THREE [ brothers ]
一期一会
〔 ichi-go ichi-e 〕
one time, one meeting
— 𖤓 —
SASAKI KEITA BRACHTE EINE NOTION von Kindheit mit sich, als er mit gegen den eingesetzten Monsunregen aufgezogener Kapuze unter den Mauervorsprung des Wohngebäudes hastete.
Die Zahnlücke zwischen seinen Schneidezähnen, das Muttermal direkt unterhalb seines Nasenflügels und das vorwitzige Funkeln in seinen Augen waren schmerzliche Erinnerungen, die Jeongguk nie so sehr vermisst hatte wie jetzt, wo sie einem alten Freund etwas von der Fremdheit nahmen, die die Jahre der Trennung als Tribut erhoben hatten.
Die Kindheit war aus seinem Gesicht geschmolzen wie Wachs von einer Kerzenfigur.
Nur das rabenschwarze Haar trug er nicht mehr lang und unzähmbar, sondern bis auf wenige Millimeter kurz geraspelt. Es stand ihm, fand Jeongguk, während er den breit grinsenden Jungen in eine kumpelhafte Umarmung zog, die hoffentlich nicht davon zeugen würde, wie unbeholfen er im Umgang mit Gleichaltrigen geworden war. Falls Keita bemerkte, dass sich seine Muskeln versteiften, als er ihm geradezu brüderlich auf die Schulter klopfte, ließ er es sich nicht anmerken.
Jeongguk hatte sich die ganze Nacht nach Absenden seiner Antwortnachricht, die zugestimmt hatte, ihn zur Hausparty ihrer ehemaligen Klassenkameradin zu begleiten, mit endlosen Fragen darüber gequält, wie ihr Wiedersehen wohl vonstatten gehen würde. Ob er auf Knien um Verzeihung bitten sollte oder ob die Vertracktheit dieser allgegenwärtig beschissenen Gesamtsituationen seine Begnadigung von selbst vollstreckte.
Wie es aussah, hätte er sich die formvollendete Entschuldigung, die startbereit auf seiner Zunge wartete, sparen können, denn Keita kam schnell zum Punkt.
„Lass uns reingehen."
Verblüfft von dieser Begnadigung blinzelte Jeongguk. Ehrlicherweise wusste er auch beim surrenden Betätigen der Klingel nicht, ob es ihm schmeicheln sollte, diesen Einbürgerungstest zurück in ihre Freundschaft so einfach bewältigt zu haben, oder nicht. Allemal verwirrte es ihn, mit was für einer Beiläufigkeit Keita ihn bedachte; als wäre er nie zehn Jahre fort gewesen und hätte sich nie einen feuchten Scheißdreck um seine Freunde in Tokyo gekümmert.
Seine Hand krampfte um den 1000-Yen-Schein, dem er dem Casino-Portemonnaie seines Vaters abgezwackt hatte, in seiner Bauchtasche. Dass er sich anmaß, sich einen Teil des Erlöses von Yoomis Ring unter den Nagel zu reißen, hatte etwas tief Tragisches, wie er still fand.
Keita zog zielstrebig an ihm vorbei zur Tür des Wohnungsblocks, der in diesem Chōme von Taito ein identischer Durchschlag der benachbarten Reihenhäuser war, und Jeongguk schaute ihm nach. Er war größer und schlanker als Keita, hatte ihn selbst in der Grundschule um wenige, alles-entscheidende Zentimeter überragt und verlässlich dafür aufgezogen, und doch bewegte Keita sich geschmeidiger in seinem Körper; selbstsicherer in seinem Gang, mit dem er schnurstracks das unscheinbare, subtil muffig riechende Treppenhaus ansteuerte. Jeongguk wusste nicht wohin mit seinen unnützen Händen, daher vergrub er sie in seinen Hosentaschen und beeilte sich, zu der durchnässten Gestalt seines Freundes aufzuschließen.
Die Fliesen quietschten unter ihren nassen Sohlen und ihre Echos wurden von den verputzten Wänden verzerrt zurückgeworfen.
„Du bist zurück", stellte er phlegmatisch fest, weder in Freude noch im Vorwurf, und Jeongguk sprach bevor er nachdachte.
„Es tut mir Leid."
„Was?" Keitas belustigter Blick nahm ihn gnadenlos unter Beschuss und er blieb an der Windung hoch zum zweiten Stock stehen, um spöttelnd auf ihn herunterzuschauen. „Wofür? Ist es Sitte, sich in Europa zu entschuldigen, wenn man einander nach langer Zeit wiedersieht?"
Jeongguk spürte, dass sich unter den Regenschlieren auf seinem Gesicht seine Haut unsäglich erhitzte. „Kann schon sein", entgegnete er mit vagem Kopfnicken, erleichtert, dass das gedimmte Licht im Treppenhaus seine Verlegenheit kaschierte. „Ich hätte mich bei euch melden sollen, ab und an. Ich bin einfach... abgetaucht. War von heute auf morgen weg von der Bildfläche."
Es irritierte ihn maßlos, dass das Schnaufen, das Keita ausstieß, belustigt klang. Er starrte zu ihm hinauf wie ein Reh, das geradewegs in die Scheinwerfer eines herannahenden Autos blickte, und Keita schnitt eine amüsierte Grimasse. „Du warst ein Kind, was hättest du schon groß dagegen unternehmen sollen? Alleine in Tokyo bleiben? Die meisten Freundschaften, die man in der Elementary School schließt, verliert man sowieso aus den Augen, du warst da vielmehr die Regel als die Ausnahme."
