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Reese

Mia schmiegt sich näher an mich ran, obwohl es für ein zweijähriges Kind offensichtlich ist, dass ich gerade keine Nähe möchte. Wenn jemand stur in sein Handy starrt und durch Tiktok scrollt, dann schreit das für mich. Dabei habe ich nicht mal Lust darauf. Ich bin so selten in dieser App und wenn, dann ist Mia bei mir.

Irgendwas läuft hier gewaltig schief.

„Wie war dein Tag?" Ein bisschen fühle ich mich schon schlecht. Ihre Stimme und das Interesse sind aufrichtig, aber es nervt mich schlichtweg. Ich weiß nicht mal warum das so ist, ich weiß nur, dass es mich nervt.

Ich unterdrücke das aufkeimende Stöhnen und tippe auf das Display. Pause. „Ja, passt schon. War nicht viel los im Park vorhin und Schule weißt du ja."

Ihr großer Blick erinnert mich an gestern Morgen, als sie die Platzwunde entdeckt hat. „Oh Gott, was ist passiert? Geht's dir gut? Warst du im Krankenhaus, hat man genäht?"

Es war mir viel zu viel. Am liebsten hätte ich ihr ein saftiges „Nein" entgegengeschmettert, aber das wäre ungerecht gewesen, nur weil ich immer noch angefressen war.

Andererseits wäre es auch nichts Neues. Ich bin so oft ungerecht zu ihr. Es fällt mir selbst auf.

Stattdessen habe ich den Kopf geschüttelt, ihr einen flüchtigen Kuss gegeben und mich von ihrer Sorge zuquatschen lassen. Vielleicht wäre es mir lieber gewesen, wenn sie mit einem Grinsen „Gesichtsbremse, huh?" geflötet hätte. Oder sowas in die Richtung. Ich weiß es nicht, ich hasse es, wenn sie dermaßen überfürsorglich reagiert.

„Hast du was geschafft?"

„Bisschen. Der Stunt muss am Samstag halt sitzen, sonst... wäre das absolut bodenlos."

Mia nickt, aber ich glaube nicht, dass sie das Ausmaß versteht oder wie wichtig das für mich ist. „Ich finde es großartig von Kaylee, dass sie auf Noah aufpasst. Dann kannst du dich da ganz unbesorgt konzentrieren."

Wie zum Teufel kommt sie jetzt auf Kaylee?

Allmählich habe ich das Gefühl, ich werde von ihr verfolgt. Egal wo ich hinsehe. Egal mit wem ich spreche. Kaylee.

Sie war vorher auch schon da und nicht präsent für mich. Zumindest nicht präsenter als ein Gartenzwerg, an dem man auf dem Schulweg vorbeiläuft und sich wundert, wer sowas in seinen Garten stellt.

Und jetzt? Seit dieser einen Nacht ist dieser verdammte Zwerg zu einem ganzen Friedhof geworden.

„Hmm.", brumme ich zustimmend und widme mich wieder Tiktok. Die Videos sind allesamt langweilig.

Neben Andrew sieht sie aber auch aus wie ein Zwerg.

Der Gedanke reißt mich aus meinem Bann und zwingt mich, das Handy fallen zu lassen.

Was soll der Mist? Woher kommt dieser Gedanke?

„Freust du dich drauf?"

„Auf was?", hake ich misstrauisch nach und mustere Mia intensiv.

Sie kichert leise, was mich nur noch mehr verwirrt. „Auf Samstag natürlich. Was denn sonst, du Spinner."

Auf Kaylee?

Ich schiebe diesen Gedanken ganz weit weg. Was zum Teufel ist mit meinem Kopf los?

„Klar, sicher, sicher. Das wird großartig. Alle sind da, es sollen sogar ein paar Profis kommen. Die wollen es größer aufziehen als die Jahre zuvor."

„Wirklich, das hast du noch gar nicht erzählt."

„Joa, war jetzt auch nicht so wichtig, aber ja..."

„Wer soll denn kommen?"

„Ehm... Gerüchte sagen, es soll Dean Miller, Josh Bingle oder Andrew Abernathy sein."

Sie kann mit diesen Namen nichts anfangen, trotzdem lächelt sie erfreut und nickt eifrig. „Oh cool. Und das sind auch Idole von dir, oder?"

