SIX [ nagareyama ]


あなたみたいな人は珍しい
anata mitai na hita wa mezurashii
people like you are rare

— 𖤓 —

DER ERSTE SCHRITT, DEN ER auf sicherem, festem Boden tat, wurde von erbärmlich kläglichen Würggeräuschen und taumelnden Füßen begleitet. Es gelang Jeongguk, mit schwitzigen Fingern rechtzeitig seinen aufgeheizten Helm abzuschütteln, bevor er seinen gesamten, wässrigen Mageninhalt in dem Vorgarten eines alten Kominka-Hauses entleerte.

Atemlos stützte er die Hände auf die Knie und wartete darauf, dass die nächste krampfartige Welle seinen Bauch ergriff, während Namjoon sichtlich ungerührt nach Abstellen seiner knurrenden Höllenmaschine Schutz unter der reetgedeckten Dachtraufe vor den nächsten Regenfällen suchte.

Jeongguk wischte sich erschöpft den Speichel vom Kinn, während er atemlos die Gegend musterte. Das brühend schwüle Sonnenlicht stellte die Diskrepanz zwischen dem stinkenden, überbrechenden Stadtzentrum Tokyos und der Entlegenheit am westlichen Zipfel von der benachbarten Präfektur Chiba eklatant zur Schau: der unebene Asphalt schlängelte sich durch ein ganzes Viertel von aufwendig restaurierten Wohnhäusern, die in traditioneller japanischer Bauweise mit Bambus, Lehm und Holz errichtet wurden. Die meisten Kominka-Viertel waren im Schutz der Berge eingebettet, und früher als ärmlich verschmähte Berghütten gedacht. Die Häuser, die hier am Rande von Nagareyama auf Hochglanz poliert worden waren, mussten als Katalysatoren in Form von Wohnhäusern und Gasthöfen für den ländlicheren Tourismus fungieren.

Sie waren für die schlappen dreißig Kilometer, die Namjoons Motorrad in einem unerbittlichen Tempo zurückgelegt hatte, eine gute Stunde gen Norden geflogen. Absolut kompromisslos hatte sein Fahrer das Gefährt über Expressways ziehen lassen und war dabei so flatterhaft zwischen den Präfekturen Saitama und Chiba hin- und hergesprungen wie ein Hase beim Hakenschlagen, sodass Jeongguk spätestens in Matsudo jeglichen Orientierungssinn in den Wind geschossen hatte.

Er wusste, dass Nagareyama als industriell geprägte Satellitenstadt von Tokyo im äußersten Westen Chibas, in der Spitze des sogenannten Chiba-Hundes hoch über Tokyo selbst thronte. Aber sein Kopf schwirrte noch immer derartig vor Dehydration, Fragen und lebensmüder, unnötig gefährlicher Abbiegungen, die seinen Puls in schwindelige Höhen gejagt hatten, dass Namjoon ihn genauso gut irgendwo in den Bergen im Herzen des Landes aussetzen hätte können, und Jeongguk hätte es ihm abgekauft.

Ausgelaugt spuckte er den sauren Restspeichel in seinem Mund zwischen Azaleen, und Namjoons ungeduldige Stimme tönte zu ihm rüber.

„Beeil dich. Wir wissen nicht, ob uns jemand verfolgt hat."

Er schoss einen prüfenden Blick zum Himmel, an dem dunkle Wolken aufgezogen waren, und nahm Jeongguk, der nur mühselig zurück auf die Beine kam und zum bambusverkleideten Türgatter stolperte, unter den Beschuss seiner misstrauisch verengten Augen. Einmal noch lehnte er sich vor, als suchte er die menschenleere Straße nach Jimins und Taehyungs nahenden Gestalten ab, dann schien er sich (zu Jeongguks Leidwesen) eines Besseren zu besinnen und schob kurzerhand die Bambusverkleidung beiseite, um durch den niedrigen Eingang ins Haus einzukehren.

Still streifte Jeongguk seine Schuhe ab, bevor er sich mit klopfendem Herzen umsah. Als er vorsichtig Fuß auf den hölzernen Fußboden setzte, fühlte er alle anderen Eindrücke auf ihn einprasseln als seine befürchtete Erwartung, geradewegs in das Hauptquartier einer kleinen Gilde geladen worden zu sein. Die Zeit schien um den Kominka einen großen Bogen gezogen und sie vor ihrer üblichen Unbarmherzigkeit mit Tradition und Kult verschont zu haben.

Vorsichtig trat Jeongguk durch einen klimpernden Holzperlenvorhang in einen weitläufigen, luftdurchfluteten Raum, dessen Inneres durch die Lage der deckenhohen, großflächigen Fenster am äußersten, westlichen Rande der Fläche großzügig im Schatten lag. Bis zur Perfektion restauriert und aufpoliert, hatten die Dielen die Farbe von glänzendem Schwarz angenommen, und dieselbe verhaltene, organische Schattierung spiegelte sich in den Pfeilern und Balken aus Pinie wieder, die die jahrhundertalten Lehmwände stützten. Im Raummittelpunkt war eine quadratische Grube in den Boden gegraben worden, in das eine traditionelle Feuerstelle eingelassen worden war.

Irori, rauschte es durch seinen Kopf, während er in die Asche schaute, die am Grunde der Feuerstelle lag. Er meinte sich daran erinnern, in seiner frühen Kindheit einmal in Nagasaki in solch einer restaurierten Unterkunft mit seinen Großeltern genächtigt zu haben, doch dieser Kominka, durch den er genuin staunend schritt, vermochte die Zeitlosigkeit von japanischer Handwerkskunst makelloser in seinem hölzernen, altertümlichen Charme zu konservieren. Diese Form von Architektur brüstete sich auf ihren Verzicht auf Nägeln und seinen nachhaltigen, durchdachten Konsum von Holz in seiner Errichtung.

Eine Ehrfurcht in ihrer pursten, nostalgischen Form rauschte durch Jeongguks vor Staunen steifen Körper. Er verrenkte sich beinahe den Nacken, um aufzuschauen, wo die Dachschrägen mit Susuki-Gras ausgelegt worden waren, das in ordentlichen Büscheln aneinandergereiht der Decke mehr Robustheit verlieh.

