EIGHT [ warriors ]
葉隠
〔 hagakure 〕
a practical and spiritual guide for a warrior, which says "the way of the warrior is death"
— 𖤓 —
DAS WOCHENENDE WAR SEINER HAUT nicht gut bekommen—auch weil die Omnipräsenz von einer pazifistischen, dreiköpfigen Möchtegern-Kamikaze auf körperliche Regeneration vernichtend wirken musste. Wütende Pusteln auf seinen aufgedunsenen Wangen hatten ihm die einmalige, leidenschaftliche Liaison mit dem Billig-Sake übel vermerkt und stachen so eklatant auf seinem Gesicht hervor wie höhnische Zeugnisse des gestrigen Tages.
Die empfindlichen Krater spannten über seinen Gesichtszügen, als wuchs er in einer abgrundtief poetischen Schicksalsironie langsam aus seiner Haut heraus; als stünde ihm irgendeine reptilienähnliche Häutung bevor, für die sein verletzliches, fleischliches Innerstes noch nicht gänzlich ausgereift war.
Oder als zeigte ihm sein Körper in höchst spöttischer Ironie auf, in wie vielen Nischen seiner Existenz es keinen Platz für Junghyun gab, weil er nicht mehr als eine schlechte Kopie seiner war—und dass eine Imitation seines in jeder Hinsicht perfekten Cousins von Grund auf zum Scheitern verdammt war.
Offenbar hatten ihn seine Lügen mittlerweile eingeholt, denn Jeongguk fühlte sich, als stolperte er unentwegt über ihre Beine.
Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, die von filigranen, blau-violett durchschimmernden Äderchen durchschlagen waren, und gelinde gesagt genauso beschissen dreinblickten wie die gegenwärtige Situation sich ihm in all ihren unausweichlichen Sackgassen eröffnet hatte. Jeongguk betrachtete sein von den unmittelbaren Ereignissen in Mitleidenschaft gezogenes, vom feinnebligen Wasserdunst verquollenes Spiegelbild einige stille Momente länger. Dann wischte er eine Handbreit über das beschlagene Glas und wandte sich ab.
Aus irgendeinem Grund, der sich Jeongguk nach seiner Falsifizierung jetzt nicht mehr erschloss, hatte er geglaubt, nach einer heißen Dusche seine verworrenen Gedanken ordnen zu können, doch sie schlugen noch immer strukturlos in alle Richtungen aus, die das Treffen mit dem Oyabun der Inagawa-kai nehmen könnte.
Verflucht seien Namjoon und seine augenscheinlich inhärenteste Charaktereigenschaft, nämlich ein Arschloch zu sein.
Er hatte den Leader dieser unförmigen Organisation vor der Feuerstelle angestarrt, als hätte er soeben sein Todesurteil unterschrieben, mit einer schwungvollen, heiteren Schrift, geflossen aus einem Handgelenk, das nicht lockerer das Damoklesschwert über sein Haupt aufhängen hätte können. Namjoon hatte zu seinem Leidwesen diese irritierende Untugend besessen, Jeongguk so ungerührt anzublinzeln, als wäre nicht mehr dabei, dem Oyabun eines der führenden Verbrechersyndikate von Tokyo entgegenzutreten; als läge eine partielle Schuld bei ihm, dafür, den Mann in erster Linie mit seinem Rücktritt verärgert zu haben, und nun müsste er die Konsequenz tragen, aus den Fugen gerutschte Dinge wieder geradezubiegen.
Zuerst hatte er ernsthaft geglaubt, Namjoon hätte ihn nur verschrecken wollen, doch mittlerweile war Jeongguk sich ziemlich sicher, dass der finster dreinblickende Mann nicht mal diejenige Sorte von Humor verstand, die auf die Einschüchterung seines Gegenübers abzielte. Was ziemlich beschissen war, weil Jeongguk ihm prompt an den Kopf geworfen hatte, ob Blutopfer an der Tagesordnung der Samurai stünden oder woher der Drang rührte, ihn schnellstmöglich in ein existenzielles Dilemma zu manövrieren.
Was hätte er schon sagen sollen—kein Problem, meine Videospiele haben mich immer genau auf diesen Zeitpunkt vorbereitet? Hätte er besser die Hände werfen und den anscheinend letzten sicheren Ort in Tokyo fluchtartig verlassen sollen, der nach den Samurai-Brüdern noch nicht Gefahr lief, ihn bei der ersten Notion von Bedrohung zu verraten? Namjoon weismachen müssen, dass seine chronische Sehnsucht danach, als totes Relikt im gegenwärtigen, modernen Japan gebraucht zu werden, längst als erstes Anzeichen für eine Psychose, namentlich einen ernsthaften Realitätsverlust wahrgenommen werden hätte müssen?