Er zuckte die Schultern in einer gleichgültigen, abgeklärten Manier, die Jeongguk sprachlos zurückließ. „D-du, du... du bist also nicht... sauer?", fragte er kleinlaut und glaubte, dass Keitas markante Augenbrauen bis hoch an seinen Haaransatz jagten, während er ihn merkwürdig behelligt anblinzelte.
„Sauer?", wiederholte er verwirrt, und Jeongguk half ihm eilig auf die Sprünge.
„Verärgert, meine ich."
Keita grunzte. „Ich weiß was sauer bedeutet. Nein, ich bin nicht sauer. Ich geb's zu, ich hab nicht damit gerechnet, dir noch einmal zu begegnen, Jeon Jeongguk, aber um ehrlich zu sein hab ich auch bis zu deiner unverhofften Kontaktaufnahme nicht einen einzelnen Gedanken an dich verschwendet. Ich war neun oder zehn oder so, als du gingst, und danach hat man vergessen und neue Freundschaften geschlossen." Wieder zog er die Schultern hoch und dieses Mal stieg bittere, bittere Galle in Jeongguks Mund auf, als er gleichgültig fortfuhr. „Ähnliche Erfahrungen musst du doch auch drüben in Italien gemacht haben."
Nein, dachte Jeongguk mit einem schrecklich lähmenden Gefühl in seinem Bauch, während er langsam zu Keita im zweiten Stockwerk aufschloss. Er hatte keine solcher Erfahrungen gemacht und auch keine neuen Freundschaften geschlossen, während sich die Welt in seiner Heimat wie befürchtet weitergedreht hatte—ganz problemlos ohne ihn. Videospiele und belanglose, materielle Reichtümer hatten den Platz für Freundschaft in ihm kompensiert, waren lückenlos, geradezu nahtlos für das Defizit seiner Kindheit und Jugend aufgekommen.
Er kam sich vor wie ein unsozialisiertes Zootier, das zurück in die Wildnis entlassen worden war, bevor ihm gezeigt worden war, wie er sich in ihr richtig verhielt; wie er richtig funktionierte.
Die Verkümmerung seiner Erleichterung darüber, nicht in Vergessenheit geraten und in die Bedeutungslosigkeit gerutscht zu sein, schmeckte tödlich auf seiner Zunge. Es war, als hätte Keita ihm einen Spiegel vorgehalten und ihm unter seinen ruhigen, nicht einmal mit viel Bedacht gewählten, sondern selbsterklärenden Worten zugesteckt Aber die Welt hat sich doch nie um dich gedreht, Jeongguk.
Der Vorgeschmack auf ein Leben in den Schatten, auf ein Dasein im Staub und Schmutz der Zivilisation beängstigte ihn dermaßen, dass er Beklemmungsgefühle in seinem Brustkorb randalieren zu spüren meinen. Schwer schluckte Jeongguk gegen den Klos in seiner Kehle an, bevor er irgendeine Zustimmung ersann, die er sich selbst auch nicht abgekauft hätte.
Keita beäugte ihn einige Augenblicke lang mit einem Ausdruck des Argwohns, bevor er einen seiner Mundwinkel schief anzog. „Ich bin froh, dass du wieder da bist", gestand er, doch dieser kleine Triumph über die leise, untergangsweihende Stimme in Jeongguks Hinterkopf bewirkte nicht viel gegen die unbändige Leere, die ihn in ihrem Griff hielt. „Die meisten Idioten von meiner Highschool sind nach unserem Abschluss abgesprungen, du bringst frischen Wind in mein Sozialleben."
„Du studierst also?", schlussfolgerte Jeongguk, der mit den vielen Stufen hinauf bis zum elften Stock, wie Keita außer Atem hervorgepresst hatte, merklich weniger Schwierigkeiten hatte als er. Er war das Treppensteigen von seiner wind- und wettergepeitschten Danchi gewöhnt, wenn der Fahrstuhl streikte, auch wenn ihm die muffige Luft im Treppenhaus allmählich auf die Lungen schlug.
„Mh." Keita reagierte gelassen. „Waseda", antwortete er mit einem beiläufigen Schulterzucken, das genauso gut hätte postulieren können, er hätte es auch in jede andere der Eliteuniversitäten hineingeschafft.
Jeongguk konnte nicht leugnen, dass er beeindruckt war. Die Waseda-Universität gehörte zu den prestigeträchtigsten Hochschulen des Landes und bezog ihr Quartier im hohen Norden von Shinjuku, wo sich einer von neun Campussen auf so viel Fläche erstreckte, dass die klobigen, identischen Gebäudeblöcke sogar von seiner Danchi in Toyama ersichtlich in den grauen, wolkenverhangenen Himmel aufragten.
Zusammen mit fünf weiteren elitären Akademien in ihrer Präfektur brüstete Waseda sich mit ihrer Zugehörigkeit zu den „heiligen sechs", namentlich den sechs angesehensten Tokyoter Privatuniversitäten, die um die besten Schulabgänger buhlten und auch international herausragend abschnitten.