Es war so ungemein anders als seine geflieste, lichtdurchflutete Villa aus Sandstein und Marmor auf Capri; und diametral gegensätzlich zu seiner Vorstellung von einem Versteck für drei Möchtegern-Retter, und dennoch konnte er nicht leugnen, dass sein Charme ihn lockte. Namjoon stieß ein ungeduldiges Geräusch aus, mit einem Fuß schon durch eine der unzähligen, aufgeschobenen Schiebetüren getreten, die an jeder Wand des Wohnreiches eingelassen waren, und Jeongguk schloss zu ihm im enagwa auf, dem unmenschlich schmalen Korridor des Hauses. Sein rechter Flügel war mit einem Bücherregal ausgekleidet, das sich quer über die Wand erstreckte und von blendend grellem Licht aus der gegenüberliegenden Glasfront getroffen wurde. Die quadratischen Holzfassaden, die das Fenster einheitlich strukturierten, warfen Muster aus Schatten auf die Einbände, und Jeongguk erspähte das Grün eines großen Gartens, ehe er Namjoon eine knarzende Treppe hinauf folgte.

Er führte ihn durch einen lichtlosen, mit Schiebetüren gespickten Flur, dann schob er eine von ihnen auf und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, einzutreten. Zaghaft betrat Jeongguk das mit Tatami ausgelegte, kleine Zimmer. Eine einzelne Futon-Matratze lag verwaist auf dem Boden.

„Du wirst hierbleiben", sagte Namjoon schroff, während er mit gerunzelter Stirn auf seinem Handy herumtippte. Ein leiser Fluch entfloh seinen Lippen, dann zuckte sein irritierter Blick hoch zu Jeongguk. „Und diesen Raum nicht verlassen", fügte er brüsk hinzu, das Gerät zurück in seine Hosentasche schiebend. „Wir werden später kommen und mit dir reden, du wirst viele Fragen haben."

„Wa-Du gehst?", platzte es ungläubig aus Jeongguk heraus, der in der Mitte des spartanisch eingerichteten Raums zur Salzsäule verwachsen war. „Einfach so? Ist das dein Scheißernst?"

„Ich muss noch etwas erledigen, uns ist was... dazwischen gekommen", entgegnete Namjoon verdrießlich, und Jeongguk lachte humorlos auf.

„Du bist echt der gestörteste Kidnapper der Welt", stellte er höhnisch und gleichsam unheimlich erstaunt von Namjoons kognitiver Unverfrorenheit fest. In einer Geste der Kapitulation stieß er beide Hände von sich, dann schnaubte er ungläubig. „Denkst du wirklich, ich bleibe einfach hier und warte darauf, bis du entscheidest, ob ich es wert bin, von euch angehört zu werden? Ich war es nicht, der in erster Linie überhaupt herkommen wollte, fuck, alles, was ich verlangt habe, war, dass du mich in Shinjuku oder Bunkyō absetzt!"

„Zu riskant", behauptete Namjoon mit einer schroffen Barschheit, die Jeongguk wegen ihrer unverwechselbaren Ähnlichkeit mit einer gestandenen Tatsache grundlegend irritierte. „Shinjuku ist von der Yakuza bis ins letzte verdreckte Kanalrohr unterwandert, du kannst nicht in die Hochburg, die eigentliche Quelle allen Übels zurückkehren und erwarten, darin Sicherheit zu finden. Taehyung und Jimin sollten nicht allzu lange mehr auf sich warten lassen", schloss Namjoon mit gekräuselter Oberlippe, ein kritischer Ausdruck in den verengten Augen, unter dem Jeongguk sich bis auf die letzte Schicht seiner Seele durchleuchtet fühlte. Er lehnte an der Schulter im Türrahmen, die Arme locker verschränkt, und rümpfte missbilligend die Nase. „Wir sperren dich hier nicht ein."

„Aber du lässt mich auch nicht gehen", hielt Jeongguk ihm stur entgegen, und Namjoon stieß die Luft aus den Nasenflügeln aus, das wie ein tiefes Seufzen klang.

„Nein, auf diese drastischen Schutzvorkehrungen müssen wir zu deiner eigenen Sicherheit zurückgreifen. Solltest du unser Quartier verlassen, kann ich dir nicht gewähren, dass nicht eine Patrouille von gedemütigten Yakuza-Spitzeln dich auf offener Straße abfangen wird. War 'ne clevere Idee von dir, gleich alle dreizehn namhaften Clans in Tokyo zu vergrämen und gegen dich aufzubringen. Wirklich beeindruckend."

Jeongguk machte ein in jeder Hinsicht empörtes Geräusch. Seine Fäuste ballten sich an seinen Seiten. „Ich wusste nicht, wie sie sind-", brauste er hitzköpfig auf, doch Namjoon fuhr ihm ernst über den Mund.

„Nach deinem heldenhaften Aufstieg zum primären Staatsfeind der Unterwelt, magst du mir jetzt vielleicht glauben, dass du hier drin besser aufgehoben bist als im unmittelbaren Tageslicht. Wenn dir an deiner Sicherheit und der deines Cousins viel gelegen ist, bleibst du in diesem Zimmer, bis wir wiederkommen." Die Schiebetür gab einen knarzenden, rollenden Laut von sich, als Namjoon zurücktrat und sich dazu schickte, sie zuzuschließen.

„Junghyun ist doch gar nicht hier", sagte Jeongguk schwach wie in einem letzten Kraftakt seiner Sturheit.

Für einen Moment schien Namjoon tatsächlich Mitleid zu durchwirken, doch dann besann sich der rationale Teil seines messerscharfen, wortgewandten Verstandes offensichtlich auf seine Vormachtstellung in seinem Kopf. „Inoffiziell nicht", gab er zurück. „Aber die Clans halten daran fest. Du hast ihnen ein Gesicht und eine Zielscheibe gegeben."