Zu seinem Leidwesen hatte Namjoons Angewohnheit, die Wahrheit für sich allein gepachtet zu haben, ihn umnachtet, sodass nichts dergleichen seinen Mund verlassen hatte. Jeongguk hatte lediglich hinter zusammengepressten Zähnen entgegnet, dass seine Selbstgerechtigkeit überholt sei, doch der Anführer der Drei-Mann-Kamikaze hatte nur (zustimmend? Oder wissend?) die Schultern hochgezogen und ihn in die kompromittierte Freiheit seiner Gedanken entlassen.
Die Instant-Ramen, die jemand gestern brühwarm vor seine Zimmertür gestellt hatte, nachdem Jeongguk in der Manier eines beleidigten Kindes, das seine Wut nicht anders als in einem dramatischen Abgang zu katalysieren wusste, in sein Versteck gestampft war, lagen ihm immer noch schwer im Magen.
Seokjin hatte ihm netterweise heute Morgen ein Ladekabel bereitgestellt und ihn wie das verschreckte, eingekerkerte Tier, nach dem Jeongguk sich fühlte, besänftigt, sodann nach Hause gehen zu können, wenn Namjoon irgendeinen fundamental wichtigen Papierkram erledigt hätte.
Fast hätte er trocken aufgelacht, denn ehrlicherweise könnte er nicht weniger darauf geben, auf Namjoons Erlaubnis zu warten. Da offensichtlich allerdings niemand Zuhause—wie er es hasste, dieses kompromittierende Wort nutzen zu müssen—auf ihn wartete oder ihn mit einer Intensität vermisste, die sie als Eltern ausgezeichnet hätte, war ihm die Verzögerung irgendwo doch recht gekommen. Sein Handy lag verwaist in seinem Zimmer und glänzte darin, ihn noch miserabler fühlen zu lassen als ohnehin schon, fast als wollte es seine Denkweise umpolen, denn was hatte er schon zu verlieren? Leise und nachdenklich schloss Jeongguk die Schiebetür zum Vorraum des Badezimmers hinter sich.
Im gegenüberliegenden, abgeschotteten Zimmer löste er damit wohl die liebste Impulsreaktion seines Bewohners auf anderweitiges Leben in dessen Territorium aus: ein nervenaufreibend hohes, heiseres Bellkonzert. Jeongguk, der sich sowieso vielmehr als Katzen- als als Hundemensch definierte, war geneigt, dem alten, zotteligen Maltesermischling den abgemagerten Hals umzudrehen, doch da zumindest—oder ausgerechnet—Jimin etwas an dessen Besitzerin liegen musste, hielt er wohl oder übel mit seinen Absichten an sich.
Seokjin hatte ihm von der anderen Zimmerseite aus erklärt, dass der vierbeinige Hausherr auf den japanisch-ausgeleierten Namen Aki hörte, und prinzipiell keine neuen Freundschaften knüpfte, die nicht auf Korruption gegründet waren.
Jeongguk konnte nicht weniger interessieren, sich dem Hund anzunähern. Er wollte nicht den falschen Eindruck erwecken, er würde ernsthafte Ambitionen hegen, in diesem fremden Revier, das in der Mehrheit auf Änderungen in seiner steifen Konstellation regelrecht lebensfeindlich reagierte, anzukommen, wenn er nicht einmal wusste, wie er mit dessen Bewohnern umzugehen hatte.
Zwei von denen wollten ihn nämlich allem Anschein nach am liebsten achtkantig von der Türschwelle stoßen, wenn er nicht irgendeine verkorkste Hauptrolle in ihrem Fiebertraum spielen würde, ein anderer bereitete ihm neun Stunden nach seiner Amputation Misoosuppe zu, und der letzte ließ mit seiner rettenden Aufmerksamkeit auf sich warten, seit er Jeongguk auf dem Weg in den Kominka wie ungesicherte Fracht abgeladen hatte.
Und es wurmte ihn, irgendwo. Dass Jimin es moralisch vertretbar fand, ihn aus seiner mehr oder weniger heilen Welt zu zerren und, angekommen in seiner eigenen, prompt zu verwaisen. Jeongguk wollte sich nicht beirrt davon fühlen, dass Jimins Interesse an ihm nicht einen ganzen Tag überlebt hatte. Doch es nagte an ihm: dass alle Menschen in seinem Umkreis nichts mehr von ihm wissen wollten, wenn sie sich an ihm sattgesehen hatten; dass es eine Art Muster gab, eine merkwürdige Mindesthaltbarkeit, mit der er bewertet wurde.
