FIVE [ fight or flight ]


会あうは別わかれの始はじめ
au wa wakare no hajimari
to meet is the beginning of parting

— 𖤓 —

DER JUNGE PRESCHTE IN EINEM rigorosen Zahn die Umamichi-Dori Avenue runter und kugelte Jeongguk in seinem stürmischen Schlepptau beinahe die Schulter aus.

Sein Fuß verfehlte halb den Bordstein, kam ungelenk auf nassem Asphalt auf, sodass Jeongguk um Luft prustend und stolpernd über die Straße hinken musste, um nicht den Anschluss zu verlieren. Sein durchgestreckter Arm meldete sich mit peinvollen Blitzen zu Wort, die seine bis zum Äußersten gestrafften Muskeln durchzuckten, doch der Junge schien nicht in naher Zukunft davon abzusehen, sein Tempo zu drosseln.

Er zog ihn mit einer unnachgiebigen Entschlossenheit hinter sich her, immer weiter die leere Hauptstraße herunter, und Jeongguk bemerkte am bedenklich schwarz aufflackernden Rande seiner Wahrnehmung, dass sie sich auf die westliche Schleuse der Azumabashi-Brücke zubewegten, die über den Sumida-Fluss den gleichnamigen östlichen Stadtbezirk mit Taito verband.

Jeongguk war schlecht vor dem Nachhall dieser urmenschlichen Angst. Er hörte immer noch das Echo der drei abgefeuerten Pistolenkugeln in seinen nassen Knochen vibrieren, sodass er es kaum fertig brachte, weniger zu tun als still zu gehorchen.

Zu ihrer Rechten, hinter den wenigen Chōmes, den blockweise angeordneten Wohnblöcken, die die Ostseite des Tempelgeländes spärlich flankierten, blitzten die türkisen Dächer der Stände in der altehrwürdigen Einkaufspassage zum Sensō-ji-Tempel auf.

Sie kriegen euch alle beide dran, warnte ihn sein in seinen Ohren klingelndes Unterbewusstsein. Kehr um und versteck dich, solange du noch kannst, sonst läufst du ihren Knilchen und Leibgardisten vor dem Eingangstor zur Anlage direkt in die Arme. Und dann wird dich die nächste Kugel nicht verfehlen.

Am liebsten hätte er die Füße in den Teer gestampft und dem Jungen zugeschrien, dass sie in die falsche Richtung flohen, doch sein vor Schock erlahmter, zitternder Körper versagte ihm in einem angsterfüllten Automatismus seinen Dienst zur Selbstständigkeit.

Wenn das sichere Unheil sowieso auf ihn in teuer importierten, polierten Mercedes-Wägen vor der Nakamise Street wartete, überlegte er angestrengt und vorrangig nur, um sein vor Furcht pulsierendes Bewusstsein mit derselben Logik zu umnachten, dann machte es im Grunde genommen keinen Unterschied, welchen Weg er wählte, um das Unglück zu finden, das ihm ohnehin vorbestimmt zu sein schien.

Keita hatte ihn wie ein saftiges Schwein zur Schlachtbank geführt, und jetzt nahm er Reißaus vor seinem Henker.

Blindlings ließ Jeongguk sich von dem Jungen mitreißen, der ganz so schien, als wäre er darin erprobt, vollkommen nutzlose Anhängsel wie nasse Säcke in einer halsbrecherischen Flucht aus der Gefahrenzone zu schleusen. Er äußerte kein Wort, ließ nicht eine Unze locker, während die verlassene Straße vor ihnen kapitulierte und allmählich feine, schmerzhafte Stiche in Jeongguks Seiten ihm ein flaches, geräuschvolles Pfeifen aus den Lungen abverlangten.

Wenn überhaupt verstand der Junge sich nur darauf, immer und immer weiter mit der Unerschöpflichkeit eines Vertriebenen weiterzurennen, und Jeongguk würde den Teufel tun und jetzt eine Pause für seine pochenden Sohlen einzufordern. Er röchelte nach Luft, als sie die Kreuzung zur Kaminarimon-Dori Avenue erreichten, die, wie auch anders zu erwarten, wegen des seltenen Konzils der Oyabuns von Autos und Menschen leergefegt worden war. Vermutlich hatten sie dieses Stadtviertel absperren lassen, raste es durch Jeongguks Kopf, und unter seinen vom Regen klammen Klamotten kroch ein Schauer über seinen Rücken, der sein rasendes Herz mit in die Tiefe zog. Wenn sie eine ganze Stadt stilllegen konnten, konnte es gar kein Entkommen für ihn geben. Er spielte ein Katz-und-Maus-Spiel, das er zu verlieren verdammt war, seit er in seiner panischen Kurzschlussreaktion so unerwartet in die Rolle der Maus geschlüpft war.

Wem machte er etwas vor, wenn er versuchte, vor den Königen einer Metropole davonzulaufen?

Schwindelig von seiner Erkenntnis wollte Jeongguk inmitten der Kreuzung einen Halt einlegen, auch weil seine Lungenflügel sich anfühlten, als hätte jemand Benzin seinen Rachen heruntergekippt und sie in Brand gesetzt, doch der Junge zog nur noch auffordernder an seiner Hand, die er sich beim Klettern über die Abzäunung grässlich tief aufgerissen hatte.

Seine eigene war mit Jeongguks Blut beschmiert; es quoll in einer äußerst philosophischen, geradezu poetischen Allegorie zwischen seinen Fingern hervor, die Jeongguks mit eiserner Bestimmtheit festhielten.

Atemlos schüttelte er den Kopf. „D-die werden uns abfangen", presste er hervor und würgte mühselig die Magensäure herunter, die seinen Brustkorb eine Unmöglichkeit verengte. „Wir s-sollten... umdrehen... fuck, ich hab Seitenstechen... irgendwo anders h-hin, wo sie nicht folgen k-können..."