Jeongguk fühlte sich hohl, als er dem dumpfen Schiebegeräusch der Bambusverkleidung vor der Haustür lauschte; als hätte jemand mit einem scharfen Löffel dasjenige Areal aus seinem tauben Körper geschabt, das für Selbstmitleid und Schuldzuweisungen zuständig war. Die nachtschwarze Höllenmaschine heulte auf und schon bald ging ihr lautes Knurren in der aufziehenden Ferne verloren. Leise raschelte die dünne Futon-Matratze, als er sich langsam auf dem äußersten Zipfel des bezogenen Betts niederließ und mit einem äußerst beklemmenden Bauchgefühl versuchte, zu verstehen, dass er sich diese gesamte Scheiße aus eigenem Verschulden heraus eingebrockt hatte.

Und dass dieses letzte Mal kein Junghyun oder Keita oder, Gott bewahre, seine Eltern einen Kopf für ihn hinhalten würden. Dass es eigentlich gar keinen triftigen Grund für ihn dafür gab, den Kominka zu verlassen und zurück nach Hause zu kehren.

Hätte er ein Quäntchen mehr Herzenswärme für die Bewohner in der Danchi gehegt, in der seine Abwesenheit höchstwahrscheinlich nicht einmal vor Einbruch der Abenddämmerung zu einer Kenntnis genommen würde, die Besorgnis zulassen würde, hätte er sein Handy aus seiner klammen Hosentasche gefriemelt und seine Eltern unverzüglich kontaktiert.

Stattdessen starrte er solange auf den Bildschirm, der, wie auch anders zu erwarten, keine einzige Benachrichtigung für ihn bereithielt, bis die Reflexion seines Spiegelbilds von der Anzeige des niedrigen Akkustandes aufgebrochen wurde. Jeongguk vertiefte einen Mundwinkel, dann legte er das Handy auf dem Tatami-Boden ab und schälte sich aus seiner feuchten Jacke, um sie außer Reichweite der Matratze zu bringen. Falls Namjoon, über den er nun mit Sicherheit behaupten konnte, innerhalb ihrer Dreierkonstellation sowas wie eine Vorherrschaft innezuhalten, gedachte, ihn hier versauern zu lassen, bis ihr Rat über sein Schicksal entschieden hatte, wollte er zumindest trocken liegen.

Die Wahrheit war, dass er nichts mehr zu verlieren hatte; und sie war bedrückend und tragisch, traf präzise einen wunden Punkt in ihm, von dem sein Vergangenheits-Ich nicht einmal geglaubt hatte, so etwas Verletzliches überhaupt zu besitzen. Wie gewaltig er sich doch geirrt hatte, als er geglaubt hatte, nichts könnte ihn mehr bewegen als eine verhauene Quest in einem seiner Lieblingsspiele.

Die Weichen seiner Zukunft standen unausweichlich auf Sackgasse, seit er entschieden hatte, sich Hilfe aus zwielichtigen Kreisen anzueignen. Nicht, was der Tokyoter Monsun von ihm übrig gelassen hatte, als er ihn so unbarmherzig begossen hatte, war noch von Bedeutung. Es nützte nichts, seinen trostlosen Verbleib in diesem fensterlosen, kleinen Zimmer zu bedauern. Entweder würde er als die treudoofste oder geistig präsenteste Geisel in die Geschichte der japanischen Entführungsopfer eingehen: selbst wenn die Polizei mit einem Großaufgebot anrücken würde, um ihn hieraus zu befreien, würde sie ihn spätestens dann verknacken, wenn er mit der Sprache herausrückte, weshalb Jimin sich dazu gedrungen gefühlt hatte, ihn mit sich mitzunehmen.

Die Yakuza galt immer noch als ein absolutes Tabuthema in ihrer Gesellschaft, ein einziger Körper aus zahlreichen, verstreuten Clans, die als ein und dieselbe persona non grata geächtet wurden. Sollte er preisgeben, dass er gemeinsame Sache mit ihnen machen hatte wollen, sähe sein nächster Gefängnisaufenthalt wahrscheinlich nicht so heimelig aus wie dieser hier.

Seufzend legte Jeongguk sich nieder und starrte hinauf an die Decke. Die Nässe seiner Jeans prickelte mittlerweile unangenehm auf seiner ausgekühlten Haut und zwickte in seinen Kniekehlen. Sein Rücken empörte sich über das lachhaft dünne Polster zwischen Boden und Wirbelsäule mit einem schmerzhaften Ziepen: er war Federbetten gewöhnt, sogar daheim in Toyama hatte er lieber auf dem zerschlissenen Sofa geschlafen als auf dieser billigen, pseudo-gesunden Matratzenattrappe.

Er realisierte erst, wie sehr die Ereignisse dieses Morgens von ihm gezehrt hatten, als ein lautes, in jeder Hinsicht menschliches Geräusch ihn ruckartig in die Höhe fahren ließ und ihn katapultmäßig aus einem traumlosen Dämmerzustand beförderte.

Gerne hätte er geschätzt, wie viel Zeit vergangen war, seit Namjoon ihn so unzeremoniell wie einen unnötigen Ballast hier abgeladen hatte, doch die Lampe über seinem Kopf war kein Indiz. Sein steifer Nacken meldete sich mit verärgerten Ziehschmerzen zu Wort, er musste ihn verdreht haben, als er auf der Futon-Matratze in einen leichten Schlaf geglitten war. Angestrengt streckte Jeongguk seinen Rücken durch, der ihn für seine Vernachlässigung mit dumpfen Knucksen entlohnte, dann horchte er mit klopfendem Herzen in die Stille hinein.

Es klang, als würde jemand vor Schmerzen stöhnen. Angst ergriff ihn, als Jeongguk sich vorsichtig auf die Beine erhob und zur anderen Seite des Zimmers schlurfte.

Wurden noch mehr Geiseln hier festgehalten? Versuchte man, mit Folter Informationen aus ihnen herauszubekommen?

Dicht und angestrengt drückte Jeongguk ein Ohr gegen die Wand—und zog dann den Kopf zurück, als diese nachgab und unter seiner Gewichtsverlagerung in das dünne, wenig isolierte Bambusholz leise quietschte. Erst jetzt realisierte er, dass sie nie eine standfeste Wand gewesen war, sondern eine weitere, durchgängige Schiebetür, die dieses Zimmer vom anliegenden Kompartiment abgrenzte. Behutsam setzte er die Finger auf das bewegliche Scharnier und schob es eine Winzigkeit auf, gerade so viel, um mit einem Auge in die gähnende Dunkelheit des anderen Raumes zu linsen.

