Kapitel 24
In den letzten drei Monaten hatte ich gelernt, wieder zu leben. Ich habe gelacht, mich mit Menschen angefreundet und langsam aber sicher meine Mauern fallen lassen. Ich wurde stärker und konnte anderen helfen. Aber vor allem wurde in dieser Zeit auch mir unglaublich geholfen. In den letzten drei Monaten hatte ich wieder zu meinem alten Ich zurückgefunden. Zu einer April, die nicht überlebte, sondern wahrlich lebte. Die morgens aufstand und sich freute, dass sie den Tag erleben durfte. Eine April, die sich wohlfühlte und sich nicht ständig fragte, warum sie überlebt hatte.
Ich konnte wieder spüren, wie es war, jemandem zu vertrauen. Und ich erfuhr, wie es sich anfühlte, wenn mir vertraut wurde. Die Menschen um mich herum sahen mich als eine Frau, die durch das Leben gehen konnte, auch wenn sie Rückschläge einstecken musste. Mit einem einzigen Abend wurde diese Welt zerstört. Die Seifenblase zerplatzte und zurückblieb wieder eine junge Frau, die unter Selbstzweifeln, Ängsten und Einsamkeit litt. Die lächelnden Gesichter würden sich irgendwann von mir abwenden, wenn sie merken würden, dass ich nicht mit ihnen reden und sie nicht an mich heranlassen würde. All die Menschen, die mir wichtig waren, würden mich wieder verlassen. So war es immer gewesen und so würde es auch immer bleiben. Vielleicht haben die Richter nie eine Strafe über mich verhängt, aber das Leben hatte es getan.
Ich hatte die Nacht nicht geschlafen und war zu dem Entschluss gekommen, dass nicht immer ich verlassen werden durfte, sondern, dass auch ich die Möglichkeit hatte, alles hinter mir zu lassen. Außerdem wäre es für alle Beteiligten einfacher. So konnten sie mich hassen und auch wenn es mir einen Stich versetzte, Adam gehen zu lassen, musste ich es doch tun, um nicht diesen abweisenden Gesichtsausdruck auf seinem Gesicht zu sehen, vor dem ich solche Angst hatte. Genau das wurde mir bewusst, als ich mit Adam auf der Tanzfläche gestanden hatte. Genau das wurde mein Plan. Mein Strohhalm, an den ich mich klammern konnte.
Die ganze Nacht über hatte Adam versucht, mich anzurufen. Er hatte auch irgendwann vor meiner Tür gestanden, aber ich hatte gehört, wie Mister Smith ihn gebeten hatte, zu gehen. Es war sehr lieb, wie er sich um mich kümmern wollte, weil er dachte, ich hätte Liebeskummer. Und zu allem Überfluss hatte ich den wirklich. Immerhin war ich gerade dabei, den Mann zu verlassen, in den ich mich verleibt hatte. Zu all dem Schmerz aus der Vergangenheit kam ein neuer hinzu. Patrick, Doreen und Nick zu verlassen, tat weh. Aber Adam aus meinem Leben zu streichen, glich einem übernatürlichen Schmerz, als wollte jemand mein Herz zerquetschen. Doch ich wusste, Adam würde mich irgendwann verlassen. Wir hatten keine gemeinsame Zukunft. Zu spüren, wie es sich anfühlte, von ihm weggestoßen zu werden, wollte ich noch weniger spüren, als den jetzigen Schmerz. Also hatte ich meine Entscheidung getroffen.
Um acht Uhr stand ich vor dem Balcktower. Es war Samstag, weswegen kaum etwas los war. Ein Mann der Security nickte mir kurz zu und ich fuhr in die oberste Etage. Es schien ihm, da Wochenende war, nicht allzu sehr zu verwundern, dass ich in Jeans, schwarzem Shirt und grauer einfacher Jacke im Blacktower erschien.
Schneller als mir lieb war, hielt der leere Fahrstuhl in der obersten Etage. Ich trat heraus und ging durch den leeren Flur, den ich schon so oft entlanggegangen war. An meinem Schreibtisch blieb ich kurz stehen. Ich stellte meine Handtasche dort ab und zog den weißen Umschlag mit meiner Kündigung heraus, die ich heute früh fertiggemacht hatte. Mein Plan war es, ihn auf Adams Schreibtisch zu legen und genauso schnell wieder zu verschwinden, wie ich hergekommen war. Ich öffnete Adams Bürotür und während ich den Brief in meinen Händen hin und her drehte, ging ich zu seinem Schreibtisch.