Der Junge blinzelte ihn ausdruckslos an, und Jeongguk Herz rutschte abrupt in die Tiefe, als er realisierte, dass er vielleicht nicht der goldene Retter war, der ihn aus der Bredouille bugsiert hatte, sondern womöglich nur ein ahnungsloser Zivilist, der zur falschen Zeit den falschen Ort frequentiert hatte. „Du... sprichst du japanisch?", hakte er nach, zweifelnd, seine Augen jeden Zentimeter seines verschleierten Gesichts nach Antworten auf all die Fragen absuchend, die gerade durch seinen vollgestopften Kopf rasten.

Er war doch nicht gerettet. Er war nur irgendeinem unglücklichen Kerl in die Arme gelaufen, der vermutlich von den schießwütigen Clan-Leadern aufgeschreckt worden war und es aus irgendeinem Grund für vertretbar befand, sein eigenes Leben gegen das eines stupiden, unbeholfenen Feiglings aufzuwerten.

In der Ferne hörte er Autoreifen quietschen und obgleich ihn das Geräusch in einer Millionenmetropole wie Tokyo normalerweise nicht behelligt hätte, trieb es ihm jetzt, mutterseelenallein in der Geisterstadt, wellenartige, schwindelerregende Schauer über den Rücken. Er verrenkte sich beinahe den Hals, als er panisch die Straße nach den herannahenden Luxuswägen absuchte—und dann noch einmal, weil er bei der unerwarteten Antwort des Jungen heftig zusammenfuhr.

Und weil er kein Japanisch sprach.

Es musste eine verwandte Sprache sein, Koreanisch kam seiner beschränkten Expertise am nächsten, und er bediente sich so ruhig an ihr, als hätten sie gerade nicht gut eineinhalb Kilometer in einem selbstmörderischen Sprint zurückgelegt, der Jeongguks Eingeweide in seinem flauen Bauch neu arrangiert hatte.

Seine Stimme klang überraschend hell und weich, wie eine Saite in einem perfekt gestimmten Instrument, und Jeongguk fragte sich mit wachsendem Entsetzen, wie alt der Junge—das Kind—war, der wie aus dem Nichts erschienen war, als die Fürsten der Unterwelt Tokyo usurpiert hatten.

„T-tut mir Leid", beeilte Jeongguk sich ungeschickt dazwischenzufahren. „Ich versteh wirklich k-kein Wort von dem, was du mir sagen w-willst."

Der Junge hielt inne und Jeongguk glaubte, Überraschung in seinen geweiteten, Schläfrigkeit anmutenden Augen aufblitzen gesehen zu haben. Die schwarze Mund-Nasen-Maske schlug Falten und er richtete sie ungeduldig mit zwei Fingern, bevor er hinter sich auf den Eingang zur unterirdischen Asakusa Station deutete.

Jeongguk öffnete den staubtrockenen Mund, in dem seine Zunge nutzlos seiner Luftröhre im Weg lag, doch bevor er sich einen fundierten Grund abkrächzen hätte können, warum er eben nicht mit Fremden eine Hetzjagd ins Ungewisse bestreiten wollte, hob der Junge eine einzige Hand und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger wortlos in die Höhe.

In Retrospektive war Jeongguk beeindruckt davon, wie schnell sein nach Sauerstoff ringender Verstand begriff.

Er war doch nicht der ahnungslose, zufällig vorbeigestreunerte Zivilist, den Jeongguk in ihm befürchtet hatte. Er hatte sie bis zur Asakusa Station geführt, weil das oberirdische Tokyo mit engmaschig angelegten, hochgradig auflösenden Webcams durchdrungen war. Die ganze Welt konnte auf die schwenkbaren Kamerakörper zugreifen und, Jeongguk spürte eine Gänsehaut über seinen Körper kriechen, das bedeutete, dass auch die Clans, denen er vor nicht einmal zehn Minuten die wahrscheinlich größte Schmach beschert hatte, ihn jederzeit ins Visier nehmen konnten. Die frei zugängliche Datenbank der Tokyoter Sicherheitskameras hätte ihn für vogelfrei erklärt. Er könnte hinrennen, wohin er wollte, Asakusa lag tief im Herzen von Tokyo und ringsum türmten sich geradezu die geschäftigen Hotspots für Touristen auf—vor den omnipräsenten Hightech-Linsen könnte er niemals zu Fuß Reißaus nehmen.

Jeongguk warf einen letzten, hektischen Blick die leergefegte Kaminarimon-Dori Avenue herunter, ehe er wie zur Kapitulation vor seinen Zweifeln nickte und neben dem Jungen eilig die Stufen herunter zur U-Bahn hastete.

Das Metro-System in Italien konnte mit seinem japanischen Äquivalent nicht mithalten. Jeongguk, der in den letzten acht Wochen prinzipiell nur dann die Danchi verlassen hatte, um den benachbarten Gemischtwarenladen aufzusuchen, schwirrte der Kopf, während der Junge ihn die vielen identischen Abzweigungen entlang zog, vorbei an den übergroßen Tafeln, die die zahllosen, farbigen U-Bahn-Linien aufführten, die ganz Tokyo wie eine weitläufige und komplexe Ameisenfarm miteinander verzweigte. Er fühlte sich wie eine Laborratte, die kopflos durch einen ausgestorbenen, bedrückend grauen Schacht rannte. Jeongguk hatte schon beim Sichten der Ticket-Kontrollen vergessen, ob sie der Weganweisung zu einer privaten JR-Linie oder der Tokyoter Metro gefolgt waren. Er gelangte zu der unzeremoniellen Erkenntnis, dass es ihn nicht störte.

Solange er irgendeinen Zug und Treppenaufgang nähme, wo ihm am Ende kein verfickter Kugellauf an die Schläfe gehalten wurde, würde er in jede Bahn einsteigen.

Hinter den geschlossenen Schranken meinte er, das leise Geplänkel eines geordneten, geschäftigen Tages zu vernehmen. Und oh, Jeongguk glaubte, noch nie so erleichtert darüber gewesen zu sein, mitten in die morgendliche Rush Hour zu platzen, in der die Gleise vor sittsam aufgestellten Menschenschlangen unbegehbar wurden und jede Ordnung in den Wind geschossen wurde, wenn man sich mit roher Gewalt in die Waggons zwängen musste. Es hatte etwas ungemein Tröstendes, Normalität einkehren zu wissen—und zugleich beunruhigte es ihn, dass die Yakuza ein ganzes U-Bahn-Netz aus dem Verkehr ziehen konnte, nur um... was genau zu tun? Einen zwielichtigen Paten-Konvent aufzuziehen?