Ein herrenloser Schreibtisch war an die gegenüberliegende Wand geschoben und über einen unspektakulären Stuhl ein dunkler Stoffhaufen geworfen worden, der aus zusammengeballten Kleidungsstücke bestehen könnte, doch ansonsten unterschied sich das Zimmer nicht eklatant von seinem. Eine ähnliche Futon-Matratze lag parallel zur Schirmwand zwischen ihren Kompartiments, und war offensichtlich gerade in Benutzung. Das schmerzerfüllte Ächzen war aus diesem Raum gekommen. Eine Person lag rücklings auf dem spärlichen Bettersatz und wälzte sich wimmernd und atemlos in einer zerklumpten Decke.

Beunruhigt steckte Jeongguk seinen Kopf durch den Spalt, doch bevor er mit dünner Stimme in die Finsternis fragen könnte, ob es der Gestalt gut ginge, erstarb sein Vorsatz augenblicklich. Seine Aufmerksamkeit fiel auf eine Anomalie, die der Mann, wie er sich jetzt beinahe sicher war, fest an seine Brust gepresst hielt. Erst, als er sich weiter vorlehnte, erkannte er die Ursache des Schmerzes.

Dem Mann war ein Finger abgetrennt worden. Der blutige, dunkel glänzende Stumpf lief über seiner Brust in einem durchnässten Verband aus und fraß sich unaufhörlich durch die weiße Binde. Ein bodenloses Entsetzen packte Jeongguk, als er zurücktaumelte und mit voller Wucht die Schiebetür zustieß.

Wie eine eiskalte Welle des Grauens packte ihn die tödliche Erkenntnis: er würde der nächste sein, der Gliedmaßen für die sinistren Zwecke dieser Gilde einbüßen würde. Er musste sofort von hier weg.

Hastig griff er nach seinem mittlerweile erstorbenen Handy, dann stolperte Jeongguk über beide Füße, um die andere Tür aufzuschieben und furchterfüllt in den Korridor zu stolpern. Das Bild des abgetrennten Fingers ließ die Magensäure in seinem Bauch gefährlich hoch schwappen. Er musste sich zwanghaft an der Wand festhalten, um seine schlagartig aufgekrochene Übelkeit herunterzuschlucken, und öffnete blind vor Panik die erstbeste Tür im Flur, die sich vor ihm auftat.

Jeongguk erwartete nicht, geradewegs in ein voll funktionales, hochmodernes Krankenzimmer zu platzen, in dem eine ältere Dame an zahlreichen Kabeln und Monitoren gebunden döste. Auf der Bettdecke schreckte ein uralter weißer Malteser auf, der empört die Lefzen hochzog. Ein erschrockenes Japsen entfloh ihm, bevor er die Tür geradewegs wieder zuschlug und hastig die Treppe heruntereilte.

Das musste die eigentliche Besitzerin des Kominkas sein, rauschte es durch seinen Kopf, in dem die Alarmsirenen zu einem überherrschenden Rauschen mutiert waren, das jeden seiner schnellen Schritte durch den enagwa, den schmalen Hausflur übertönte und dumpf machte. Das Fellvieh begann lauthals zu bellen. Ihm war schwindelig vor Angst. Hatten sie ihr irgendetwas verabreicht, um sie mundtot zu machen und hier ihr Hauptquartier zu beziehen, fernab von Augen des Gesetzes und der Überwachung? Hielten sie sie nur so lange am Leben, wie ihr Name noch auf der Besitzurkunde des Kominka stand?

Von irgendwoher ertönte ein Gelächter, das ob seiner völligen Fehlplatzierung in diesem Horrorhaus Jeongguk grundsätzlich verstörte. Er preschte durch die erstbeste Tür von den beiden, die dem enigwa anlagen, in seiner Furcht gänzlich vergessen, welche es gewesen war, durch die Namjoon ihn aus dem Wohnbereich geführt hatte.

Er landete nicht in dem weitläufigen, mit Zedernholz ausgelegten Raum, sondern in einem nach westlichen Maßstäben möblierten Wohnzimmer. Auf einem dunklen Esstisch vor der deckenhohen Fensterfront standen die Überreste von chinesischen Imbiss-Boxen, eine Jacke war achtlos auf der Lehne eines dunkelbraunen Wildledersofas zurückgelassen worden; als maßte sich dieser Raum an, etwas Menschliches in ihm zu entfalten, das fernab von Folter und Brutalität friedlich in einem abgeschotteten Vakuum koexistierte. An den dunkelgrün tapezierten Wänden hing eine Vielzahl von glänzenden—Jeongguk lief es eiskalt den Rücken runter—Katanas, die ordentlich über ihren kunstvoll bemalten Halftern ausgestellt zu einer grotesken Dekoration entfremdet worden waren.

Verstört wich er vor den gebogenen Klingen zurück, die im einfallenden Sonnenlicht ein wahrlich bösartiges Schillern absonderten—und fuhr dann heftig in sich zusammen, als die Tür hinter ihm unverhofft geöffnet wurde.

Jimin und Taehyung betraten lachend den Wohnraum der Kominka, in zwangloser, beinahe erschreckend gewöhnlicher Kleidung steckend und nicht wie befürchtet in den blutbesudelten Kitteln und Plastikschürzen, denen man sich nach einer erfolgreichen Geißelung seiner wehrlosen Gefangenen einfach entledigen konnte. Sie blieben abrupt stehen, als sie Jeongguk erblickten, der im Mittelpunkt des Wohnzimmers zu einer stocksteifen, leichenblassen Salzsäule erstarrt war, der kalte Schweißperlen über den Rücken rannen.

„Jeongguk?" Jimin blinzelte ihn verwirrt an. Hinter ihm beäugte Taehyung deutlich weniger pazifistisch den unwillkommenen Fund in ihrem primären, wie er anhand der stehengelassenen Nudelboxen und zerlegenen Kissen annahm, Aufenthaltsraum. Sein blonder Freund legte in milder Überraschung den Kopf schief. „Was machst du hier, warum bist du nicht auf deinem Zimmer?"