Für Jeongguk war es nie infrage gekommen, noch einmal Fuß in eine akademische Einrichtung zu setzen, nachdem er sich erst einmal von den Vorzügen des legereren Privatunterrichts verführen lassen hatte. Der Gedanke an die japanische, von Wettbewerbsdruck und Stress zerfleischte Lernkultur bereitete ihm Bauchschmerzen, wenn er sich die vom europäischen Vorbild durchwirkten, matrosenähnlichen Schuluniformen nur in Erinnerung rief, die sie bereits in der Grundschule zu tragen verdammt gewesen waren.
Mit seinen hundsmiserablen Leistungen in Mathematik wäre er in seinem Heimatland, das bekanntlich den Spitzenreiter in den Naturwissenschaften stellte, hoffnungslos untergegangen.
Er hatte der Erfahrung einer öffentlichen Schule keinen Moment lang in seiner Jugend nachgetrauert und selbst während Keita ihm beim Warten vor der Wohnungstür von seinem Studiengang erzählte, misste er diesen Aspekt seines Lebens nicht. Ihm war die rigorose Unnachgiebigkeit, mit der das japanische Bildungssystem sich sein Prestige auf den Rücken seiner disziplinierten Schüler errichtet hatte, immer schon zu makaber vorgekommen, um sich für den Kollektivismus verbiegen zu lassen—oftmals auch noch ohne großen nachträglichen Erfolg.
Die Aufnahmeprüfungen für weiterführende Schulen und Universitäten im Tokyoter Metier wurden nicht umsonst hinter vorgehaltener Hand zu shiken jigoku verschrieen: die Prüfungshölle. Eliteuniversitäten wie Waseda, Keiō und Hōsei schmälerten den Ansturm von Bewerbern durch unverschämt selektive Aufnahmequoten, die meist im einstelligen Bereich rangierten.
Keita hatte seines marginalen Wissens nach immer zur Mittelschicht gehört, und das nicht einmal zur sonderlich gut situierten, die es sich leisten könnte, eines von drei Kindern auf eine private Eliteuniversität zu schicken, und mal eben eine Millionen Yen zur Hand hatte, um jährliche Studiengebühren abzustottern. Womöglich kam es ihm deshalb so befremdlich vor, die Rollen vertauscht zu haben und jetzt zu ihm aufschauen zu müssen.
Seinen Mund verließ, was sein Gehirn blitzartig durchzuckt hatte. Jeongguk schob es auf sein verkümmertes Sozialverhalten, dass ihm oftmals die Kontrolle über seine Zunge entglitt. „Du?" Er beeilte sich, den in jeder Hinsicht untergrabenden Kommentar wettzumachen. „Ich meine nur, du... das kommt... überraschend."
Als hättest du ein Anrecht darauf, zu urteilen, was zu ihm passt und was nicht, höhnte sein Unterbewusstsein. Du kennst ihn doch gar nicht.
Als die Wohnungstür von irgendeinem unscheinbaren Gesicht aufgezogen wurde, fiel sein hochmütiges Gedächtnis seiner Argumentation hoffnungslos zum Opfer, denn Jeongguk hatte schon beim Durchqueren des vollgestopften Wohnzimmers wieder vergessen, was Keita eigentlich studierte. Sein Freund quetschte sich an den Leuten vorbei in die basserfüllte Weitläufigkeit der Wohnung, ergriff wie selbstverständlich sein Handgelenk und zog ihn wie besonders fragile, wertvolle Ware hinter sich her.
Der Bass irgendeines Techno-Krams klingelte in seinen Ohren. Das letzte Mal, als Jeongguk sich in einer ähnlich großen, dichten Menge wiedergefunden hatte, war er am Haneda-Flughafen gelandet und hatte sich von den Menschenaufläufen und dem Lärm in den überbrechenden, krankenhausweißen Terminals regelrecht erschlagen gefühlt. Schultern streiften ihn hart, fremde Leiber bewegten sich zum aggressiven Beat wie ein einziger, gleichgeschalteter Körper. Sein Kopf schwirrte schon bevor sie die Länge des Wohnzimmers durchquert hatten, das das Zentrum dieses überbevölkerten Bienenstocks bildete, wie Jeongguk vermutete, und er stolperte vollkommen überfordert an Leuten vorbei, die auf eine beige Sofalandschaft gequetscht tranken und rauchten und seiner Wenigkeit nicht weniger als einen Seitenblick erübrigten.
Es erschloss sich ihm nicht, wie Keita so unbekümmert die Schultern hochziehen konnte, ohne in jeder Hinsicht beleidigt zu wirken, als er vor einem versifften Tisch in der Küche Halt machte. „Mein Vater hat eben einen Kredit auf unser Haus aufgenommen", erklärte er leichthin und drehte den Deckel einer Billig-Sake-Flasche mit den Zähnen ab.
Jeongguk lehnte sich erst an die Spüle, nachdem er sich versichert hatte, dass sie nicht mit klebriger Flüssigkeit besudelt war. „Nur für ein Studium?", hakte er zweifelnd nach. Sein Blick schweifte zu einem Pärchen, das hemmungslos im Türbogen zum Wohnzimmer rummachte. Peinlich berührt wandte er sich von ihnen ab. „Ist das nicht ziemlich gewagt?"
„Nicht wenn du die richtigen Leute kennst, die dich trotz aller Widrigkeiten durchboxen und dir auch danach noch Erfolg garantieren."
Sein Gesicht musste mit einem Ausdruck des Argwohns bekleidet sein. „Wahrsager, oder was."
„Haha", machte Keita humorlos, ging aber nicht weiter auf seinen zynischen Kommentar ein. Jeongguk zog die Brauen zusammen.