Der Junge drehte sich zu ihm um und zu seiner unbändigen Überraschung reichte er ihm vor den Ticket-Kontrollen eine Suica-Card, diejenigen aufladbaren und deswegen unerschwinglichen Bahntickets, die er unbeholfen über den Sensor ziehen musste, bis dieser aufleuchtete und er linkisch dem Jungen nacheilte. „D-danke", presste er verdattert hervor, und er glaubte, dass sich die Fältchen unterhalb der Augen des Jungen nur vertieften, weil er ihm unter seiner Maske still zulächelte.

Er schien entgegen Jeongguks Erwartung tatsächlich so etwas wie einen Plan zu verfolgen, denn die Entschlossenheit, mit der er ihre blutigen Hände zusammenhielt, lockerte um keine noch so merkliche Winzigkeit, die Unsicherheit oder Zaudern zugelassen hätte. Zielsicher steuerte er die erstbeste Bahn an, die an ihrem Gleis hielt, als hätte er mit dem Schicksal um Pünktlichkeit gefeilscht, und zog Jeongguk einfach mit sich in einen der leereren Wägen am Ende des Gleises, in dem sie nicht so dicht beieinander stehend wie Sardinen um ihr Gleichgewicht kämpfen mussten. Jeongguk trat atemlos in den Waggon und fragte sich, während die eingängige Melodie der Bahn, die auf das Schließen der Türen hindudelte, in seinem Rücken spielte, ob er völlig geistesgestört sein musste, einem Fremden brav wie ein Welpe hinterherzulaufen.

Aber dieser Fremde hat dir deinen Arsch gerettet, warf sein Unterbewusstsein vorwurfsvoll ein, während Jeongguk sich erschöpft an die Tür lehnte und der Junge es ihm gegenüber von ihm gleichtat. Ohne ihn hättest du es niemals vom Tempelgelände geschafft, und dann... was dann?

Angestrengt bohrte Jeongguk die Zähne in die Unterlippe, doch ihm wollte nicht gelingen, sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn er den Oyabuns nicht in letzter Sekunde noch entronnen wäre; was mit Keita geschehen würde.

Die Glasscheibe an seinem Hinterkopf vibrierte, als der Regionalzug, wie Jeongguk jetzt an der Anzeige über dem Kopf des Jungen erkannte, sich in Bewegung setzte, tiefer in den Stadtkern die beliebte Ginza-Route einschlagend. Außer ihnen saßen vereinzelte Geschäftsmänner und Schulkinder auf den gegenüberliegenden Sitzbänken, doch Jeongguk käme sich unheimlich prätentiös dabei vor, nach seinem in jeder Hinsicht turbulenten Morgen den nichts außer Ruhe zu bringenden Normalbürger vorzugaukeln. Tief atmete er aus, und versuchte auszublenden, dass der schwere, lange Blick des Jungen dabei die ganze Zeit auf seinem Gesicht weilte.

Er hatte sich den Schnitt in seiner Handinnenfläche gerade erst richtig angeschaut—angewidert von dem getrockneten Blut, das seine Haut bis zu den Fingerspitzen in roten Wölkchen unförmig besudelte—aber der Junge schien seinem Blick gefolgt zu sein, denn er reichte ihm über die Breite des Waggons hinweg ein einzelnes, weißes Einwegtaschentuch.

„Danke", entkam es Jeongguk zum wiederholten Mal heute Morgen formlos. Zaghaft zerknüllte er das Papier in seiner Faust, dann schaute er zögerlich zu dem Jungen.

„G-gehörst du auch zu ihnen?", fragte er zurückhaltend, und entlockte zu seinem Überraschen seinem Gegenüber damit ein ungläubiges Lachen, das er gedämpft in seiner Maske erstickte.

Jeongguk blinzelte perplex. In erster Linie hatte er nicht erwartet, aus seiner inhärenten Wortkargheit überhaupt eine Antwort hervorlocken zu können—oder etwas Lustiges geäußert zu haben.

„Zu der Yakuza?", wiederholte der Junge sogar unter seiner Maske hörbar grinsend, und Jeongguk hielt vor Verdatterung über den perfekten Edo-Dialekt in seiner weichen Stimme inne. Er schüttelte wie zu sich selbst den Kopf. Die vorwurfsvollen Blicke, die zwei ältere Herren ihm zuwarfen, prallten einfach an seiner schwarzen Verschleierung ab. „Wohl kaum, oder? Dich mit mir mitzuschleifen käme mir in diesem hypothetischsten aller Fälle dann doch sehr unsinnig vor."

Irritiert blinzelte Jeongguk. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit... ironischem Schalk?

„Entschuldigung, dass ich nicht drei Meilen gegen den Wind wittern kann, dass du von bedingungsloser Selbstlosigkeit getrieben wirst?", brach es perplex aus ihm heraus.

„Nein, offensichtlich nicht, sonst wärst du ja auch nicht dem personifizierten Unheil geradewegs in die Arme gerannt", kommentierte der Junge trocken, und Jeongguk war erleichtert, dass er trotz der Hitzewelle, die schlagartig Besitz von seinen Wangen ergriff, nachdenklich fortfuhr. „Du siehst viel jünger aus, als ich erwartet hatte. Vielleicht fällt es mir deswegen schwer zu glauben, dass du dich auf diese Leute eingelassen hättest."

Verblüfft öffnete und schloss Jeongguk den Mund—vorrangig, weil der Junge keine Vorwürfe in seine Erklärung einräumte, sondern seine stille, wertfreie Beobachtung als solche stehen ließ. Als wollte er ihn einfach an seinen Gedanken teilhaben lassen und wirkte er nicht einmal sonderlich verärgert darüber, Jeongguk aus jeder Nische von Unbedarftheit rausgezogen zu haben, und genau das fühlte sich eigenartig an; als wäre seine Hilfsbereitschaft in erster Linie nie an irgendwelche Prinzipien gebunden gewesen.

