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Kaylee
Ich glaube, ich war noch nie so gläubig, wie an diesem Tag. Still betend schließe ich die Tür auf. Hoffentlich sind alle in ihren Zimmern oder Mom und Dad noch irgendwo.
Es würde mich aber nicht wundern, wenn jetzt Mom aus dem Nichts vor mir stehen würde.
Mein Herz wummert gefährlich laut in meiner Brust.
Der erste Blick enthüllt gähnende Leere, der erste Schritt ist lautlos. Das muss ein gutes Zeichen sein.
„Oh zum Glück! Kay, wo warst du denn?" George taucht im Türrahmen auf und bedanke mich zum zweiten Mal heute gen Himmel. Dieser Bruder ist das Beste, das mir jetzt passieren konnte.
Hektisch überfliege ich den Flur und das Treppenhaus. Niemand in Sicht. „Wo sind alle?" Sicher ist sicher.
George wechselt die Tasse von der einen in die andere Hand. Er und sein heiliger Kaffee. Ich glaube, er würde nicht existieren, würde es dieses Getränk nicht geben. Wahrscheinlich hat Mom ihn mit Kaffee gefüttert – als Baby.
Er setzt ein müdes Lächeln auf, seufzt leise: „Die werten Eltern sind bei Leroy und Theresa. Kenny ist bei Robert."
Ich stoße erleichtert die Luft aus. Keiner da, außer Georgy.
„Wo warst du?"
„Bei Freunden."
„Freunden?"
„Ja, Georgy, ich habe Freunde."
Er verzieht die Brauen ein wenig. „Ich weiß, aber ich weiß nicht..."
„Was weißt du nicht." Ich ziehe die Schuhe nebenbei aus und versuche seinem Blick standzuhalten. George seufzt erneut und tritt auf mich zu. „Ich weiß nicht, was das gestern war, Leelee. Mom war... wütend..." Der Unterton in seiner Stimme verrät mir, dass es die Untertreibung des Jahrhunderts war. „Granny hat sich das Grinsen verkniffen, als ich sie darauf angesprochen habe. Derek und Kenny... ja... du kennst die beiden. Das war ihr Moment dich absolut in die Pfanne zu hauen."
„Und du?"
„Ich? Ich habe mich um Granny gekümmert und Ouzo in der Küche gezwitschert. Gott, wir haben uns fast in die Hose gemacht vor Lachen. Das war zwar komplett über der Grenze, Lee, aber es war genial."
Damit bringt er mich zum Grinsen.
Das schafft George immer. „Du sollst nicht stolz darauf sein. Das wird noch ein Donnerwetter geben, das ist dir bewusst?"
„Von wem, Der, Ken oder Mom?"
„Allen. Naja... vielleicht nicht Kenny. Die hat nicht die Eier dafür." Er gluckst, dann nippt er einmal von der kochenden Brühe. Ekelhaft! Ich weiß nicht, wie er das Gesöff überhaupt runterbekommt.
Ich nicke nach oben. „Na dann ruh ich mich besser nochmal aus."
„Du willst mir nicht sagen, wo du warst, oder?"
„Nope."
„Dann weiß ich es ja."
„Kann sein. Kann auch sein, dass du noch Ouzo-Nachwirkungen hast."
„Kann sein."
Wir grinsen uns einen Moment an, dann verschwinden wir beide.
„George?"
„Hmm?", tönt es aus der Küche.
„Wenn sie fragen, ich bin noch nicht da."
„Okay."
Darum ist George mein liebstes Familienmitglied mit meiner Granny. Die beiden haben noch nie ein schlechtes Wort über mich verloren. Sie vergleichen mich nicht mit Kenna. Sie stehen hinter mir, egal was die anderen sagen.
Blitzschnell schlüpfe ich aus den Klamotten, doch den Hoodie halte ich noch eine Weile in der Hand. Er riecht gut. Reese muss ihn getragen haben. Hatte er den etwa an? Nein, er hatte einen schwarzen Trasher-Hoodie an.
Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Leer. Natürlich.
Alles an mir schreit nach Dusche.
Das Problem ist, ich habe keinen Schimmer, wann meine Eltern und Kenna wiederkommen. Ob die Zeit noch reicht? Ich kann so gewiss nicht ins Bett.
***
Kaylee
Der Sturm ist so gut wie vorbei, denke ich.
Mein Zimmer gleicht zurzeit einer Eishöhle. Der Wind fegt bitterkalt hindurch – in Form meiner Mutter. Ich bin der Yeti, meine Mom die gnadenvolle Erscheinung – oder der Weihnachtsgeist.
Zumindest erweckt es den Anschein.
Davon lasse ich mich aber nicht ein Bisschen einschüchtern.