Mir war flau im Magen und zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich das Richtige tat, ob es fair war, heimlich zu verschwinden. Ich schüttelte die Gedanken ab. Genau so durfte ich nicht denken.
Ich legte den Brief in die Mitte auf Adams ordentlichen Schreibtisch und atmete einmal tief durch. So war es richtig. Ob nun ich kündigte oder Adam mich – das Resultat würde das gleiche bleiben. Nur müsste ich die Abweisung nicht zu spüren bekommen.
„Was wird das?"
Mein Herz setzte aus. Ich wirbelte herum und sah Adam und Patrick an der Bar sitzen. Sie trugen beide noch ihre Smokings von der Benefizgala und unter Adams Augen lagen tiefe Augenringe. Auch Patrick sah sehr mitgenommen aus. Beide schienen in dieser Nacht nicht sehr viel Schlaf bekommen zu haben. Wenn überhaupt. Ich fühlte mich sofort schuldig.
Dennoch wusste ich, dass ich nicht besser aussehen konnte. Ich wollte gar nicht wissen, welches Bild ich wirklich abgab. Heute früh hatte ich kaum in den Spiegel schauen können. Mit Sicherheit hatte ich verquollene, rote Augen, weil ich die ganze Nacht geweint hatte und zusätzliche Augenringe vom Schlafmangel.
„Ich wollte das nur abgeben, bevor ich gehe." Ich deutete auf den Brief.
Adam stand kommentarlos von seinem Hocker auf und kam mit verschlossener Miene auf mich zu. Ohne mich anzusehen, lief er an mir vorbei. Er nahm den Brief, öffnete den Umschlag und überflog den Inhalt. Nervös betrachtete ich ihn.
Mit finsterer Miene blickte er auf. „Das ist ein Scherz."
„Nein." Ich schüttelte den Kopf. „Hier zu arbeiten war das Beste, was mir in den letzten sechs Jahren, nein in meinem ganzen Leben passiert ist. Ich habe hier unglaublich tolle Menschen kennengelernt, aber das war alles ein Traum. Es hat sich ausgeträumt." Ich sah in Adams blaue Augen, damit er die Ernsthaftigkeit meiner Worte erkannte.
„Verflucht NEIN!", schrie Adam und warf den Brief wütend auf seinen Schreibtisch. Vor ein paar Monaten wäre ich bei dem harschen Ton zusammengezuckt. Aber ich wusste, dass Adam mir nie wehtun würde, auf jeden Fall nicht körperlich.
„Wenn du dich hier wohlfühlst, warum zum Henker willst du dann kündigen?"
„Ich will nicht, ich muss. Ich werde alles, was mich umgibt mit mir runter reißen. Das kann ich dir und deiner Firma nicht antun."
„Dumme Ausreden. Nenn mir einen Grund, warum ich dir nicht helfen sollte? Warum ich dir nicht meine Hand reichen sollte?" Adam war wütend. Er atmete schnell und fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen, als wollte er mich analysieren und meine Reaktionen genau beobachten.
„Ich würde das Entsetzen in deinem Blick nicht ertragen", flüsterte ich. Und wieder liefen mir Tränen über die Wangen.
Er schüttelte resignierend den Kopf und schloss die Augen. „Warum glaubst du, dass ich so reagieren werde? Habe ich dir jemals das Gefühl gegeben, dass du mir nicht vertrauen kannst?"
„Weil jeder so reagieren würde!", schrie ich. „Adam, wenn ich sage, dass mein Leben verkorkst ist, dann meine ich das auch so. Dieser ganze Kram hat meine Eltern in den Selbstmord getrieben." Ich schluchzte auf.
Adams Augen weiteten sich. Dann umspielte ein kleines, trauriges Lächeln seine Lippen. „Ich bitte dich, April. Bitte vertrau mir. Bitte glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich hinter dir stehen werde." Ich schüttelte nur den Kopf.
„Du hast keine Ahnung, wie ich fühle oder? Wie stark das ist, was ich für dich empfinde." Verwirrt schaute ich auf, mit Tränen, die weiterhin stumm über mein Gesicht liefen. Adam kam einen Schritt auf mich zu.