Er blinzelte und sein Blick zuckte über Jeongguks Kopf hinweg zur Anzeigetafel. „Hier müssen wir raus", verkündete er höchst unzeremoniell, sodass Jeongguk nicht anders konnte als verstört den Mund aufzuklappen.

„Schon?", hakte er nach und bemerkte dabei, dass sich die Unruhen des Morgens noch nicht in seinen Knochen gesetzt hatten. Ihre Echos vibrierten bis in seine zittrigen Fingerspitzen und er fühlte sich noch genauso benommen wie vorher, während er ungeduldig wartete, bis die Schleusen des bremsenden Zugs sich öffneten. Sie befanden sich für seinen Geschmack noch zu nah am südlichen Zipfel von Asakusa, bis hierher—Ueno-okachimachi, wie er las—könnte ein Auto sie oberirdisch locker einholen.

Unbehaglich überstieg er den gelben Blindenweg und atmete die mit Graphitstaub vermengte, muffige Luft ein, die ihnen ein vorbeirauschender Zug auf der anderen Seite des Gleisbetts entgegenschleuderte. „Sollten wir nicht vielleicht weiter...?", schlug er verunsichert vor, während sein Begleiter an ihm vorbei ins Getümmel des Gleisabschnitts zog. Obwohl er eine nicht unerhebliche Handbreit kleiner als Jeongguk war, hatte Jeongguk Mühe, mit seiner Zielstrebigkeit Schritt zu halten. Hastig nahm er die Beine in die Hand, um seine unauffällig gekleidete Gestalt zwischen den gleichgeschalteten, tristen Figuren des japanischen Arbeitstages nicht aus den Augen zu verlieren.

Er bestieg die überfüllte Rolltreppe und Jeongguk beeilte sich, um sich hektisch noch hinter ihm auf der Stufe einzureihen.

„Wir steigen um", erklärte er so selbstverständlich, als hätte vorrangig nie Bedarf für eine Erklärung seiner willkürlichen Entscheidungen bestanden. Jeongguk fühlte sich merkwürdig vor den Kopf gestoßen, als er zusah, wie der Junge die Kapuze von seinem blondierten Schopf nahm und den Mundschutz kurzerhand unter sein Kinn zog. Er drehte sich zu ihm um, ein überraschend schiefes Lächeln auf einem unvorstellbar plumpen, rosigen Lippenpaar. „Du stellst unerträglich viele Fragen, hat dir das jemand schonmal gesagt?"

Unterhalb seiner geraden, flach zulaufenden Nase bildeten sich feine Lachfalten, als er seinen Mund zu einem breiten Ausdruck der Belustigung verzog, der nicht zu der Düsterheit dieser Grundsituation passen wollte.

Nein, korrigierte Jeongguk sich, er war es, der hier nicht reinpasste: seine anmutige, gänzlich diametral zueinander verlaufende Gesichtsstruktur schien sich untereinander gleichermaßen zu bekriegen wie zu komplettieren. Mit den weichen, vollen Wangen und der harten Kieferlinie, den schläfrig-schönen Augen und den markanten, geraden Brauen, gehörte seine Büste vielmehr in ein römisches oder griechisches Museum der Antike als in einen muffigen U-Bahn-Schacht, wo seine bezeichnende Dualität hoffnungslos im schwarzen Einheitsstrom unterging.

Sein Herz krampfte sich unwillkürlich zu einem verkümmerten Ball voller Wehmut zusammen.

„Mein Freund-", begann Jeongguk schwach, doch der Junge fuhr ihm mit einem bestimmten Kopfschütteln über den Mund.

„Nicht hier", entgegnete er, und es verstörte Jeongguk, dass fast so etwas wie Bedauern seine Stimme durchwirkte; dass er klang, als wollte er ihn vertrösten. „Nicht jetzt. Später. Wir müssen die Yamanote Line nach Akihabara erwischen, sonst verpassen sie uns."

Sie?", fragte Jeongguk verwirrt nach, und scherte sich in diesem Augenblick keinen Deut darum, direkt in die Argumentation des Jungen zu tappen.

Zur Hölle mit dem Welpenschutz, er verdiente endlich Antworten von diesem ominösen Möchtegern-Blondie.

Geschmeidig schlängelte er sich an schwerbepackten Touristen vorbei, denn offensichtlich machte sich sein stiller Führer durch Tokyos Unterwelt einen regelrechten Spaß daraus, wie schnell er ihn abhängen konnte. „Jetzt bleib stehen und hör mal zu, mich könnte wirklich, wirklich nicht weniger interessieren, wer auf wen in Akihabara wartet", keuchte er, sobald er den Jungen auf der nächsten Rolltreppe eingeholt hatte. „Ich muss in die entgegengesetzte Richtung, nach Shinjuku. Es ist ja ganz nett von dir, mich aufgegabelt zu haben, ich rechne dir das echt an so als holder Möchtegern-Retter, aber ich fürchte, dass sich unsere Wege fortan trennen müssen."

Der Blonde trat in den nächsten Zug und drehte sich an der Haltestange angelehnt wieder zu ihm um.

Wow, redest du viel", seufzte der Junge tief auf und ließ es dabei mühelos so klingen, als bedauerte er Jeongguk für diesen Umstand mehr als sich selbst. Irritiert blinzelnd hielt Jeongguk inne, und der Junge schloss ernüchtert an seine Feststellung an: „Vielleicht liegt es an mir, weil ich seit vier Tagen keiner Menschenseele mehr begegnet bin, aber gerade bereitest du mir wirklich chronischen Kopfschmerz. Ernsthaft jetzt. Wir reden später über alles. Du kannst dich den ganzen Weg bis nach Akihabara darüber exaltieren, aber wenn wir deswegen zurückfallen, stecken wir beide in noch größeren Schwierigkeiten, als du sie ohnehin schon angezogen hast. Steig schon ein", schloss er im sanftesten Befehlston, den Jeongguk je gehört hatte.