„Geht weg von mir!", kreischte Jeongguk atemlos, und griff kurzerhand nach den Stäbchen, die auf dem Tisch lagen. Unbeholfen umgriff er sie mit der Faust und spürte am Rande seiner alarmierten Wahrnehmung, wie die dünne Kruste über seiner Wunde Risse erfuhr. „S-sonst... sonst benutze ich die h-hier!"

Taehyungs Augenbrauen zuckten bis an seinen Haaransatz. „Ein Paar Stäbchen?", stellte er nüchtern fest. Jimin musste genauso unbeeindruckt sein wie er, aber er besaß den Anstand, es nicht zu zeigen. „Leg das weg, du machst dich nur lächerlich vor einem waschechten Kenshi."

„Taehyung", murmelte Jimin leise.

Irritiert flackerte Jeongguks Augenmerk zu ihm, der verstummt war und keinerlei Anstalten machte, seiner Erklärungsnot entgegenzukommen. „Ein-ein was?", fragte er plump und hielt die Stäbchen noch etwas höher, weil Taehyung ungeduldig die Augen verdrehte, als wäre er es Leid, wegen seiner geistigen Lahmarschigkeit zwei kognitive Schritte kürzer treten zu müssen.

„Wie lange bist du bitte fort gewesen, um deine gesamte Kultur restlos verschmäht zu haben?" Er schnaubte kopfschüttelnd. „Ein Schwertkünstler. Er könnte dich aufschlitzen wie eine Wassermelone und es würde ihn wahrscheinlich nicht mehr Anstrengung kosten als Gemüseschnippeln."

Es lief Jeongguk eiskalt den Rücken runter, als sein Blick Jimins ruhigen, besonnenen kreuzte, seine Miene gezeichnet von einer Ausdruckslosigkeit, die vermutlich gerade deswegen so beispiellos zur Schau zu stellen vermochte, wie makellos er mit sich selbst und seiner angeblichen Kunstfertigkeit im Reinen war. Er neigte den Kopf um eine winzige Idee, fast als wollte er still fragen, ob es etwas an ihm änderte, und Jeongguk meinte, endlich durch den Schleier der Bewunderung, der sich dünn und zart für Jimin in ihm gesponnen hatte, durchzusehen.

„Dann warst du das also, der diesem Kerl das angetan hat?", schleuderte er ihm bitter entgegen.

Er verfolgte Taehyung mit der sojabesudelten Spitze der Stäbchen, da dieser offenbar beschlossen hatte, dass diese Diskussion seiner Zeit nicht länger würdig war, denn er fläzte sich kurzerhand über die Rücklehne des Sofas aufs Polster, räkelte sich wie eine Katze und schaltete dabei den Fernseher an. Scheinbar war er so gestählt gegen die Gräuel, die hier begangen wurden, dass er seiner Menschlichkeit mittlerweile völlig abgedankt hatte. Verstört wirbelte Jeongguk zurück zu Jimin, der Jeongguk noch immer so neugierig anschaute wie ein Rätsel, das er einfach nicht knacken konnte.

„Ich kann nicht folgen", entgegnete er irgendwann geradezu sanftmütig, und Jeongguk schüttelte heftig den Kopf, weil etwas in seinem Gehirn auf diese inhärente Weichheit in seiner Stimme ansprang; als wollte sein eigener Verstand die Grenzen der Scheußlichkeit, die er um Jimin gezogen hatte, aufbrechen und sich gegen ihn verschwören, weil er in Jimin noch immer den heldenhaften Retter aus der brenzligsten Bredouille sah.

„Und die Frau", stieß Jeongguk abgehackt hervor. „M-mit diesem Köter, lasst ihr sie nur nicht abkratzen, weil ihr irgendeinen dubiosen Profit aus ihr zieht?"

Jimin besaß Nerven, lediglich verwundert den Kopf schiefzulegen. „Was?", fragte er in schwacher Irritation—und atmete dann lautlos auf, sodass Jeongguk den dezidierten Moment erkennen konnte, als irgendetwas in Jimin begriff. „Oh-Oh, du meinst... natürlich, jetzt sehe ich, inwiefern uns das in ein gänzlich schlechtes Licht rückt." Beinahe schmerzverzerrt verzog er die feinen Gesichtszüge. „Hat Namjoon dich etwa in nichts eingeweiht?"

Sein trockener Mund verselbstständigte sich. „G-gar nichts. Er ist einfach wortlos abgezogen. A-aber das tut doch auch nichts zur Sache!", brauste Jeongguk entsetzt auf. „Was seid ihr? 'N verfickter Sadistenkult? Ich hetz euch die Bullen auf den Hals, wenn ihr mich auch nur anrührt, i-ich mein's ernst!"

Taehyung lachte behelligend laut auf, als amüsierte er sich köstlich über Jeongguks Todesangst, und schoss ein schiefes Grinsen auf ihn ab. „Sieht ihm ähnlich. Ich hätt's genauso gemacht", feixte er, verstummte aber unter Jimins mahnendem Blick und rutschte nur noch tiefer zwischen die Polster.

„Sei nicht so. Das war verdammt unverantwortlich von Namjoon, es hätte sonst was passieren können. Und von dir übrigens auch, ich hab dir tausendmal schon gesagt, du sollst deinen Billig-Fraß mit auf dein Zimmer nehmen und nicht hier liegen lassen." Missbilligend klappte Jimin die Deckelflügel der Nudelbox zu, und schien dabei immun gegen die ungläubigen Seitenblicke, mit denen Jeongguk sein... heimeliges? Gewöhnliches? in jeder Hinsicht befremdliches Verhalten verfolgte.

Er fühlte sich, als wäre er inmitten eines brüderlichen Kleinkriegs geplatzt, und das war es, was ihn so fundamental irritierte, dass er Jimin einfach die Stäbchen aushändigte, als dieser vorsichtig den Klammergriff seiner Finger um sie löste.

Déjà-vu. Jimin presste die Lippen zu einem schwachen Lächeln zusammen, das Jeongguk vor Lähmung nicht erwidern konnte.