Trotzig setze ich mir die Kopfhörer wieder auf und wende mich dem PC zu. Eine halbe Stunde habe ich mich anschreien lassen, habe mir eine Predigt nach der anderen angehört, was man machen darf und was Familie heißt. Eine halbe Stunde gefüllt mit Vorwürfen, Vergleichen und noch mehr Vorwürfen.
Es reicht.
Plötzlich werden mir die Kopfhörer heruntergerissen und ich starre meine Mom fassungslos an.
„Sag mal, spinnst du?!", fahre ich sie an, springe auf und entreiße sie ihr wieder.
Entgeistert von dieser Aktion blinzelt sie mich an.
„Wie redest du eigentlich mit mir?" Ihre Stimme beginnt zu zittern, doch die Augen verraten die Härte und Kälte in ihr. Sie ist nicht schwach und ich bezweifle stark, dass sie das verletzt hat.
Ich funkle zurück. „Wie ich mit dir rede? Vermutlich nicht so wie Kenna, sonst könnte ich nicht mehr laufen, sondern würde dauerhaft auf die Fresse fliegen vor Schleim. Und auch nicht wie Derek, da würde ich nicht mehr mit mir Leben können."
„KAYLEE ANNE!"
„LASS DIESEN SCHEIß ZWEITNAMEN!"
Sie weicht zurück. Ich glaube jetzt habe ich einen Punkt überschritten. Ich schreie nicht – normalerweise.
Gestern war das erste Mal.
Gestern war das erste Mal, dass ich mich wirklich gegen sie gelehnt habe.
Meine Brust schnürt sie automatisch wieder fester.
„Du bist eine Enttäuschung. Wirklich... deine Schwester..."
Ich grätsche ihr mitten ins Word: „Wag es nicht, mich heute nochmal mit meiner Schwester zu vergleichen. Es reicht."
Ich entdecke Georges Schatten im Flur.
„Mom, geh bitte aus meinem Zimmer. Ich will nicht mehr."
Sie zögert eine Weile, dann klackern ihre Absätze. Mir ist klar, dass George niemals die Gelegenheit hatte, für mich zu lügen. Ihr erster Weg führte in mein Zimmer. Wo Dad wohl ist?
Ohne ein weiteres Wort knallt sie die Tür zu. Ich zucke zusammen. Das passiert viel zu oft.
Erschöpft lehne ich mich dagegen und lasse mich auf den Boden sinken. Mir wird alles zu viel. Viel zu viel. Mich gegen Mom zu stellen, raubt mir mehr Energie als es einfach über mich ergehen zu lassen. „LeeLee?"
„Nicht jetzt, George. Nicht jetzt.", flüstere ich mit dünner Stimme.
Die Gedanken an Mia und Reese spuken mir ebenfalls noch im Kopf herum. Noahs Blick, die Unbeschwertheit darin.
Seine Schritte entfernen sich, bis seine Tür klickt.
Ich versteh ihn in diesem Punkt nicht. Warum zieht er nicht einfach aus. Er hat eine Freundin – Ella -, hat einen Job und studiert. Ella wohnt zwar in einer WG, aber ich bin mir sicher, die beiden könnten sich eine Wohnung zusammen mieten. Dann hätte er den ganzen Ärger hier nicht.
Meine Augen brennen, aber ich kann nicht weinen. Ich bin zu müde.
Das Einzige, was ich heute noch schaffe, ist es Sean zu schreiben, wie exakt unsere Erwartungen erfüllt wurden.
Sean ist auch so etwas Schönes in meinem Leben. Ohne diesen Menschen...
Das... und Reese schreibe ich: 'Hab deinen Hoodie. Bekommst du morgen.'
Die Antwort folgt prompt. 'Du hattest den?'
'Jup'
'Habe überall gesucht...'
'Macht nichts. Anfängerfehler.'
'Ha Ha Ha'
'Chill. Stirb nicht.'
'Keine Angst, ich leb noch ne Weile.'
'Schade.'
'Sorry, für diese Enttäuschung. '
'Sorry, für die Hoffnung.'
Ich grinse. Verdammt, warum muss ich darüber grinsen?
Seit wann ist das mit Reese so lustig? Vielleicht, weil er ein Witz ist.
'Hoodie, morgen.'
'Hat Mia noch was gesagt?'
'Nope.'
'Seid ihr wieder zusammen?'
'Jup'
'Die Arme.'
'Neid?'
'Wünscht du dir.'
'Ne, wünsch mir meinen Hoodie.'
'Solltest mit kleinen Dingen anfangen.'
'Ach?'
'Ja.'
'War das klein gestern?'
'Möglich.'
'Möglich?'
'Möglich.'
'Möglich!'
'Bis morgen.'
'Morgen.'
***
Reese
Kaylee hatte ihn.
Also bin ich nicht verrückt.
Ob sie ihn wohl noch getragen hat?
Egal...
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