Seine durchfrorenen, klammen Beine kapitulierten schlagartig vor der Wärme, die er in dieser kruden, ehrlichen Form nur selten zu spüren bekommen hatte. Vielleicht war es sein inhärenter Bedarf nach Befehlen, der anschlug, vielleicht seine noch archaischere Lebensmüdigkeit, die heute Morgen das höchste Hoch erfahren hatte, seit das Vermächtnis seiner Tante über ihnen wie ein Kartenhaus zusammengebrochen war. Ehe er die wertvollen Informationen, die der Junge ihm so beiläufig seufzend geliefert hatte, verarbeiten konnte, war er bereits in den Waggon der haltenden Bahn eingestiegen und hatte er sich dicht zu den Menschen eingereiht, die in beispiellos japanischer Manier die Kapazität des Wagens auf die Probe stellten. Der Junge schoss ihm im Schatten seines Arms, mit dem Jeongguk sich haltsuchend an dem Handlauf festkrallte, ein Lächeln zu.

„Ob ich auch zu ihnen gehöre", wiederholte er unter seinem Atem belustigt und drehte den Kopf, um zur Anzeigetafel aufzuschauen. Aus der unmittelbaren Nähe konnte Jeongguk sich versichern, dass er trotz der mühelosen Unvergleichlichkeit, mit der er die Blondierung trug, keine wahrhaftige Blondine war: sein pechschwarzer Naturansatz war bereits beträchtlich ausgewachsen und ließ die Aufhellung dort, wo die konträren Farben hart aufeinandertrafen, fahl, spröde und glanzlos aussehen. „Urkomisch", grinste er schief und leise. „Taehyung wird sich bepissen, wenn ich ihm davon erzähle."

Eine Myriade an Fragen durchrauschte Jeongguks Kopf mit einem erschlagenden Anspruch an die Absolutheit ihrer Beantwortung. Er öffnete und schloss seinen Mund mehrfach in naiver hoffnungsgetragener Manier, der Junge würde ihm auch nur irgendeine von ihnen wahrheitsgetreu beantworten, statt ihm geschmeidig auszuweichen, und kam sich dabei vor wie ein nach Sauerstoff schnappender Fisch, der an der Oberfläche zappelte und von Angel zu Angel gereicht wurde. Hart schluckte er und wählte seine Worte mit Bedacht, falls der Junge beschloss, wieder seine selektive Scheue hervorzukehren und sich seinen Fragen zu versiegeln.

„Wie viel hast du von dem Gespräch mitbekommen?"

Er stieß ein vielsagendes Schnaufen aus. „Genug."

Der Zug bog um eine Kurve und Jeongguk umfasste die gelbe Haltstange fester, als er gedrungenerweise einen Schritt vormachte, um seine Balance zu fangen. „Er hat es gewusst", brach es bitter aus ihm hervor; wie eine überreife Frucht, die vor angestauter Fäulnis aufquoll und platzte. „Mein Freund, meine ich. Er hat mich ausgeliefert, wie vereinbart, hieß es."

Der Junge summte nachdenklich, das große, braune Augenmerk konzentriert auf die Anzeigetafel gerichtet, auf der gerade die nächste Haltestelle Akihabara in Kanji aufflackerte. „Es wäre um das erwartete Interesse der Clans an dir auch äußerst schlecht bestellt, wenn sie keine Abmachung dergleichen geschlossen hätten", schloss er mit einem abgeklärten Seufzer, der Jeongguk äußerst behelligt zurückließ. Der Blick des Fremden streckte ihn mit einer durchleuchtenden Präzision nieder, und er legte minimal, fast unschuldig den Kopf zur Seite. „Dein kleiner Freund trägt daran höchstwahrscheinlich genauso wenig Schuld wie du; wenn nicht sogar weniger. Immerhin bist du ihnen aus freien Stücken heraus zugelaufen, etwa wie ein streunender, verwaister Hund, und nicht weil er dich dazu gedrungen hat, richtig?"

Sprachlos starrte Jeongguk den Jungen an und versuchte dabei zu unterdrücken, was so hämisch in ihm hochkam: ein Widerhall aus seinem Inneren, der ihm dieselben Worte entgegenschleuderte. Es wollte ihm nicht gelingen. Die Augen des Jungen wirkten wie die wiederspiegelnden Oberflächen von vereisten Seen, die ihm sein Spiegelbild mit eisglatt polierter Unverfälschtheit darin, wie es war, ihn selbst zu erfahren, vorhielten. Er hätte darüber in Gelächter ausbrechen können: ein Fremder, der ihn seit einer halben Stunde kannte, hatte ihn, den ignoranten, ewigen Ankläger, mit einer beneidenswert tödlichen Genauigkeit durchschaut, als läge er unter der Linse seines Mikroskops.

Seine Brauen waren eine Winzigkeit in die Höhe gezuckt, ganz so als wollte ihn der Junge subtil daran erinnern (oder dafür bedauern), vor seinen eigenen Entscheidungen nicht davonlaufen zu können.

Jeongguk presste die Lippen aufeinander. „Ich wusste ja nicht, wie sie sind", stritt er mit einer Lahmarschigkeit ab, von der er wusste, wie ineffizient sie ihn als ins Chaos unglücklich hineingeratenes Unschuldslamm zeichnete.

„Schieben wir jetzt anderen die Schuld für unsere eigenen Vergehen zu? Oh, nein, versuch nicht, auch noch mir anzulasten, ich hätte dich mit mir mitgeschleift." Der Junge lachte unbelustigt auf, als er vorsichtig und dennoch bestimmt nach seiner unverletzten Hand griff, um ihn hinter sich aus dem haltenden Waggon zu schleifen. Die Menschen bildeten eine Schneise für sie und Jeongguk wurde mit sinkendem Herzen gewahr, dass sie ihr Gespräch vermutlich mitangehört hatten.

„Ganz freiwillig war es nicht", murmelte er in einem letzten Kraftakt seines Trotzes.