„Sie sind ganz cool. Aber jetzt nicht DIE Monster im Sport. Von RedBull gesponsert und deswegen recht bekannt."

Es folgen noch unzählige Fragen von ihr, doch mit jeder Antwort merke ich, wie müde ich werde. Und diese eine Szene will einfach nicht aus meinem Kopf weichen.

Ich hasse Zwerge langsam, aber sicher.

...

Die Nervosität rast durch meine Adern, strömt mit dem Blut in jeden Winkel meines Körpers, während ich auf Noah warte.

Ich verstehe ihn so oft nicht. Heute macht er sich verrückt, was er tragen soll, wenn er zu Kaylee geht. Bei der Erinnerung muss ich grinsen. Mein Bruder hat sich dermaßen darüber gefreut, als ich ihm erzählt habe, dass Kaylee am Samstag auf ihn aufpassen wird. Er ist wie ein Flummi durch sein Zimmer gesprungen – was Mom natürlich genervt hat und hereinplatzte.

Ganz stolz hat er ihr es erzählt. „Ich darf am Samstag zu Kaylee! Dann spielen wir Football und Fußball, Mom."

Sie rang sich ein Lächeln ab, fuhr ihm durch die Haare und schenkte mir diesen scharfen Blick, der klar und deutlich vermittelte: Wir sprechen später nochmal.

„Wirklich? Das ist ja toll. Wer ist denn Kaylee?"

„Reeses Freundin."

„Eine Freundin.", korrigierte ich Noah sofort, bevor Mom noch mehr hineininterpretieren oder mir sonst was vorhalten könnte.

„Aha. Dann wünsche ich dir schon mal viel Spaß. Könntest du nur nicht so laut herumspringen. Dein Papa muss arbeiten und das ist nicht so toll."

Jedem anderen wären jetzt die Augen aus dem Kopf gefallen. Sie redete mit Noah, als wäre er ein Teenager, der das verstanden hätte. Noah ist Fünf! FÜNF! Er ist ein Kind. Egal wie ungeduldig oder aufbrausend ich sein kann, ich verstehe, dass er Bewegung braucht. Dass er seine Freude anders ausdrückt.

Nur weil Mom mit gefalteten Händen auf dem Sofa sitzen kann, wenn sie glücklich ist, heißt es nicht, dass andere es genauso machen.

Ich spürte die Wut in mir aufkochen, hielt mich jedoch zurück und schenkte ihr nur einen bitteren Blick.

Noah hingegen nickte hastig. „Ich wollte Papa nicht aufregen."

„Hast du nicht, Schätzchen. Nur etwas mehr Rücksicht, ja?"

Noch ein Nicken. Das Leuchten aus seinen Augen war gewichen.

Wie aus meinen.

Es wurde später auch nicht besser, als sie in mein Zimmer kam und mich über Kaylee aushorchte. „Warum hat Noah gesagt, dass sie deine Freundin ist? Ich dachte du wärst mit Mia zusammen?"

Es ging ein wenig hin und her, bis sie schließlich schrecklich enttäuscht über mein Verhalten hinausfegte. Wie könnte ich nur meinen Bruder zu einer Fremden abschieben, ob ich keine Zeit mit ihm verbringen wollte, ob Kayla denn fähig für sowas fähig sei und ob man dieses Mädchen kennt.

Am liebsten hätte ich ihr einen Lebenslauf von KaylEE vor die Füße geknallt und gesagt, dass Noah selten so euphorisch war.

Vielleicht lag es daran, dass es ein fixes Versprechen war. Ein Tag, der wirklich stattfinden würde und nicht einer am Handy hängen würde und mit der Arbeit telefonierte. Ja, vielleicht freute sich Noah darauf am meisten.

Bevor ich weiter in diesen Momenten grämen kann, stürmt Noah die Treppe herunter.

Seine Locken hängen wild auf dem Kopf herunter. Dazu trägt er ein Vikings-Trikot und darunter eine abgewetzte schwarze Jeans. Den Style hat er von mir abgeschaut.

Er strahlt mich mit flammenden Augen an. „Weißt du, wo meine Bälle sind?"

„Hast du sie nicht in deinem Zimmer?"

Daraufhin bekomme ich nur ein Kopfschütteln.

„Schuppen?"

Schon flitzt er davon. Er ist unfassbar schnell. Ich sollte ihn definitiv anfeuern, dass er damit etwas macht in Zukunft. Vielleicht wird er ein Stürmer, wie Ronaldo oder ein Wide Receiver.