Es hatte mit seinen einstigen Freunden aus Tokyo begonnen, als er ins warme Kampanien geflüchtet war, und war wie ein unaufhaltsames Lauffeuer auf seine Eltern übergesprungen. Was Namjoon und Taehyung über ihn dachten, ging Jeongguk gelinde gesagt am Arsch vorbei, aber zumindest in Jimin hatte er Hoffnung gelegt, nicht so wie alle anderen zu sein. Ihn nicht bei der erstbesten Möglichkeit wieder abzugeben. Doch der blonde Kenshi hatte sich ihm entzogen wie sich etwas Unzähmbares, Wildes der Verantwortung entzog.
Was lächerlich war, denn strenggenommen wusste Jeongguk nicht mehr über ihn als über seine beiden gestörten Cousins, aber gerade dieser Umstand war es, der ihn maßlos zerwühlte.
Er hatte gehofft, den blondierten Schopf im Rest des Kominka anzutreffen, wenigstens einen Blick auf sein apartes Gesicht mit dem rosigen, plumpen Lippenpaar werfen zu können, aber als Jeongguk barfuß den Wohnbereich betrat, begrüßte ihn nicht mehr als die gähnende Stille eines verlassenen Hauses.
Da Seokjin als einziger der Samurai nicht darauf erpicht schien, eine in jeder Hinsicht unangenehme Atmosphäre zu schaffen, die ihn bis zu seiner unbestimmten Abreise sein Gästezimmer verbarrikadieren lassen hätte, schob Jeongguk sich auf leisen Sohlen in die Küche des Landhauses, in dem der Ex-Yakuza gerade Wasser aufkochte und Wakame-Algen abwusch. Und wieder stellte sein Gedächtnis ihn vor das Rätsel, wie er dem breitschultrigen Mann irgendetwas anderes als engelsgleiche Liebenswürdigkeit beimessen hatte können.
Er trug ein schlabbriges Sweatshirt und musste in der Zeit, in der Jeongguk eine heiße Dusche genommen hatte, seinen Verband ausgewechselt haben, denn die Auflagen um seine Hand waren jetzt perlweiß und ordentlich bandagiert. Sein schwarzes Haar war fedrig zurückfrisiert und legte seine elegante Stirn geschmackvoll frei. Die Weise, wie er seine vollen Lippen konzentriert geschürzt hielt, ließ Jeongguk annehmen, dass es Gewohnheit war, selbst beim Kochen verträumt auszusehen. In jedem Fall hatte Seokjin nichts mehr gemein mit dem eisernen Anzugsträger, den er in Youkos Beisein als ihren einschüchternden Wachhund kennengelernt hatte, und Jeongguk wunderte sich unwillkürlich, wie jemand Weiches wie Seokjin diesen zweifellos hohen Posten überhaupt ergattert haben konnte.
Vermutlich lag hinter Seokjins Wangen, in denen sich ein freundlicher Zug festsetzte, als er Jeongguk am Rande seines Augenwinkels im Türrahmen bemerkte, mehr, als er auf erstem Blick erkennen ließ. Er stieß sich von seiner unschlüssigen Position zwischen Wohnraum und Küche ab, um der prädestinierten Unbehaglichkeit seines stillen Besuchs entgegenzuwirken—und befand, dass er auf voller Linie bereits beim ersten Atemzug versagte.
„Soll ich dir zur Hand gehen?", bot Jeongguk ungeschickt an, und Seokjin zog die Augenbrauen hoch.
„Nein, danke", sagte er in einer Tonlage, die Jeongguk als Belustigung erkannte. „Eine Suppe sollte ich noch selbst hinkriegen. Du kannst das Gemüse zubereiten, wenn du befürchtest, ich würde sonst noch einen Finger verlieren, ich hab in der Spüle schon alles abgewaschen." Als Jeongguk nicht reagierte, deutete Seokjin auf einen ordentlich portionierten, unstrukturierten Haufen Grün. „Ich hätte dir auch etwas hochgebracht, aber anscheinend haben sich die Neuigkeiten etwas gesetzt, hm?"
„Geringfügig", erwiderte Jeongguk wahrheitsgemäß, und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er bisher noch nie einen Finger in der Küche gerührt hatte. Langsam griff er nach den Frühlingszwiebeln. Falls Seokjin bemerkte, dass seine Ringe eher klobig und eckig geschnitten waren, besaß er den Anstand, es nicht anzumerken.
Er fühlte seinen neugierigen Blick auf seiner Wange brennen lange bevor er das Wort ergriff.