Kopfschüttelnd zog der Junge ihn mit sich zur Rolltreppe. „Heilige Scheiße", stieß er seufzend hervor, „nein, du drehst mir die Worte im Mund um, du musstest flüchten, weil dir gar keine andere Wahl blieb, wenn du nicht den Knilchen ausgeliefert werden wolltest. Ich hab dich allerdings an keinem Zeitpunkt dazu gezwungen, mir zu folgen, oder? Du hättest dich jederzeit dagegen entscheiden können, aber du bist bei mir geblieben, was... die singulär klügste Entscheidung war, die du seit Langem getroffen hast. Die nehme ich ab jetzt an mich."

Jeongguk hatte so verdattert zu dem Jungen aufgesehen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wann dieser so schleichend die Visitenkarte des Oyabuns aus dem unerbittlichen Klammergriff seiner steifen Finger gelöst hatte. Er blinzelte ihn eine Stufe über ihm trotz der Verärgerung in seiner Stimme sanftmütig an, und steckte das Papier kurzerhand in seine Hosentasche. „Sie ist bei mir sowieso besser aufgehoben als bei dir. Und jetzt halt für fünf Minuten bitte einfach den Rand, ich will mich hören, wenn ich darüber nachdenke, wie ich deinen unbedarften Arsch hier rausbugsiere."

Akihabara hielt als einer von fünf tragenden Dreh- und Angelpunkten im Bahnnetz der Hauptstadt einen führenden Posten inne. Jeongguk fühlte sich vom verschachtelten Weg durch den unterirdischen Bahnhof erschlagen. Er frequentierte äußerst selten in diesem Bezirk Tokyos, sodass es ihm davor graute, an die Oberfläche zu treten, die mit einer unmenschlich hohen Dichte an Leuchtreklamen versetzt war. Und wo hochrangig ausgeklügelte Technik florierte, waren Augenpaare nie ferner als bis zur nächsten Verkehrskamera.

In gewisser Weise bildete Akihabara das Shinjuku von Taito, denn da keine Neonröhren feierwütige Urlauber anlockten, kompensierte dafür der sprießende Elektronikhandel das touristische Potenzial hier. Früher hatte seine Mutter ihn oftmals an seinen Geburtstagen ins mechanische Herz der Hauptstadt ausgeführt, um seine Videospiel-Sammlung aufzustocken und mit den neuesten Marktschlagern zu versehen. Sein Körper hatte beim siebten Zusammenstoß mit einer vernichtend grellen Werbetafel irgendeiner Skin Care-Brand bereits den visuellen Shutdown eingeleitet, da führte der zielstrebige Fremde ihn endlich durch die Ticket-Kontrolle und eine Treppe hinauf, die Jeongguk ihm atemlos nachsetzte.

Sie gelangten nicht wie erwartet auf den Vorplatz des beliebten Drehkreuzes in Tokyos Osten. Die Sonne schien mindestens genauso hell über den Gebäudespitzen wie die Werbetafeln an ihren ausufernden, hochmodernen Fassaden. Der grüne Morgenschleier, unter dem sie zur U-Bahn-Station gejagt waren, war von einem wolkenlosen Himmelblau aufgebrochen worden, der Jeongguk an einen unbekümmerten Nachmittag in Kampanien erinnerte, und oh, wie sehr vermisste er seine Sorglosigkeit jetzt, wie viel würde er dafür geben, es seinen Eltern gleichtun zu können und in der gleichen weltfremden Gewissheit aufzugehen, irgendetwas würde sich ändern, irgendjemand würde kommen, um sie aus ihrer Misere zu retten.

Stattdessen hatte er mit seiner Naivität im dem richtigen Leben geglänzt, viel zu hoch gesetzt—und haushoch verloren.

Blind vor Arglosigkeit und Nervosität stolperte Jeongguk dem Jungen hinterher, der sie mit schnellen, sicheren Schritten aus der Fußgängerzone lotste und auf einen der unmenschlich kleinen, eckigen Parkplätze, die willkürlich zwischen zwei Hochhausriesen eingeschoben maximal sechs Wägen beherbergen konnten. Sein Herz wurde schwer in seiner Brust, als er auf dem in der Sonne aufgequollenen, geplatztem Asphalt zwei Gestalten erkannte, die mit verschränkten Armen an Motorrädern lehnten.

„Wurde auch Zeit", schnaubte einer von ihnen mit verdrießlich hochgezogener Oberlippe, den Fuß lässig unter den Bügel seines Rads geklemmt. Jeongguk blieb schlagartig stehen, als sich etwas in seinem ausgenüchterten, dehydrierten Hirn absetzte.

Du", entkam es ihm atemlos, und der dreiste Junge mit den struppeligen, wirren Haaren aus dem Treppenhaus schoss einen unbeeindruckten Blick auf ihn ab. Jeongguk japste empört. „Du bist doch das Arschloch von der Party!"

Ich bin das Arschloch?", höhnte der Mistkerl mit humorlos hochgezogenen Mundwinkeln. Zu Jeongguks größtem Verdruss ließ sein Reiseleiter durch die Unterwelt seine Hand los und kam neben dem schwarzhaarigen Jungen zum Stehen, ein überraschter, wenn auch neugieriger Glanz in seinen Augen. Sein größerer Kumpane schnaubte verächtlich und beäugte ihn kritisch, wie ein neulich entdecktes Insekt, dem man sich zu entledigen hatte, sobald man herausgefunden hatte, wie es funktionierte. „Für ungerechtfertigte Schuldzuweisungen geht es dir anscheinend wieder gut genug."

„Taehyung", hob der Typ mit dem kahlgeschorenen Schopf an seiner anderen Seite an, doch Taehyung fuhr ihm verärgert über den Mund.

„Ich hab euch erzählt, was für ein Miststück Jeon Junghyun ist, ihr wolltet es mir ja nicht glauben." Verdrossen richtete er den Revers seiner abgetragenen Lederjacke und schien nicht zu bemerken, wie sehr Jeongguk mit jedem weiteren verächtlich ausgespieenen Wort auf der Stelle in sich zusammenschrumpfte. „Jetzt habt ihr euch diesen unbezahlten Babysitting-Job an Land gezogen, ich war ja von Anfang an der Meinung, dass das alles eine durchweg beschissene Idee ist."