„Hab sie!", tönt es und dann steht er wieder vor mir. „Wir können los."

Ich mustere meinen Bruder intensiv. „Bist du dir sicher, dass du alles hast? Du bist bis heute Abend bei Kaylee. Ich komm erst spät, da schläfst du vermutlich schon."

Noah fixiert etwas an der Decke, dann schüttelt er den Kopf und grinst breit. „Kaylee hat doch bestimmt alles."

Diese Aussage lässt mich auflachen. Manchmal macht er mich fertig. Wirklich fertig! „Na dann, auf. Ab ins Auto."

Das brauche ich kein zweites Mal sagen. Die Schuhe sind in Rekordzeit an und weg ist er.

Auf der Autofahrt erzählt mir Noah, was sie alles vorhaben – was er alles vorhat, denn Kaylee weiß davon nichts.

Ich habe ein bisschen mit ihr geschrieben, wann ich Noah bringe und hole und all das ganze Drumherum. Ich kann mich nicht dran erinnern, wann ich das letzte Mal so sehr wegen einer Nachricht lachen musste.

'Junge! Du bist dir gerade so sicher wie ein 7,5 Tonner auf drei Meter Feldweg, oder?'

Das war ihre Antwort auf 'Vermutlich wird es zehn oder elf, eventuelle halb zwölf'.

'Eher zwölf Meter Feldweg'

Dazu hat sie nur ein Emoji geschickt, der sich gegen die Stirn schlägt und ein Kreuz.

„Schreib ihr mal, dass wir in dreißig Sekunden da sind."

Ich drücke Noah mein Handy in die Hand.

„Ihr schreibt voll viel."

„Noah! Nicht lesen, nur schreiben, bitte."

Er gluckst mich nur an und ignoriert den mahnenden Seitenblick gekonnt.

„Nohy! Ich meins ernst." Aber ich kann nicht ernst bleiben. „Was ist ein 7,5 Tonner?"

„Noah!"

„Reese?" So unschuldig...

Ich lache leicht, schüttle den Kopf und hoffe, dass er Kaylee geschrieben hat, bevor er den Chat durchgescrollt hat. „Das ist ein sehr lange und schwerer LKW."

„Oh..." Er liest die Zeilen nochmal.

Für sein Alter ist Noah verdammt weit. Er kann seit einem halben Jahr schon ziemlich gut lesen. Etwas, dass er Mom zu verdanken hat. Damit hat sie womöglich etwas Gutes getan. Natürlich versteht er vieles noch nicht und oft hapert es noch, aber im Großen und Ganzen ist er eigentlich schon recht gut.

Plötzlich kichert er los und ich schiele verwirrt zu ihm hinüber.

„Sie hat dich verarscht."

Es dauert einen Augenblick, bis ich verstehe, was er meint, dann klickt es. Er meint genau diese Zeilen, die mich ebenfalls zum Lachen gebracht haben. „Noah, keine Ausdrücke."

„Du sagst das auch die ganze Zeit."

„Tu ich nicht."

„Tust du wohl! Und Kaylee bestimmt auch."

„Vielleicht sollte ich nochmal mit Kaylee quatschen, bevor ich dich bei ihr absetze."

„Mach das."

Frech. Er ist wirklich frech – manchmal.

Fünf Jahre alt. Naja, bald sechs.

Vielleicht ist es doch nicht so toll, dass er schon lesen kann.

Vor dem weißen Haus halte ich.

Ich war noch nie bei Kaylee zuhause. Nicht mal zu Derek-Chrissy-Zeiten. Wenn dann waren sie bei uns. Aber es ist bestimmt schon fünf Jahre her.

„Da ist sie!"

Meine Augen fliegen über den üppigen Vorgarten zum Hauseingang und da steht sie. Mir fallen schier die Augen aus dem Kopf.

Ein grünes Packers-Trikot flattert an ihr herunter, dazu schwarze Leggins und eine passende Cap. Ihre Haare sind zu zwei kurzen Zöpfen geflochten und spitzeln heraus. Aber das Highlight sind definitiv die zwei Streifen auf den Wangen – bereit zum Kampf.

Noah springt einfach aus dem Wagen und schon fliegt der erste Ball zu Kaylee. So schnell, dass es eigentlich nicht gut ausgehen kann.