Taehyung stieß ein Schnauben aus. „Wie denn?", maulte er, die leeren Hüllen von einem DVD-Stapel neben dem Beistelltisch nach etwas Brauchbarem absuchend. „Er hat ja jetzt meins bekommen."

„Es wird dich nicht umbringen, ein Quäntchen Gastfreundlichkeit aus deiner schier unerschöpflichen Herzenswärme für Jeongguk abzutreten, weißt du das? Ich hätte dich auch mit einem Stäbchenset attackiert, wenn du mir so auf den Sack gehen würdest."

Augenrollend führte Jimin die Stäbchen aneinander, bevor er sie wieder auf den Tisch legte, und Jeongguk war sich sicher, so bedauernswert wie ein begossener Pudel auszusehen, denn Jimin schien ein unbändiges Mitleid für seine Situation zu ergreifen, als er sich ihm wieder mit vor Schuld verkniffener Miene zuwandte.

„Deine Hand blutet wieder", bemerkte er besorgt, sodass Jeongguk seine brennende Faust umso fester und schutzsuchender in seinem Shirt vergrub. „Die sollten wir erst einmal verarzten, bevor wir uns zusammensetzen, um-"

„Sie mir mit einem behänden Schlag abzuhacken? Danke, ich verzichte."

Jimin schnitt eine Grimasse, doch er kam nicht mehr dazu, seiner Verwunderung, die täuschend echte Verletztheit vorgaukelte, an Ausdruck zu verleihen, denn im nächsten Moment wurde die Tür wieder aufgeschoben und Namjoon trat auf seinem Handy tippend ein. Als er Jeongguk erkannte, vor Jimin zurückgewichen wie ein scheuer Streuner, hielt er in der Bewegung, zu Taehyung auf der Couch aufzuschließen, inne, und eine tiefe Furche tat sich zwischen seinen Brauen auf.

Dann schnalzte er beinahe tadelnd die Zunge. „Hatte ich dir nicht aufgetragen, auf uns zu warten?"

„Nachdem du ihn allein gelassen hast?", fuhr Jimin statt seiner fort, und Jeongguk wurde schwindelig vor Erleichterung über die Tatsache, dass der blonde Junge trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit beschlossen hatte, weiterhin sein argumentatives Quartier auf seiner Seite zu halten. Enttäuscht, aber vielmehr noch genervt schüttelte Jimin den Kopf. „Geht's eigentlich noch? Seit Hoseok und Yoongi nicht mehr da sind, benehmt ihr euch völlig unzivilisiert. Manchmal würde ich am liebsten eure beiden Köpfe nehmen und sie gehörig aneinander scheppern, ernsthaft jetzt, ihr bereitet mir seelischen Schmerz, wie ihr diese simulierte Gefahr befeuert."

„Simulierte Gefahr?", wiederholte Namjoon konfus, und Taehyung half ihm laut auf Chips kauend auf die Sprünge.

„Der Jeon-Junge glaubt, wir hätten erst Seokjin verstümmelt und dann Ima-san ausgeknockt und ausgebeutet. Oder andersrum." Er zuckte die Schultern, als könnte es ihm eigentlich nicht egaler sein, was Jeongguk von ihnen dachte.

Jimin verschränkte vorwurfsvoll die Arme vor der Brust. „Und das ist deine Schuld", stellte er mit gerunzelter Stirn fest, während er Namjoon mit seinen bedeutungsgeladenen Blicken taxierte. Jeongguk konnte nicht leugnen, dass es ihn insgeheim beeindruckte, dass Jimin einer Silhouette wie Namjoon furchtlos Paroli bot; er könnte den Kleineren mühelos körperlich überwältigen, doch Jimin ließ es geradezu lachhaft einfach aussehen, ihren übellaunigen Anführer in seine Schranken zu weisen. „Hättest du ihm nicht alles vorenthalten, bevor du ihn sich selbst überlassen hast, hätten wir ihm nicht so eine Angst eingeflößt. Die Inagawa-kai hat zwei Kugeln auf Taehyung abgefeuert, weil sie geglaubt haben, Jeongguk erwischt zu haben, bevor wir sie in Yashio abgehängt haben, noch mehr von dieser omnipräsenten Bedrohlichkeit kann er nicht gebrauchen."

Namjoon hatte die Oberlippe verdrießlich hochgezogen und erinnerte Jeongguk nicht unwesentlich dabei an einen zähnefletschenden Rottweiler, der zur Offensive ansetzte. „Halt an dich, Jimin", riet er seinem Freund nur. Seinen Worten schien ein ungeheuerliches Gewicht oder eine geladene Bedeutung anzuhängen, denn das Unwohlsein, das sich sogleich im Wohnzimmer mit dem Jähzorn eines explosiven Sprengkörpers entfaltete, vermochte auch Jeongguk niederzudrücken. „Nicht vor dem Feind; du hast geschworen."

„Er ist nicht nicht der Feind, er ist ein Junge. Komm, Jeongguk", schloss Jimin verärgert. „Ich mach dir einen Tee, dann reden wir."

Obwohl Jeongguk vor nicht einmal fünf Minuten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätte, um den dreien aufs Äußerste fernzubleiben, stolperte er jetzt beinahe über beide Füße, als er Jimin nachsetzte und an Namjoon vorbei eilig aus dem Wohnzimmer flüchtete. Jimin schob die Tür zur weitläufigen Wohnfläche auf und steuerte schnurstracks die kleine, bescheidene Küchennische vor der Haustür zu, um Wasser für sie aufzukochen.

Sie saßen im Schneidersitz gegenüber voneinander vor der Feuerquelle, auf deren kleinen, entzündeten Flamme Jimin den Teekessel platziert hatte, und tranken von einem Grüntee, der warm in Jeongguks flauer Magengrube aufbrodelte und das Gefühl in seinen klammen Gliedmaßen wieder mobilisierte. Still nippte er an der Tasse und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr seine Sitzhaltung unter seiner Steifheit mit der japanischen Kultur litt; seine Knie schmerzten und seine Füße schliefen nacheinander ein. Falls Jimin bemerkte, dass er unwohl hin und her rutschte, um seine gekappten Nervenstränge aus der Taubheit zu revitalisieren, dann kommentierte er es nicht weiter.