„Und du kennst ebendiese Leute?"
„Ich gehöre zu ihnen."
Eine patriotische Form von Stolz durchwirkte mit einem Mal Keitas gesamte Haltung; straffte mit einem stummen, selbstgefälligen Selbstverständnis seine breiten Schultern, die definiert unter dem enganliegenden Stüssy-Shirt herausstachen. Jeongguks Augenmerk wanderte an seinen Armen herab, flackerte automatisch dorthin, wo seine Strickjacke sich überschlagen hatte und einen Teil seines Oberarms entblößte.
Er meinte, zu verstehen, als er die kunstvoll geschwungene Farbe auf ausnahmslos bekleckster Haut erkannte.
Irezumi. Die rituelle Bemusterung sprach Bände.
Er war irgendeinem Yakuza-Clan beigetreten.
„Das ist nicht dein Ernst", entfuhr es ihm mit einem Staunen, das er schwerlich nur verhehlen konnte—oder wollte. Bis zuletzt beim Zwischenfall im Golden Gai hatte er Jahre damit zugebracht, die japanische Gangstergesellschaft zu vergessen, einer alten Legende abzutun, und nun, kaum dass er wieder Fuß im sozialen Milieu fasste, näherte sie sich ihm an wie ein unaufhaltsamer Schattenkorps.
Er hatte nicht gewusst, dass die Yakuza noch so aktiv war, dass sie sich vorbehielt, Minderjährige für ihre zwielichtigen Zwecke zu rekrutieren.
Wäre er bewanderter in der Geschichte des stolzen Inselreichs, hätte er vermutlich vage Spekulationen darüber aufstellen können, wessen Ausschilderung Keita auf der Haut trug. Er meinte sich daran zu erinnern, dass Geishas und Tiger zu beliebten Motiven für Yakuza-Mitglieder zweckentfremdet waren, aber weder war auf sein dürftiges Interesse an seiner Heimatkultur Verlass noch sah die bunte Tinte auf Keitas Arm nach einer der beiden Optionen aus.
Etwas daran, wie Keita die Augen verdrehte, irritierte Jeongguk und befeuerte seine Annahme, dass sein einstiger Freund schon oft mit ebendieser Reaktion konfrontiert worden war. „Komm wieder runter", meinte er und richtete die Jacke dort, wo sie seine Verbrüderung mit der Gesetzlosigkeit so schamlos zur Schau gestellt hatte. „Es ist jetzt nicht so als würden wir auf offener Straße Katanas schwingen und Köpfe von Politikern rollen lassen."
„Aber Yakuza", stammelte Jeongguk perplex und wartete beunruhigt darauf, dass mit Aussprache des totgeschwiegenen Worts irgendeine biblische Plage über ihn hinweg rollen würde. „Das sind Gangster und Steuerhinterzieher und... keine Ahnung, Auftragsmörder-"
Keita klang ungemein belustigt über etwas, das sich Jeongguk nicht erschloss. „Früher, vielleicht", gluckste er. „Heute ist alles anders. Du denkst, die Yakuza bestünde nur aus Gesetzlosen und Meuchelmördern. Wir-" Jeongguk drehte sich der Magen darüber um, dass er dieses Pronomen schon gebrauchte, "-haben uns noch immer den gleichen altehrwürdigen Kodex bewahrt: Ninkyodo. Heißt so viel wie helfe den Schwachen, besiege die Starken. Wenn wir damit gegen die Gesetze verstoßen, dann sind die Gesetze falsch. Ich meine, es kann doch nicht sein, dass ich einen Millionenkredit beantragen muss, nur um studieren zu können."
Ein verächtliches, gar höhnendes Schnauben verließ seine Nasenflügel, die unter seiner inhärent brennenden Hingabe für seine Organisation ins Beben geraten waren.
„Sieh's ein", sagte er und nippte einmal von dem pastellgelben Gebräu, das er gemixt hatte. „Alles, was sie dir über Japans Fortschrittlichkeit erzählt haben, ist eine Lüge. Die Hälfte dieser gottverlassenen Stadt und aller Elite-Studiengänger gehört irgendeinem Syndikat an, Jeongguk. Die meisten sind sich nur zu schade, es auch zuzugeben. Außerdem ist es vorrangig dein Volk, das die meisten Reihen bei uns stellt. Es is' besser so, sich rechtzeitig zu entscheiden, auf welcher Seite du stehst. Würde ich nicht dazugehören, dann..."
Ein wenig verdattert nahm Jeongguk einen der beiden Becher entgegen. „Was dann?"
Keita überlegte. Er öffnete den Mund, doch dann schien er sich eines Besseren zu besinnen und zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wird's eben unschön. Und jetzt trink. Ich wollte eigentlich was für den Weg mitbringen, aber in dieser Gegen patrouillieren zu oft die Bullen, und ich gerate in Schwierigkeiten, wenn ich im Gefängnis lande. Hat ja nicht jeder 'ne stinkreiche Verwandtschaft, die einem den Rücken freihält, wenn man seinen Arsch in unbequeme Situationen bugsiert."
Seine Worte sollten wohl als geschmackloser Seitenhieb verstanden werden, doch für Jeongguk fühlte es sich an, als hätte ihm jemand einen Ellbogen messerscharf zwischen die Rippen getrieben.
