anderen blickten umher, ganz offensichtlich auf der Suche nach ihrem Anführer. Als niemand etwas erkennen konnte, vermutete Noah schließlich:

„Wahrscheinlich spioniert er, wir kennen den Ort, an den das Jugendamt Mark und Enya gebracht hat, allerdings hatten wir noch nicht die Gelegenheit dazu, es genauer zu erforschen, da es beinahe direkt neben dem Polizeirevier der Stadt liegt. Ryan gibt sich immernoch die Schuld an der Situation, auch wenn er es nicht mehr so stark zeigt. Er hatte...also..."

„Er hat eine harte Vergangenheit.", beendete Luke den Satz leise.

Lennox stieß einen schwachen Fluch aus und wollte sich erneut zitternd hochstemmen, aber sein Vorhaben wurde von den Kopfschmerzen und den anderen vereitelt.

„Du musst dich ausruhen! Meine Mum hat mich mal ein altes Familienrezept für Tee gelehrt, du kannst froh sein, dass ich das Zeug als Erinnerung an sie immer mit mir rumgeschleppt habe, es scheint bei dir sehr gut zu wirken, allerdings ist es jetzt leer, es waren nur noch einige getrocknete Blätter, und das komische Kraut kann man nirgends finden, als würde es gar nicht existieren! Aber mal ernsthaft, was sollte das auf einmal, du kippst einfach um und bekommst auf einmal hohes Fieber und zitterst, während wir dich ins Lager tragen!?"

Noahs Zorn baute auf seiner Angst, Angst um Lennox, wie er feststellte. Wärme schlich sich in sein Innerstes und musste sich auch in seinem Blick wiedergespiegelt haben, denn Noah schenkte ihm ein leichtes Lächeln, doch seine Frage stand noch immer im Raum. Lennox seufzte schließlich und sagte:

„Es ist das kalte Wasser. Ich weiß den Grund dafür nicht und kann es nicht einmal ansatzweise verstehen."

Beim letzten Teil war er leiser geworden. Das Sprechen fiel Lennox immernoch Schmerzen und das Fieber forderte seine Kräfte, doch seltsamerweise fühlte Lennox sich nicht so elend, wie manch andere Male, als er krank war. Lag das wirklich an diesem komischen Tee, von dem Noah geredet hatte?
Die anderen schienen dies zu bemerken und wiesen ihn an, sich auszuruhen, auch wenn Lennox Unbehagen verspürte, Ryan alleine im direkten Gebiet des Feindes zu lassen. Des Feindes. Wie beim Kampf, sah Lennox die für ihn ehemals Guten nicht länger als Freunde, sondern als Bedrohung seiner Sicherheit und der der anderen. Noah brachte ihm noch eine Tasse Tee, die letzte, wie er Lennox erklärte. Den Geruch, der jetzt in Lennox Nase strömte, hatte er nie zuvor kennengelernt. Luke und Noah einigten sich noch, Ryan zu suchen und zurück ins Lager zu bringen, damit alle Kraft tanken konnten, welche sie demnächst brauchen würden. Noah war eingeteilt für die Wache, doch vorher spukte ihm noch eine Frage im Kopf herum:

„Wie und worin konntest du eigentlich den Tee machen?"

„Das willst du nicht wissen, Lennox!", antwortete Noah mit einem gespielt finsteren Lächeln.

Damit war das Thema vorerst abgehakt und Lennox fiel in einen tiefen, diesmal trotz Fieber traumlosen Schlaf.

Er wachte vom Lärm draußen auf. Es klang so, als würden mehrere Personen streiten und an den Stimmen erkannte er auch, wer es war. Sein Fieber war scheinbar gesunken, doch sein Körper bebte noch immer leicht und die Kopfschmerzen waren auch noch da, wenn auch viel schwächer. Aber all das rückte in den Hintergrund, als Luke und Noah hereinkamen und Ryan mitschleppten, der sich heftig wehrte, bis die beiden ihn zu Boden und somit neben Lennox warfen. Als der aufgebrachte Anführer Lennox entdeckte, stoppte er seine Bewegung und sah ihn - scheinbar erleichtert - an.

„Hey, geht's dir besser?"

Seine Stimme war warm, doch Lennox konnte tausend aufgestaute Gefühle dahinter erkennen. Er selbst versuchte, das Geschehene möglichst nicht an sich ranzulassen und stattdessen eine Lösung zu finden. Allerdings hatte er nicht sonderlich viel Erfolg damit. Lennox nickte.

„Hast du etwas rausgefunden?"

Ryan schien überrascht, wollte dann aber antworten, jedoch unterbrach Luke ihn:

„Jetzt ermutige das Arschloch nicht auch noch!"

Ryan funkelte ihn böse an und sagte:

„Ja, ich habe etwas rausgefunden. Ich konnte den ungefähren Standort von Mark und Enya herausfinden, sie sind auf jeden Fall im Gebäude des Jugendamts, ich habe sie gesehen, aber nur kurz, danach konnte ich sie durch die Fenster nicht mehr ausmachen."

„Wir mussten ihn den ganzen Weg bis hier zerren, um ihn davon abzuhalten etwas wirklich Dummes zu tun!", rief Noah zornig.

„Aber..."

„Nein! Es reicht schon, dass sie Mark und Enya haben, sie dürfen dich nicht auch noch kriegen!"

Lennox sah, wie Ryan versuchte, sich zusammenzureißen, etwas zu erwidern, doch was Noah gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Bevor etwas passieren konnte, fing Lennox wieder an zu sprechen:

„Wir müssen ihnen helfen!"

Er stemmte sich bebend hoch, in ihrem Lager konnte man nicht ganz stehen, weshalb er eher krabbelte, doch bereits nach einem Schritt, gaben seine Beine nach und Ryan musste ihn auffangen, damit er nicht auf den Boden knallte. Er schob Lennox zurück.

„Was sollte das denn werden? Du musst dich ausruhen!"

„Dafür ist keine Zeit, wir müssen ihnen helfen!", versuchte Lennox einen verzweifelten Versuch, sich von Ryan loszumachen, doch dieser verstärkte bloß den Griff um ihn und drückte ihn entschlossen auf das improvisierte Bett.

Durch das Fieber war Lennox zu schwach, um sich zu wehren und die Schmerzen waren auch nicht grade hilfreich. Also gab er sich geschlagen und legte sich wieder hin. Er bekam noch mit, wie Luke und Noah Ryan daran hinderten, wieder nach draußen zu gehen und sich der Anführer auf ein paar Decken setzte, unter den wachsamen Blicken seiner Freunde. Dann schlief Lennox ein.

Es dauerte drei Tage, bis Lennox sich wieder gut fühlte. Sonst waren es immer ungefähr zwei Wochen gewesen, dieser Tee hatte wirklich Wunder gewirkt.
Jetzt war es Zeit, ihre Freunde zurückzuholen! Lennox hatte sich nicht davon abhalten lassen, mit den anderen einen Plan zu entwickeln. Es war sehr riskant, doch sie alle waren entschlossen, ihre Freunde zu retten. Ryan war anfangs dennoch dagegen gewesen, da er sie nicht in Gefahr bringen wollte, doch nachdem Kai, Luke, Noah und Luna jeden seiner versuchten Alleingänge vereitelt hatten, erkannte er, dass er keine Wahl hatte.

Jetzt standen sie vor ihrem Lager, bereit, ihre Freiheit zu riskieren um Mark und Enya zurückzuholen. Und nichts würde sie aufhalten! Denn sie würden füreinander kämpfen und niemals aufgeben!

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top