Er hatte die Kapuze eines Pullovers über den Kopf gezogen und summte leise und nachdenklich, während er in seine Tasse schaute, wahrscheinlich nur, um die Stille zwischen ihnen probehalber aufzulockern.

Jeongguk öffnete zaghaft den Mund. „Geht es... geht es eurem Freund gut?", fragte er irgendwann, und Jimins Blick zuckte zu ihm.

„Seokjin? Er wird durchkommen, ja. Ihm wurde ein Fingerglied abgetrennt, aber das verheilt wieder." Jimin blinzelte, als müsste er sich wachrufen, um nicht zu viel zu verraten, und nahm einen langen, bedeutungsschweren Schluck von seinem Tee.

Seine Brust erfuhr ein niederschmetterndes Beklemmungsgefühl. Jeongguk biss sich auf die Unterlippe, um nicht mit der Frage auszubrechen, warum er seinen Finger verloren hatte, da sprach Jimin bereits mit einer einlullend ruhigen Stimme weiter.

„Weißt du, wer wir sind?"

Verunsichert hob Jeongguk die Tasse an seine Lippen, dann schüttelte er langsam den Kopf. „Ihr gehört nicht zur Yakuza", sagte er plump, und entlockte Jimin damit ein schiefes Grinsen.

„Gott bewahre, nein. Nein, wir sind so etwas wie... wie ihre biblischen Widersacher. Uns gibt es viel länger als sie dieses Land bereits verseuchen, tragischerweise dezimiert sich unsere Zahl exponentiell, während ihre... naja, du hast ja selbst gesehen, wie viele Oyabuns heute noch an der Spitze von Clans stehen. Und das waren nur die größten Yakuza-Verbindungen von Tokyo." Er benetzte seine Lippen, dann nickte er wie zu sich selbst. „Wir sind Samurai, Jeongguk."

Erst wusste Jeongguk nicht, was er sagen sollte; ob er es bewundernswert finden wollte, in ihrer modernen Welt eine Institution zu ehren, die in ihren Geschichtsbüchern längst zum verstorbenen, verstaubten Kulturerbe ihres Inselreiches erklärt worden war; oder ob der Hartnäckigkeit, mit der sie das japanische Vermächtnis aus dem Mittelalter künstlich am Leben erhielten, etwas immens Tragisches innewohnte. Planlos schloss und öffnete sich sein Mund, dann artikulierte Jeongguk sich bedacht: „Ich dachte, die Samurai wären längst ausgestorben."

„Offiziell. Mit der Meiji-Restauration im späten neunzehnten Jahrhundert wurden die Samurai-Krieger sukzessive aus Japans Militärregime gebannt und dem Zerfall überlassen. Eine abstruse Schönheit der Schicksalsironie, wie ich finde: erst für den Kaiser aufgestellt, fanden sie unter derselben Hegemonie auch ihr Ende." Jimin drehte den Kopf und Jeongguk folgte nicht gänzlich begeistert von Namjoons unverhofften Auftritt seinem Blick zur Tür. Sein blondes Gegenüber schien unbeirrt von dessen Anwesenheit. Er drehte sich wieder Jeongguk zu und fuhr fort, während Namjoon manierlich neben ihm Platz nahm: „Ein paar Familien führen inoffiziell den Titel als Samurai weiter, auch wenn er heutzutage kaum noch Ruhm abwirft wie früher, wo du zum Kriegeradel aufgestiegen bist, wenn du dich dem Bushido, dem Leitsatz der Samurai verschriebst. Du musst wissen, dass der Rang des Samurai irgendwann vererbbar wurde, um den Bestand und Schutz des Shōgunats, der damaligen Militärregierung zu sichern."

Es war Jeongguk in gewisser Weise peinlich, unbedarft wie ein unwissendes Kind all die Informationen, die Jimin ihm so bereitwillig aushändigte, aufzusaugen, weil er sich nie tiefer mit der Geschichte seiner Heimat befasst hatte, seit er auf der anderen Seite der Erde gelebt hatte. Die Zeitlinie der Samurai war akademisches Neuland für ihn: er hatte nie angenommen, dass es überhaupt noch Menschen gab, die 150 Jahre in der Vergangenheit schwelgten, daher hatte er dieser prägenden Epoche in Japans blutiger Geschichtsschreibung nie mehr als nachlässiges Interesse vorgegaukelt.

„Aber ihr gehört zu diesen Familien?", hakte er nach, und dieses Mal war es Namjoon, der ihm antwortete.

„Die Verbindung zum letzten Samurai aus meinem Geschlecht reichen zu viele Jahrzehnte zurück, um sie aufzuzählen, aber ja, im Grunde genommen schon", erklärte er unüblich zahm, während er sich vom aufgeheizten Teekessel eingoss.

Fragend flackerte Jeongguks Blick zu Jimin, dann wurde die Schiebetür ein zweites Mal zugeschoben und Taehyung (innerlich stöhnte Jeongguk auf) pflichtete wie selbstverständlich bei: „Wir sind Cousins."

Langsam nickte Jeongguk. „Und weshalb tragt ihr dann keine japanischen Namen?", hakte er verwirrt nach. „Ich wusste nicht, dass es auch Koreaner in die Reihen der Samurai geschafft hatten."

„Haben sie auch nicht", erwiderte Namjoon schulterzuckend. „Die alten Samurai waren strikt homogen. Wie gesagt, mit der Zeit verlor der engstirnig an Familie geknüpfte Titel des Samurai allerdings allmählich an Bedeutung: Flüchtlingswellen, Kriege und die Modernisierung haben ihren Adel mit dem einfachen Volk vermischt. Unsere Familie trat mit der japanischen Besatzung nach dem ersten Weltkrieg über und unseren letzten Vorfahren, der noch im alten Edo als echter Samurai gelebt hat, haben wir nie kennengelernt. Sein Titel ist ein stilles, mundtotes Erbe, die meisten Abstammungen aus Samurai-Familien sind höchstwahrscheinlich nicht einmal mehr unter ihren Trägern bekannt, so viel Wert haben sie an den Zahn der Zeit abgedrückt."