Sein Mund war entsetzlich trocken, als er ihn zum Protest öffnete: dass er keinen Sake trinken wollte und ebendiese beneidenswerten Verwandtschaftsverhältnisse bedingungslos gekappt worden waren. Wenn er ehrlich mit sich war, dann war er genauso arm dran wie Keita, dessen Familie sich nur so hoch verschuldet hatte, um ihm ein ansonsten unerreichbares Studium zu ermöglichen—mit der einzigen Ausnahme, dass Jeongguk keine solche Bestimmung besaß, die auch nur ansatzweise die Mühen und Strapazen rechtfertigen würde, mit denen er sich täglich konfrontiert sah.
Und dass er keinen Rückenwind eingebläut bekam von einer Organisation, die sich als ein Auffangbecken für moderne Robin Hoods inszenierte.
Er war der Fehler im System eines Sozialstaats, ein Bug, der nicht von der Matrix erfasst wurde und durch alle Raster fiel. Er gehörte fortan zu den Schwachen, denen Keita sich so heldenhaft zu helfen verschworen hatte. Und er wollte um jeden Preis nicht in diese niederste aller Kasten gesteckt werden. Die Vorstellung, sie niemals verlassen zu können und nie richtig zur Gesellschaft, zu den Stärkeren, den Schwerfiguren auf dem Schachbrett der Mächtigen dazuzugehören—nicht zu Keita, nicht in der Welt, die ihn aufgezogen und dann so jäh verstoßen hatte—verängstigte ihn dermaßen, beklemmte seine Brust so vehement, dass er im Hitzepunkt einer Kurzschlussreaktion die Lippen an den Becher setzte und trank.
Der Reiswein schmeckte schwer auf seiner Zunge, vollmundig, nicht so sauer wie angenommen, sondern süß, einlullend und unbeschwert. Jeongguk trank vier Schlücke, bevor er absetzte, durchatmete und alles herunterspülte, was in ihm hochgekrochen war: Panik, Furcht, und primär so viel Scham. Er trank so lange, bis er das Gefühl hatte, dass seine ewigen Begleiter auf den Grund seines Magens verbannt waren. Erst danach ließ er den Becher wieder sinken und leckte sich außer Atem die Lippen.
Keita hatte ihn die ganze Zeit von der Seite beobachtet, eine Intensität in seinen braunen Augen glimmend, die Jeongguk unter anderen Umständen unangenehm gewesen wäre. Dann lotste er ihn mit sich aus dem Küchenverschlag und zurück in das basserfüllte Wohnzimmer.
Fragende, teils neugierige Blicke wurden ihm erübrigt, doch die meisten nahmen ihn lediglich still zur Kenntnis, bevor sie sich wieder ihren Unterhaltungen zuwandten. Jeongguk war die mutwillige soziale Verwahrlosung recht. Von außen betrachtet würden wahrscheinlich nur Ultrafans und Bekannte erkennen, wem er aus dem Gesicht geschnitten war, und er war genau wie Junghyun nie an der Seite seiner Tante aufgetreten, sodass sich nie ein Wiedererkennungswert in ihm materialisiert hatte.
Keita stellte ihm irgendwelche Leute vor, deren Namen Jeongguk sich sowieso nicht merken wollte und die genauso wenig Nachforschung über ihn anstellten wie er über sie. Mangelndes Interesse an seiner Person sollte ihn weder enttäuschen noch überraschen.
Sobald Keita ihn namentlich erwähnte, bezogen die Menschen Stellung. Sie hörten, dass er koreanischer Abstammung war, und hatten genug über ihn in Erfahrung gebracht.
Nach dem Korea-Krieg und dem Aufstand von Jeju auf der anderen Seite des japanisches Ostmeeres vor mehr als einem halben Jahrhundert war es zu einem regelrechten Massenauflauf von politischen koreanischen Flüchtlingen gekommen, die in das Inselreich eingefallen waren. Seine Großeltern hatten zu den Migranten gehört, die in den Fünfzigern nach Japan übergewandert waren. Anders als viele andere, koreanischstämmige Einwanderer hatten sie darauf verzichtet, japanische Namen zur Vorbeugung von wirtschaftlicher Benachteiligung anzunehmen, und stolz ihren Familiennamen Jeon vererbt.
Würde der Alkohol nicht langsam und schleichend, wie ein überraschend geschickter Assassine seine Sinne betäuben und Nerven lahmlegen, hätte es Jeongguk aufgestachelt, als Ausländer ausgestoßen zu werden; den Stempel des Zainichi aufgedrückt zu bekommen, der die ethnisch koreanischen Japaner diffamierte. Aber jetzt, hier, in diesem seltsamen Schwebezustand zwischen geistlicher und stoffener Welt, machte es ihm verblüffenderweise nichts aus, ausgeschlossen zu werden.
Weil er in diesen Fratzen und Grimassen keine Anerkennung suchte, denn er kannte sie nicht. Sein inhärentestes Bedürfnis, namentlich Anschluss zu finden, schien von selektiver Natur zu sein: er hatte Keita zurück, seinen ehemals besten Freund, und das genügte ihm.
Vielleicht mochten sie ihn auch einfach nicht, weil er nicht war wie sie. Weil er keinen Platz auf einer Eliteuniversität sein Eigen nennen durfte und keine Markenklamotten trug, die seinen sozialen Status beurkundet hätten. Weil er nicht geschminkt war wie sie mit ihren glasierten, blässlichen Porzellanhäuten, die er am liebsten mit den Fingerrücken berührt hätte, um selbst herauszufinden, wie viel von dem ätherischen Schimmer auf ihren blutlosen Wangen echt war.