„Ähm", machte Jeongguk mit sinkendem Herzen kleinlaut aus dem Hintergrund. „Entschuldigung-"

„Sei nicht so gemein", unterbrach ihn Blondie kopfschüttelnd. „Wärst du an seiner Stelle gewesen, hättest du auch Hilfe gewollt."

„Äh, also eigentlich-"

Wenn dann nur vor mir selbst."

„Hey!", fuhr Jeongguk mit Nachdruck dazwischen, bis die Streithähne ihre Blicke teils abwartend (Blondie) teils genervt (Lockenkopf) auf ihn richteten. Hart schluckte er gegen den aufgekrochenen Klos in seinem Hals an. „Ich, uh, ich bin eigentlich gar nicht... Junghyun. Äh." Er geriet beim stechenden Blick des Größten, der sich bisher bedeckt im Hintergrund gehalten hatte, ins Stammeln. „Er ist mein... mein Cousin, ähm, ich heiße... Jeongguk..."

Über dem Parkplatz hielt mit einem Mal eine tödliche Stille Einzug, in der ungezügelte Fragen mit der Schlagkraft von saftigen Kinnhaken durch Jeongguks Kopf zu geistern begannen. Unwohl vertrat er sich unter den brennenden, entgeisterten Mienen der Fremden die Füße. Würden sie ihn jetzt verstoßen, weil er nicht das war, wonach sie gesucht hatten? Müsste er auf eigene Faust und vor allem unbeschadet zurück den Weg nach Toyama finden? Nervös warf Jeongguk einen Blick über seine Schulter zur Straße, an der gerade ein älterer Mann einen aufgetakelten Pomeranian Gassi führte.

Schließlich zuckte Blondie die Schultern und hob in einer unschuldigen Manier beide Hände in die Höhe. „Ich hab nur ausgeführt, was man mir aufgetragen hat", verteidigte er sich ruhig. „Und das lautete darauf, den Jeon-Burschen aufzulesen. Theoretisch kannst du mir also keine Schuld zuweisen."

„Wo hält sich dein Cousin auf? In Japan?", hakte der kurzhaarige Kerl mit einer vernichtenden Strenge nach, und Jeongguk schüttelte verstört den Kopf.

„N-nein, er ist... nicht im Lande", schloss er lahm. Junghyun wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, aber er würde ihn sicherlich nicht preisgeben, wenn er hier offensichtlich gesucht wurde. Nervös biss er auf seiner Unterlippe herum.

„Dann macht es doch auch gar keinen Unterschied. Namjoon." Der Blonde taxierte seinen Anführer, wie Jeongguk still vermutete, mit einem bedeutungsschweren, auffordernden Blick. „Die Clans haben's auf ihn abgesehen, ich hab's mit eigenen Augen gesehen, und Taehyung auch. Sie sind schon so tief gesunken und haben ihn auf einer Studentenverbindungsfeier abgefangen. Wenn wir ihn zurücklassen, fällt er ihnen schneller in die Hände, als wir uns neu formieren können, und das könntest du auch dann nicht mit dir selbst vereinbaren, wenn du so tust als ob."

Namjoon schien nicht sonderlich hingerissen von der Vorstellung, Jeongguk trotz der hartnäckigen Überzeugungsarbeit des Blonden aufzulesen, und Jeongguk bekam es mit einer grässlichen Angst zu tun, die sich über ihm entlud wie eine eiskalte Welle aus winzig kleinen, feinen Nadeln. Er hielt seine muskelbepackten Arme wie zum Ausdruck seiner prinzipiellen Festgefahrenheit weiterhin vor der Brust verschränkt und beäugte ihn aus kritisch verengten, scharf zulaufenden Augen, die Jeongguk unwillkürlich an die eines Drachen erinnerten, wie sie auf Goldfächern häufig abgepinselt wurden. Dann atmete er aus, entnervt, und fuhr mit einer großen Hand über seinen geschorenen, dunklen Schopf hinweg. „Schön", knurrte er hinter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Er darf trotzdem mitkommen. Taehyung, du steigst bei Jimin auf."

Jimin. Jeongguks Kopf schwirrte. Der Name passte zu dem blonden Jungen, der Jeongguk ein in jeder Hinsicht triumphales Halblächeln zuwarf, das zwischen den grimmigen Mienen seiner Begleiter völlig deplatziert wirkte. Jeongguk fühlte seine Mundhöhle austrocknen, während er steif zusah, wie Jimin aufs Motorrad stieg und es in geübter Routine von seinem Ständer schob.

Er rührte sich nicht vom Fleck, als er zu begreifen meinte. „Nein", entkam es ihm in einem atemlosen Schwall von Panik. „Ihr... was auch immer ihr von mir wollt, ich hab es nicht und ich bin es nicht, das alles hier muss ein ganz großes, verficktes Missverständnis sein, ehrlich jetzt-"

„Halt die Klappe", schnaubte Namjoon mit einer unverschämten Ungeduld, die Jeongguk tatsächlich die Sprache verschlug. „Wie sehr du für uns von Bedeutung bist, entscheiden immer noch wir. Du kannst meinetwegen auch auf eigene Faust Tokyo nach einer Route durchkämmen, auf der die Yakuza-Bastarde dir nicht auf die Schliche kommen werden. Aber mit unserer Hilfe geht das schneller. Wir haben nicht viel Zeit, deswegen sollten wir so schnell wie möglich von hier weg."

Taehyung warf ihm einen vernichtenden Blick zu, den Jeongguk erst verstand, als er sich entgegen seiner Intuition unbeholfen zu Namjoon hinbewegte.

„Hier." Der Anführer drückte ihm schroff einen Helm in die Hand. „Setz den auf. Du und Taehyung werdet beide einen tragen, damit ihr euch äußerlich angleicht. Ungefähr dieselbe Größe und einen ähnlichen Bau habt ihr ja schon."