Nachdenklich schlürfte Jeongguk von seinem Tee und beobachtete die Matcha-Stückchen darin beim Umherwirbeln, um in keine der Mienen schauen zu müssen, die mit geballtem Fokus auf ihm lagen. „Ich verstehe", sagte er dann, obwohl ihm der Kopf bereits schwirrte. „Also seid ihr sowas wie die letzten Samurai-Krieger."

Jimin, der sich bis jetzt verhalten im Hintergrund gehalten hatte, wiegte den Kopf hin und her. „Nicht so... ganz", entschied er dann grüblerisch. „Samurai sind eigentlich strikt an ihre Lehnsherren gebunden, und wenn sie nicht dem Kaiser gedient haben, dann einem anderen Lord mit Gut und Land zum Beschützen. Wir haben keinen solchen Herren, was uns... ganz streng genommen nicht zu Samurai macht."

„Es heißt Rōnin", fuhr Taehyung ihm dazwischen, der sich eine Flasche Cola mitgenommen hatte. Geräuschvoll stieß er die Luft wieder aus und leckte sich die Lippen. „Es wird dir nicht wehtun, den Begriff auch zu benutzen, Jiminie", stichelte er grinsend. „Bedeutet so viel wie herrenloser Samurai. Gibt überraschend viele gute Filme darüber."

Jeongguk entging nicht, wie Jimin versuchte, sein gequältes Lächeln im Tee zu ertrinken. „Genau. Nun, Namjoon fungiert als unser Herr und trägt den meisten Gehalt an Erbe in seinem Blut, daher ist er in unserer Konstellation der Anführer. Früher waren wir noch mehr, aber dann sind ein paar Dinge vorgefallen, und dann-"

„Jedenfalls ist das eine grobe Zusammenfassung dessen, was uns treibt und als Brüder zusammenschweißt", fuhr Namjoon ihm geschmeidig über den Mund, sodass Jeongguk beinahe vergessen hätte, was Jimin angeschnitten hatte, würde Jimin nicht so verdutzt über seine Unterbrechung innehalten und die Augenbrauen in die Höhe ziehen. Namjoon stellte seine Tasse vor sich ab und räusperte sich. „Du wirst sicherlich selbst gehört haben, dass Ehre, Loyalität und Moral ganz oben in unserem Geschlecht stehen. Samurai haben lange vor ihrer Beförderung zur Leibwache des Kaisers den Schwachen geholfen und die Starken reguliert."

Jeongguks Schultern sackten unwillkürlich eine Winzigkeit in die Tiefe. „Nach demselben Leitspruch verfahren auch die Yakuza", bemerkte er. „Das hat mein Freund mir erzählt, bevor... naja, bevor ich ihnen begegnet bin, und sie all meine Erwartungen und Hoffnungen an sie bitterböse Lügen gestraft haben."

Jimin und Namjoon drehten gleichzeitig die Köpfe in Taehyungs Richtung, der lässig abwinkte. „Sasaki Keita", erklärte er, und als läge dem Namen seines Kindheitsfreundes irgendeine tiefschürfende Korrelation zwischen Unterwelt und Kriminalität inne, die Jeongguk nicht verstand, nickten die beiden verstehend.

Namjoon stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Die Yakuza sind ein Geschwür, Junge. Sie helfen niemandem, der nicht sie selbst ist, und an der Maxime hat sich auch nach Jahrhunderten nichts verändert. Wer ihnen im Weg steht, wird kurzerhand mundtot gemacht oder findet sich später in ihren Reihen wieder, nachdem sie ihn in den Ruin getrieben haben. Deswegen sind sie auch so verflucht hartnäckig loszuwerden: die japanische Gesellschaft stößt alles ab, was ihr nicht ins Ideal passt und sich ihr nicht anpassen kann, und den Ausgestoßenen bleibt nichts anderes übrig, als sich einer Yakuza-Bande anzuschließen, um nicht unterzugehen. Es ist ein verdammter Teufelskreis, den unsere Regierung nicht aufbrechen kann, weil seine Zerstörung nur noch mehr Teilung fördern würde."

Scham übermannte ihn in einer heißen Welle der Schuldgefühle: aus ebendiesen Gründen hatte auch Jeongguk die Zuflucht in die soziale Ächtung angestrebt. Er hielt peinlich berührt von seiner Naivität, den Geniestreich des Jahrhunderts entkniffelt zu haben, den Kopf gesenkt, und betrachtete die Keramik seiner Tasse. „Ich verstehe immer noch nicht so ganz, was sie dann überhaupt von mir wollen", gab er schließlich kleinlaut zu. „Ich kann doch nicht der einzige sein, der vor dem Eintritt in einen Clan im letzten Moment kalte Füße bekommen und einen Rückzieher gemacht hat. Eigentlich kennt mich doch niemand hier. Warum haben sie es so sehr auf mich abgesehen?"

Ein betretenes Schweigen hielt Einzug über den drei Samurais, das von mehr Bedeutung durchwirkt war als Worte ihm seine düstere Vorahnung bestätigen hätten können. Langsam, nur langsam straffte Jeongguk den Rücken, eine hohle, blinde Furcht sein schneller schlagendes Herz in ihrem unerbittlichen Klammergriff gefangen haltend. Er erwartete nicht, Zuspruch von einer Person zu erfahren, die langsam eine Schiebetür hinter sich schloss und ihn herumfahren ließ.

Dem jungen Mann aus dem anliegenden Zimmer im Obergeschoss, den Jeongguk beim Winden vor Schmerzen zugesehen hatte, hingen verschwitzte, schwarze Haarsträhnen in der Stirn, als er ihm ein schwaches, teuflisches Lächeln zuwarf, das ihn bei der Erkenntnis, die zäh durch seinen Kopf sickerte, erstarren ließ.

„Weil du die Oyabuns gedemütigt hast", antwortete der Anzugträger, den Jeongguk bereits als Youkos Schoßhündchen in Avex Inc.'s Kantine kennengelernt hatte, mühevoll keuchend, die verstümmelte Hand fest an seine Brust gepresst. „Und, ach ja, weil sie dich und deinen Cousin am liebsten tot sehen würden."

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