Es tat nichts zur Sache.
Keita redete und Jeongguk trank und vergaß bald, dass er eigentlich rasend vor Wut sein sollte.
Sein Körper berauschte sich an der Droge, die er ihm häppchenweise einführte. Seine Bewegungen fühlten sich unbeholfen und verzögert an, wie die eines Neugeborenen, als benötigte es Äonen, bis der schwammige Befehl seines Gehirns kalibriert und dann in den Gliedmaßen verarbeitet wurde.
Ein Junge mit schwarzem, struppigem Haar und anmutigen Gesichtszügen starrte ihn die ganze Zeit über an, während Keita sich mit seinen Kommilitonen über irgendeinen anstehenden Studienausflug nach Taiwan austauschte; mit ihnen lachte, als hätte er sich nicht den Weg in die Elite durch zwielichtige Geschäfte eingekauft. Jeongguk prostete ihm durch die Länge des Wohnzimmers zu, ein schiefes, substanzloses Grinsen auf den Lippen, das auf keinerlei Resonanz traf. Wenn überhaupt schien der Junge auf dem Couchende, der sich offenbar von seiner Freundesgruppe neben ihm abgekapselt hatte, einen Ausdruck des Argwohns auf der Stirn zu tragen, der sich nurmehr eklatant vertiefte.
Jeongguk nahm den letzten Schluck aus seinem Becher und blickte zurück zu Keita, der mittlerweile die durchnässte Strickjacke gegen den Arm eines Mädchens mit brüchig blondierten Haaren eingetauscht hatte, und seine Tätowierungen frei zur Schau stellte. Er schien so unbekümmert darin, wie er sich amüsierte, so im Reinen mit sich selbst und der gesellschaftlichen Verächtung, die er mutwillig in Kauf genommen hatte, um sich zu erfüllen, dass etwas in Jeongguk mit einem Mal zu verstehen meinte. Er musste gegen das Dröhnen der Musik anrufen, damit Keita ihn verstand.
„Das Kreditinstitut?", fragte er hinter vorgehaltener Hand. „Was ist damit?"
„Ich will dorthin" Seine Zunge lallte, schien die Worte nicht so fest greifen zu können wie Jeongguk versichert in sie war. „Ich will auch einen Kredit aufnehmen, so wie du."
Keita begann breit und überrascht zu grinsen, und Jeongguk beteuerte sein Vorhaben mit heftigem Nicken. „Wenn sie dir aus der Patsche helfen können", hob er an und bemerkte nicht, wie zusammenhanglos sein Gerede in Keitas Ohren klingen musste; weil es so einfach war, die ganze Zeit so lächerlich einfach gewesen war, dass er über sein verzagtes früheres Ich, das sich noch vor wenigen Stunden über die ausstehende Miete des letzten Monats den Kopf zerbrochen hatte, in schadenfrohes Gelächter ausbrechen wollte. „Dann können sie mir auch helfen. Ich muss dorthin."
„Ich kann dich begleiten", bot Keita an, und Jeongguk nickte wieder energisch. Er öffnete den Mund—dann vibrierte etwas in seiner Hosentasche, und er tastete den vom Regen noch immer klammen Stoff unbeholfen ab.
Die Letter, die auf dem zerkratzten Display aufleuchteten, blendeten ihn. Sie liefen vor seinen verschwommen sehenden Augen zu einer unleserlichen, zu grellen Schliere zusammen, aber ein ferner Reaktionspunkt am Rande seiner Wahrnehmung erkannte das Gesicht, das seinen Bildschirm mit seinem seltenen Besuch beehrt hatte.
„Sorry, da muss ich kurz rangehen", nuschelte er gleichsam perplex wie überrascht, stellte seinen leeren Becher auf einer Kommode mit Schmuckstücken ab und torkelte dann zur Wohnungstür, um Ruhe im leeren Treppenhaus des Wohngebäudes zu finden.
Außer ihm saß noch ein Mädchen auf den untersten Treppenstufen zum vierten Stock und schien sich bei einer Freundin mit nasaler Stimme auszuweinen. Als Jeongguk mit zusammengekniffenen Augen entzifferte, wer ihn anrief, glaubte er, sein Herz vor Wehmut wimmern zu hören.
„Junghyun", stieß er außer Atem in den Hörer, kaum dass der Anruf abgenommen war, während er ein, zwei unsichere Schritte bis zum Treppengeländer torkelte. „Du lebst."
Hatte er geahnt, welche Prinzipien sein Cousin soeben über Bord geworfen hatte? Bestand irgendeine telepathische Verbindung zwischen ihnen, die ihn alarmiert hatte?
Ach, zur Hölle mit seinen Zweifeln, Junghyun war nicht derjenige, der in seine grundsätzlich verzwickte, verfickte Lage katapultiert worden war.
Jeongguk hickste, versicherte sich noch einmal, dass er keinem Irrtum unterlag, und presste dann wieder sein Handy gegen sein Ohr.
Sein Cousin klang merklich vor den Kopf gestoßen und Jeongguk wünschte sich nichts sehnlicher, als die Wange an sein Handy zu schmiegen wie eine anhängliche Katze, genau dort, wo seine vertraute Stimme verzerrt an seine Ohrmuschel drang. „Wieso sollte ich das nicht?"