„So wie in Harry Potter?", kam es prompt aus Jeongguk heraus. Taehyung verdrehte die Augen und Namjoon verengte sie in schwacher Irritation, nur Jimin schoss ein belustigtes, allerdings nicht weniger ahnungsloses Lächeln auf ihn ab. Jeongguk beeilte sich, fortzufahren. „Harry Potter, darin verwandeln sich auch ein paar, um wie Harry auszusehen, weil er, äh, eben gejagt wird... ist eigentlich auch egal", schloss er mit roten Wangen und setzte sich linkisch den Helm auf.

Er hörte Taehyung dumpf hinter den dämmenden Carbonfasern aufstöhnen. „Wenn ich seinetwegen draufgehe, bringe ich ihn nachträglich um", murrte der lockige Junge, und Jimin lachte, als sein Freund mit einer Lässigkeit, die Routine anmuten ließ, hinter ihm aufsetzte.

Dass er lieber mit Jimin gefahren wäre als mit dem eisern dreinschauenden Namjoon, eröffnete sich Jeongguk bereits dann, als er zaghaft den Platz auf der äußersten, steil zulaufenden Polsterung des Sitzes einnahm, der bereits abgewinkelt in die Beleuchtungsanlage abflachte. Namjoon bedeutete ihm ungeduldig, näher zu rücken, und Jeongguk beneidete Taehyung nicht unerheblich dafür, wie vertraut er im Umgang mit Jimin wirkte, dem er beide Arme wie einem rettenden Anker in tosender See umgelegt hatte, das Kinn auf der Schulter des Blonden abgestützt, der den Zündschlüssel drehte und den Motor unnötig laut heulen ließ.

Er war noch nie Motorrad gefahren, geschweige denn hatte er einer solchen Maschine wie Namjoon sie fuhr—pechschwarz mit dunkelblauer Lampenmaske der Marke Yamaha—als Mitfahrer aufgesessen, und ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, gleich beim ersten Mal im wahrsten Sinne des Wortes die Kurve zu kratzen. „Äh, kannst du mich vielleicht in Toyama rauslassen?", fragte er Namjoon zaghaft, während dieser ruppig seine Arme repositionierte und ihn brüsk näher an sich zog. Jeongguk spürte, wie die Hitze schmerzhaft schnell in seinen Kopf schoss. Unwohl hüstelte er. „O-oder noch vorher in Bunkyō irgendwo? Von da aus... finde ich auch allein nach Hause. Hallo?", fügte er etwas lauter hinzu, weil er befürchtete, der Helm würde seine Stimme verschlucken, und Namjoon ließ grollend den Kopf hängen.

„Ich hab dich gehört, Jeon-Junge, klar und deutlich, und die Antwort lautet nein. Du kommst mit uns nach Nagareyama."

„Nagareyama?", platzte es verwirrt aus Jeongguk heraus. Er verfestigte seinen klammerartigen Griff um Namjoon, als dieser hinter Jimin und Taehyung auf die Straße zurollte. „Und was will ich bitte da?"

„Du wahrscheinlich nichts. Aber wir wollen dich gerne etwas näher kennenlernen. Jimin!", brüllte er über den Lärm seiner Höllenmaschine hinweg. „Wir sehen uns in spätestens zwei Stunden! Pass auf den nördlichen Expressways auf, ich denke, dass sie dort immer noch rumlungern werden."

Jimin gab ihm mit einer Handbewegung zu bedeuten, dass er verstanden hatte, dann betätigte er das Gaspedal und rauschte in einer schwindelig scharfen, dem Erdboden geradezu verführerisch nahekommenden Kurve um die Ecke und geradewegs hinein in den zähen Morgenverkehr.

„Angeber", murmelte Namjoon, und Jeongguk packte eiskaltes Entsetzen bei dem Gedanken, sein Fahrer wolle ihm sogleich ein ähnliches Fahrgeschick beweisen.

Dann allerdings rief er sich mit rasendem Herzschlag in Erinnerung, dass es Namjoon vermutlich nicht weniger egal sein konnte, ob er bei einer tief hineingelegten Kurve unglücklicherweise abfliegen könnte, und er rutschte sicherheitshalber noch eine Winzigkeit näher an den Mann in der jeansfarbenen Pulloverjacke heran.

Er sah Taehyung und Jimin mit einer sinkenden Panik in seiner verengten Brust hinterher, bis das Motorrad sich zwischen den haltenden Autos kunstvoll durchgeschlängelt hatte und aus seinem beschränkten, dreckigen Sichtfeld hinter dem Glasvisier verschwand. Ein leises Japsen entfloh ihm, als Namjoon aus dem Stand in die entgegengesetzte Richtung beschleunigte, ein pechschwarzer, kerzengerader Blitz, der sich schnurstracks eine Schneise zwischen die stockenden, ungeduldigen Wägen bahnte, sodass der Fahrtwind ihm die unter dem Helm muffig gewordene, angsterfüllte Luft abschnitt.

Fest krallte er seine Finger um den Fahrer, der die Leitlinien auf den Straßen eher in typisch italienischer Manier als lose Orientierungsfäden als als verbindliche Verkehrsrichtlinien zu interpretieren schien, und kniff die Augen panisch gegen das in Schlieren verworrene, davonfliegende Akihabara zusammen.

Als sie über die westliche Ryogokubashi-Brücke flogen, glaubte er, dass er bei Namjoon bereits derartig tief in der Gunst ansetzte, dass die höherschaukelnde Übelkeit in seiner Magengrube wahrscheinlich auch nicht mehr eklatant ins Gewicht fiele.

Jeongguk biss seine klappernden Zähne zusammen, hielt die Augen fest geschlossen, und hoffte einfach darauf, bald wieder sicher absteigen zu dürfen.

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author's note

welcome back, jin 💜 time really does fly by 🥹 (ich erinnere mich noch haargenau daran, in einen anhang von six feet under jin in den militärdienst verabschiedet zu haben, aHH)

ich hoffe, hoffe, dass ich bis samstag das neue update schaffe, falls nicht, sehen wir uns in einer woche 🤞🏻

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