„April, reichst du mir deine Hand, werde ich sie für immer festhalten. Das verspreche ich dir. Nichts auf dieser Welt kann mich davon abhalten, dich in meine Arme zu ziehen und zu beschützen. Ich liebe dich. Mehr als ich je in meinem Leben jemanden geliebt habe und das wird sich auch nie ändern. Du bist meine größte Stärke, denn deinetwegen sehe ich das Leben bunter und glaube daran, dass auch ich glücklich werden kann. Aber du bist auch meine größte Schwäche. Ich brauche dich mehr, als du dir ausmalen kannst. Du könntest mich von jetzt auf gleich verlassen. Du könntest gehen, so wie du es jetzt willst, und mich gebrochen zurücklassen. Aber jede Sekunde mit dir war und ist es wert, dieses Risiko einzugehen."
In Adams Blick lagen so viele Gefühle. Schmerz. Liebe. Verzweiflung. Hoffnung. Und eine Bitte. Eine Bitte, ihm zu vertrauen und nicht zu gehen. Es tat mir unheimlich weh. Ich wollte nicht, dass er meinetwegen litt. Ich wollte Adam nicht so sehen. Wieso musste ich ihm nur so wehtun?
Plötzlich kam mir ein Gedanke. Würde es ihm bessergehen, wenn er mich verlassen würde? Wenn er meine Vergangenheit erfuhr und er sich dann von mir abwenden würde? Wenn ich ihm erzählen würde, was passiert ist, damit er endlich sah, dass ich nicht die Frau war, die er in seinem Leben brauchte? Er mag sich verliebt haben, aber er kannte ein entscheidendes Detail meines Lebens nicht. Es ihm zu sagen, würde es für ihn vielleicht einfacher machen, mich gehen zu lassen. Ich würde wahrscheinlich zerbrechen, aber so konnte ich wenigstens Adam ein wenig Schmerz abnehmen. Ich wollte eigentlich selbstsüchtig sein und alles hinter mir lassen. Das war mein Plan gewesen, aber Adam hatte verdient zu erfahren, warum ich gehen wollte.
„Ich hatte eine Schwester", brachte ich schließlich unter Tränen heraus. „Sie wurde vor sechs Jahren ermordet." Nun weinte ich. Ich hatte mir seit Jahren verboten, daran zu denken. „November", flüsterte ich ihren Namen.
Meine Beine gaben unter mir nach, doch bevor ich fallen konnte, hatte Adam mich in seine Arme gezogen und mich fest an sich gepresst. „April...", flüsterte er an meinem Ohr. Zusammen sanken wir auf den dunklen, flachen Teppich und Adam zog mich enger zu sich heran.
„Sie wurde in ihrer eigenen Wohnung ermordet. Erst vergewaltigt und dann erdrosselt, während er in sie..." Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Stumm strich mir Adam über Haar und Rücken. Er verstand auch so.
„Ich habe sie gefunden. Ich kam in ihre Wohnung und ich wollte... ich wollte mir ihr reden, aber als ich ihr Schlafzimmer betrat, war er noch da und war über ihr. Sie starrte leblos in meine Richtung. Sie war meine... meine Zwillingsschwester. Ein Teil von mir ist damals gestorben." Meine Stimme brach immer wieder. Ich zitterte und schluchzte. Es tat so unglaublich gut, darüber zu sprechen. Aber es tat auch unglaublich weh, die Erinnerungen zuzulassen.
Ich wollte genießen, wie Adam mich festhielt, so lange ich es konnte. Auch wenn es nur ein paar Minuten dauern würde. Diese Minuten würde ich für immer wie auch alle anderen Momente mit Adam in meinem Herz behalten. Ich wollte mich daran erinnern, dass ich für einen kurzen Moment in seinen Armen zu Hause gewesen war.
„Der Mann, der sie umgebracht hatte, war mein Exfreund gewesen." Adam sog scharf die Luft ein, ohne aber mit dem Streicheln und Wiegen aufzuhören. „Ich hatte drei Stunden vorher mit ihm Schluss gemacht, weil er mich gedrängt hatte, mit ihm zu schlafen, aber ich es nicht wollte. Ich konnte doch nicht wissen, dass er meine Schwester dafür bestrafen würde."