Jeongguk schnaubte. Mit den Fingernägeln kratzte er aufgeblätterte Rostblätter vom Geländer. „Du hast dich eben nicht gemeldet. Fast zwei Monate lang hast du mich mit Schweigen bestraft."
„Hast du getrunken?", fragte Junghyun, und Jeongguk glaubte, er müsste rot anlaufen vor Ärger.
„Ist das eine Entschuldigung? Oder eine Anklage?"
„Ich weiß es nicht, Jeongguk, ich brauchte Zeit für mich und Abstand von allem, was geschehen ist." Er klang ermattet. Jeongguk versuchte sich vorzustellen, wie er gerade aussehen mochte, in seiner Dorm auf der anderen Seite des Pazifiks, doch seine sich drehende Vorstellungskraft versagte ihm ihren Dienst. „Sie war meine Mutter, meine einzige Stütze. Ich hätte es nicht ertragen, ständig mit ihrem Vermächtnis in Tokyo konfrontiert zu werden, daher musste ich irgendwo anders hin, wo sie nicht über mir gehangen hätte wie ein zuschnappendes Damoklesschwert. Jeongguk. Sie war meine Mutter."
„Sie war auch meine Mutter", brauste Jeongguk unüblich heftig auf und begann, einen tiefsitzenden, ungerechten Zorn auf Junghyun zu entwickeln: dafür, dass er Ansprüche stellte, und trotzdem alles bekam, was ihm in diesem versmogten Rattenloch aus der Scheiße geholfen hätte. „Das Nächste, was ich von einer Mutter hatte, du hast keine Ahnung, was für Höllen ich durchlaufen habe, seit du wie ein Feigling geflohen bist! Hier ist alles zugrunde gegangen, Mama und Papa sind... völlig durchgeschnappt, ich bin mit Irren eingesperrt, Junghyun, mit-mit wahnsinnigen Idioten."
Es überraschte ihn, dass Junghyun mit seiner Trauer zu einer geschlossenen Übereinkunft gekommen sein musste, um Ruhe und Mitgefühl so lange vor der Fäulnis zu bewahren. „Zeig Nachsicht mit ihnen", riet er ihm sanftmütig. „Deine Mutter hat ihre Schwester verloren."
„Yoomi war höchstens ihre persönliche Bank, nichts weiter. Sie haben ihren Ring verhökert, Yoomis Ehering. Es macht mich krank, wie eingenommen sie von ihrer Geldgier sind, es bereitet mir körperlichen Schmerz, Junghyun."
„Jeongguk..."
„Wärst du nicht gegangen, wären sie nicht so tief abgedriftet. Mit deinem Verschwinden hast du alles kaputt gemacht!"
Tief in sich, tief unter der Wut, die jede Zelle seines Körpers befallen hatte wie ein lodernder Parasit, war Jeongguk sich bewusst, dass er unfair war. Aber er war ein Mensch, der die Welt in Gut und Böse aufteilen musste, um zu verstehen, wie sie funktionierte—und vielmehr um zu verstehen, wonach er funktionieren musste. Er brauchte Feindbilder mindestens genauso dringend wie starke Anführer, an die er sich klammern und denen er folgen könnte; musste seine ausbrechenden Gefühle auf eine Weise kanalisieren, die nicht ihm selbst zu Schaden kam. Und das einzige Ventil, das sich ihm bot, bordete vor Frust und so, so viel Angst endlich über.
„Jeongguk", hob Junghyun an, ein Sanftmut seine Stimme durchwirkend, den er nicht verdiente. Heiße Tränen der Wut schossen in seine Augen und blind vor Zorn wischte er sie sich behelfsmäßig von den Wangen. „Ich verstehe, dass du verwirrt und traurig bist, ich bin es auch-"
„Ich bin nicht verwirrt und traurig", zischte Jeongguk. „Bevormunde mich nicht. Ich bin wütend, weil ich wünschte, sie hätten dich damals im Pool aufgefunden. Dann würde ich jetzt nicht in diesem beschissenen Scheißleben feststecken."
Er bereute seine unverzeihlichen Worte bereits dann, als das Knacken in der Leitung sich in dem elektrisierten Raum zwischen ihnen in all seiner Bösartigkeit entlud. Ihre Bedeutung krachte auf ihn ein, während Junghyun sich hinter der Welt, die sich zwischen sie geschoben hatte, als Jeongguk zu beschäftigt damit gewesen war, sich in seinem brennenden Selbstmitleid zu verrennen, in Schweigen hüllte.
Fuck.
Mühselig wand sich seine gelähmte Zunge um einen Namen, der ihm jetzt fremder, bedeutungsvoller vorkam denn je. „Junghyun...", wisperte er atemlos.
„Ich hatte dich einmal für meinen Bruder gehalten", unterbrach Junghyun ihn mit einer klirrenden Ruhe in seiner Stimme, und vermutlich war das das Tragische daran: er hatte längst mit ihm abgeschlossen. „Ich hatte Mitleid mit dir, weil du so jung bist, und weil ich dich in dem wahrscheinlich prägendsten Zeitabschnitt deines Lebens allein gelassen habe. Es war mir gewissermaßen peinlich, dass ich es nicht sein konnte, der die Kraft aufbringt, Kontakt aufzubauen, sondern ein zwanzigjähriges, halbes Kind stark für mich sein musste."