Aber wer wäre Kaylee, wenn sie den Ball nicht mit einer flinken Hand fangen würde.

„Bereit zu verlieren?", ruft sie und grinst meinen kleinen Bruder an.

„Packers?!"

„Na klar, hab ich doch gesagt."

„Lüge."

Ich steige aus und umrunde das Auto. Das wird ein harter Tag für Kaylee und wir haben erst zwei Uhr. Flink packe ich Noah an den Schultern und ziehe in gespielt kämpferisch zu mir.

Sie schlendert mit einer Leichtigkeit auf uns zu, die mir den Kopf leerfegt. Was auch immer das ist, was Kaylee gerade umgibt, ich will es nicht.

„Igitt, es kommt näher.", schreit Noah und ich muss lachen. Kaylee genauso. Sie geht vor ihm auf die Knie und wackelt mit den Augenbrauen, als würde sie eine Welle reiten.

Das bringt Noah zum Schweigen.

„ES ist sogar vor dir und wird dich niederzwingen, Viking."

Ich lasse von Noah ab, der auf die andere Rasenseite sprintet und lauthals brüllt: „Niemals."

„Willst du dir das wirklich antun?"

„Die Frage ist eher, ob er sich das antun will."

„Ich weiß nicht." Ich grinse sie an und sie zwinkert mir zu.

„Mach dir da mal keinen Kopf, kleiner Reese. Ich hab zwei große Brüder, an einem ist ein Terrorist verloren gegangen, den anderen kann man als Taxi verwenden. Ich sollte mit einem Viking klarkommen."

„Ich weiß nicht." Ich ignoriere das „kleiner Reese" und schüttle nur den Kopf über so viel Selbstherrlichkeit.

„Weißt du wie man deinen Namen schreibt?"

Meine Braue würde gerne zucken, doch ich spanne meine Muskeln an. Sie braucht das nicht zu sehen. „Nein, ich glaube den musst du mir auf die Hand schreiben, sonst kann ich mich nicht eintragen."

„Oh nein... du Armer! Aber ohne Witz, du solltest dir Nachhilfe in Rechtschreibung zulegen. Sind schreibt man mit einem N." Demonstrativ hält sie mir unseren Chat unter die Nase und ich kann darüber nur herzlich lachen.

„Noah hat geschrieben, ich geh nicht ans Handy, wenn ich fahre."

„Was? Noah? Er ist fünf."

„Noah kann auch lesen."

„Bitte? Sag bloß, er ist schwächer als du. Dann kannst du mich überfahren." Die Ironie in ihrer Stimme macht mich wahnsinnig. Ich kann ihre Sätze an einer Hand abzählen, die sie ernst gemeint hat.

„Sag ich dir später, wenn ich ihn abhole."

„Idiot! Aber hey, sieh es mal so. Immerhin kannst du ihn dann um Nachhilfe bitten, da waren noch mehr Fehler – zuvor auch schon."

Ich schließe meine Augen, schlucke den Spruch herunter, denn ich muss leider los.

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein kleines Biest bist?"

„Ich?"

„Nein, der Baum neben dir!"

Unschuldig mustert sie den Ahornbaum links in der Ecke und klimpert mich an. „Ja, das hab ich schon öfters gehört. Das Laub ist grässlich rutschig."

Ich werfe einen Blick zu Noah und kann nur Lächeln. Nicht zuletzt wegen Kaylee. Er turnt putzmunter auf den Rasen. Wirft sich mal links, mal rechts ins Gras und übt seine Schlachtrufe. „Kleiner, ich packs. Viel Spaß bis heute Abend."

„Ciao."

Mehr nicht.

Abgebrüht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn ausgerechnet bei Kaylee lassen möchte. Sie ist der Inbegriff davon und Noah wird das ein oder andere aufschnappen.

„Also..." Ich wende mich ihr wieder zu. Sie grinst immer noch genauso engelsgleich wie zwei Sekunden zuvor. „... allerspätestens um neun ins Bett und esst irgendwas halbwegs Gesundes und..."

„Ja ja, Mutti, ist gut. Kein Alkohol, nur ein paar Drogen und nicht so viel Rauchen. Schon klar."

„Richtig, Sherlock."

„Gut, dann zisch ab. Deine Party wartet nicht und unsere geht erst los, wenn du weg bist."

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