„Du hast sie nicht umgebracht, April", flüsterte Adam.
Er konnte mich einfach nicht verlassen. Ich würde das nicht überstehen. So stark war ich nicht. Er dachte, ich redete mir ein, dass meine Schwester ermordet worden war, war meine Schuld. Das hatte ich am Anfang getan, aber nach ein paar Jahren hatte ich verstanden, dass ich nie vorhersehen hätte können, wie mein Exfreund reagiert hätte.
„Nein. Das war Matthew." Ich merkte, wie Adam nachdachte. Seine streichelnden Bewegungen brachen ab.
„Ja, Matthew Olsen, Roberts Bruder."
„Scheiße... Oh Gott April."
„In den Berichten hieß es, dass November sich das Leben genommen hatte. In einem anderen, dass auch Matthew den Freitod gewählt hat, aber beides ist gelogen. Nie wurden ihre beiden Tode miteinander in Verbindung gebracht. Matthew starb nicht, weil er nicht mehr leben wollte." Ich schüttelte den Kopf, als mir die Bilder von ihm, wie er mit diesem wahnsinnigen Blick auf sie nieder gesehen hatte, wieder in den Sinn kamen.
„Als ich ihn anschrie, was er getan hatte, ließ er von meiner Schwester ab und... und kam auf mich zu. Er meinte, er wolle sich beide Schwestern vorknöpfen und keine halben Sachen machen. Ich drehte mich um und wollte fliehen, aber er war... er riss mich an meinen Haaren zurück." Noch heute erinnere ich mich an diesen Moment, in dem ich dachte, dass ich meiner Schwester folgen würde.
„Wir kämpften im Flur miteinander. Matthew war natürlich viel stärker als ich und irgendwann stieß er versehentlich eine Vase um. Ich fiel und landete in den Scherben... Er über mir. Er hat versucht mich zu erdrosseln, hat zugedrückt, dass ich keine Luft mehr bekam. Ich tastete blindlings nach irgendwas... Ich wusste doch nicht, was ich tat." Ich weinte, wenn möglich noch heftiger aber Adam ließ mich keinen einzigen Moment los.
„Ich ertastete eine Schere, mit der November die Blumen geschnitten haben musste. Sie muss zusammen mit der Vase auf den Boden gefallen sein. Und ohne weiter nachzudenken, rammte ich Matthew die Schere in den Rücken. Ich zog sie raus und tat es nochmal und... und nochmal. Dann ließ er von mir ab, ich rollte mich rum, dass ich auf ihm war und holte ein letztes Mal aus." Das Blut, die Schmerzen, die Angst und Wut, die Verzweiflung und der Nebel. All das ließ mich vergessen, wer ich war, was ich tat und welche Folgen es haben würde.
„Ich rammte Matthew die Schere in die Brust, in sein Herz... Mitten in sein Herz. Matthew hat sich nicht das Leben genommen. Ich habe ihn getötet."
Das war es gewesen. Die schlimmste Tat meines Lebens. Ich hatte einem Menschen das Leben genommen. Ich hatte es getan, ohne nachzudenken, ohne das kleinste Zögern. Damals war mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass es falsch war, was ich tat. Ich wollte einfach nur, dass er aufhörte mir weh zu tun.
„Danach stand ich auf und ging in das Zimmer meiner Schwester. Ich legte mich neben sie auf das Bett und zwanzig Minuten später stürmte die Polizei die Wohnung." Eine Nachbarin hatte sie gerufen, weil sie mich und Matthew kämpfen gehört hatte.
„Bei meiner Schwester stellten Sie nur den Tod fest. Ich hatte zwei gebrochene Rippen, ein geprelltes Schlüsselbein, eine Gehirnerschütterung und unzählige Schnitte am Rücken, von denen ich heute noch Narben habe."
Ich klammerte mich an Adam. Denn ich wollte nicht, dass er mich jetzt, nachdem ich ihm alles erzählt hatte, losließ und mich aus seinem Leben strich. Er war der erste Mann, der erste Mensch, den ich an mich heranlassen wollte. So richtig heran. Adams Hemd musste schon komplett durchnässt sein, aber er hielt mich noch immer fest. Stumm, aber er hielt mich fest.
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