Jeongguk schwieg, weil er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Er war sich nie stark vorgekommen. Seine Eltern hatten sich in schwächliche, weltfremde Aasgeier verwandelt, die solange Tante Yoomis Andenken zerpickt hatten, wie es Profit abgeschlagen hatte, bis sie aufeinander losgegangen waren. Ihm war nie die Wahl geblieben, wenn er nicht genauso enden hätte wollen wie sie; wenn das nicht längst schon eingetreten war.
Junghyun schnaufte, verächtlich. „Natürlich hätte sie nicht gewollt, dass wir uns zerfleischen; dass wir uns auseinanderleben, weil nur sie uns zusammengehalten hat."
„Es... es tut mir wirklich-"
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es dir Leid tut, Jeongguk. Ich habe das Gefühl, dich nie wirklich gekannt zu haben."
Eine schemenhafte Figur erschien am Rande seines verschwommenen Sichtfelds, passierte seine erstarrte Gestalt. Jeongguk fühlte sich wie betäubt von seiner Trance, als er mit offen stehendem Mund aufschaute. Es war der hochgewachsene Junge mit den schwarzen, unzähmbaren Haaren. Er tippte auf seinem Handy herum, bevor er sich an die verputzte Wand lehnte und seinen Blick emotionslos erwiderte, fast so, als wollte er physisch für seinen Cousin am anderen Ende der Leitung einstehen.
Seinen tauben Lippen fiel nichts Besseres ein als ein gehauchtes „Du kennst mich. Ich bin dein... dein B-Bruder."
Erst nach einigen Augenblicken begriff Jeongguk, dass das tonlose, gekeuchte Geräusch, das Junghyun ausstieß, ein humorloses Lachen sein sollte. „Ich dachte zumindest, bei dir hätte sich ein ähnliches Sentiment eingestellt. Aber offenbar habe ich mich verschätzt, was deine Menschlichkeit angeht. Du bist genau wie sie, Jeongguk, die du zu gewissenlosen Schmarotzern verschrien hast. Mit der Ausnahme, dass sie nicht ganz so prätentiös sind wie du."
„Junghyun, bitte... bitte nicht..."
„Ruf mich nicht wieder an. Schreib mir nicht noch einmal."
Es knackte, dann herrschte Totenstille.
Mit einer lähmenden, grausig langsamen Bewegung ließ Jeongguk den Arm sinken, um ungläubig auf den Bildschirm zu starren, der sich unzeremoniell sperrte und ihm seine leichenblasse Reflexion vorhielt.
„Was?", wisperte er, wie zu sich selbst, und tippte mit zittrigen Fingern erneut die Nummer an, doch schon nach dem ersten Klingelton stellte sich ein rhythmischer Klingelton ein, sodass Jeongguk umnachtet sein abgewürgtes Handy zurück in seine Hosentasche schob.
Ihm war noch schwindeliger als zuvor vom maßlosen Alkoholkonsum; so übel, dass er sich am allerliebsten über das Geländer gebeugt und alles Verächtliche, das in seiner Kehle ätzte, erbrochen hätte. Eigentlich fühlte er sich sogar wieder nüchtern. Die Schlagartigkeit, mit der Junghyun ihre Beziehung beendet hatte wie eine Maschine, die die lebenserhaltenden Maßnahmen abgeschaltet hatte, hatte all den Restalkohol aus seinem Blut vertrieben wie ein saftiger Kinnhaken. Er fühlte sich geohrfeigt von der bedeutungsvollen—oder hatte sie nicht gerade ihre Bedeutung verloren?—Stille, die in der Luft lag und ihm den Raum zum Atmen nahm.
Junghyun hatte sich ihm entsagt wie man sich eines löchrigen Kleidungsstücks entledigte. Was hatte er jetzt noch?
Nein, viel wichtiger, was war er jetzt noch ohne ihn?
Blinzelnd schaute Jeongguk auf und begegnete prompt dem lethargischen Blick des Fremden, der ihn schon eine Weile länger unter den Beschuss seiner nichtssagenden, dunklen Augen genommen haben musste.
„Ist was?", warf er dem Typen mit einer zahnlosen Bissigkeit entgegen, und war nicht darauf vorbereitet, ihn wirklich zum Reden bewogen zu haben.
„Ich denke nur", fing er gespielt nachdenklich mit einer Stimme an, die bauchig und tief war und in seinem leeren Magen vibrierte, „dass du das ungehobeltste, undankbarste Miststück bist, das mir je untergekommen ist."
Es gab Jeongguk den Rest.
Erst starrte er den unverfrorenen Fremden nur an, empört und erschüttert darüber, so einen Eindruck hinterlassen zu haben; so aus jemandes Augen betrachtet zu werden, der ihn nicht kannte, nicht wusste, was ihm Schreckliches widerfahren war, und sich dennoch dazu angeraten gesehen hatte, ihm sein charakterliches Defizit in all seiner grausamen Unverblümtheit aufzuzeigen. Dann taumelte er blindlings die Treppe herunter, hielt sich mit der Hand manisch am Geländer fest, um nicht über seine Füße zu stolpern.
„Wo willst du hin?", rief ihm der Junge ein Stockwerk über ihm hinterher, aber Jeongguk antwortete ihm nicht.
Er rannte hinaus auf die Straße, in der lichtlosen Hoffnung, der Monsun würde sein Gewissen reinwaschen.
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author's note
sorry für das fehlende update am samstag, ich musste ein plot hole noch dringend ausfüllen, aber jetzt läuft es wieder wie geplant (hoffentlich) weiter!! :))
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