„Du steckst das alles ziemlich gut weg. Abgesehen davon, dass du zur Yakuza rennen wolltest, als deine Lage brenzlig wurde. Als zwanzigjähriger, meine ich. Mit zwanzig hätte ich es niemals gewagt, mich gegen meine Eltern und meine Aufbringung zu behaupten und einen so andersartigen Weg einzuschlagen."
„Ich schlage ihn nicht wirklich ein, viel eher werde ich mitgeschleift. Namjoon lässt mir keine besonders große Wahl, fürchte ich", murmelte Jeongguk trocken, und Seokjin nickte verständnisvoll.
„Du musst ihn entschuldigen. Er hat keine Ahnung von Verlust, aber manchmal braucht seine Leidenschaft Pompösität. Das einzige, was ihm je zu entgleiten gedroht ist, ist sein Titel als Samurai, und der gerät eher... aus kulturellen Gründen aus den Fugen. Er hat noch nie verloren, und die Yakuza macht ihm diese Errungenschaft allein mit ihrer bestehenden Existenz streitig."
„Also ist das alles hier eher eine Art Schwanzmessen als eine ernstzunehmende Kulturhegemonie?"
Seokjin lachte auf. „Ich fürchte nicht", sagte er mit einem breiten Grinsen. „Aber wenn du es schon aus dieser Perspektive betrachtest, dann kann die Yakuza als eine Organisation verstanden werden, die sich durch's Schwanz-Einziehen Rang und Namen erwirtschaftet hat. Hätte Namjoon es nicht zu seiner Vendetta erklärt, sie zu vernichten, hätte ich auch nie den Mut gefunden, sie zu verlassen."
In diesem unscheinbaren, kleinen Moment gelangte Jeongguk zu der unzeremoniellen Erkenntnis, dass Seokjin offenbar nicht anders konnte, als Namjoon in jeden Knick seines Lebenswegs zu verstecken. Er sprach von ihm mit ehrfürchtig gesenkten Lidern und nachdenklicher Stimme, als brachte er es nicht einmal jetzt, wo Namjoon nicht bei ihnen war, fertig, seinem gedanklichen Äquivalent auf Augenhöhe zu begegnen. Und unwillkürlich fragte Jeongguk sich, ob die beiden wirklich Blutsbrüder waren; ob man Blutsbruder von jemandem sein konnte, den man auf das höchste Podest stellte, um zu ihm aufzuschauen.
Seokjin seufzte tief und schaute ihm beim Schneiden zu. „Du wirst es etliche Male schon gehört haben, aber mir tut Leid, was dir widerfahren ist. Solche Sturzflüge sind nur schwer zu verkraften."
Er gab nicht mehr als ein halbherziges Brummen von sich, auch weil ihn Seokjins Anteilnahme peinlich berührte. „Es ist schon in Ordnung, mittlerweile. Ich war nicht... wirklich da, in der echten Welt, bevor das alles passiert ist, meine ich."
Der andere nickte. „Als ich Namjoon das erste Mal getroffen habe, hat es sich für mich auch wie die Geburt einer neuen Zeit angefühlt. Wir haben uns als Jungaktionäre kennengelernt, 2011. Er und... du kennst ihn nicht, jemand anderes, der sich dem Aktiengeschäft mit Leib und Seele verschrieben hat, waren dort, um Geldgeschäfte zu schließen und geheime Untersuchungen anzustellen. Für unsereins, Kinder, die in Clans hinein geboren wurden, meine ich, waren solche Versammlungen wie Kindergeburtstage. Ich konnte früher Leute ausnehmen und ihnen Geld abzwacken als ich das Kanji beherrscht habe. Mit siebzehn bin ich zum Sokaiya erhoben worden, was... gemeinhin einer Berufsbeförderung gleichkommt."
Er hielt inne, als wägte er ab, wie viel er von sich preisgeben dürfte; wie viel er preisgeben konnte, ohne sich in Grund und Boden für seine Vergangenheit zu schämen. „Es ist eine diebische Methode: erst erwerben Yakuza den geringstmöglichen Anteil an Aktien eines Unternehmens, um zu dessen Jahrestagung eingeladen zu werden, und dann drohen sie damit, alle Schandtaten der Firma zu veröffentlichen; Liebesaffären, Ausfallgeschäfte, heikle Geschäftsbeziehungen, der ganze Dreck der Jahre wird ausgebuddelt und ans Licht gebracht. Die meisten knicken dabei ein und zahlen die Unsummen an Yen, die der Sokaiya von ihnen als Schweigegeld erpresst. Sie haben alle Angst vor dem-"
„Gesichtsverlust", fiel Jeongguk ihm ins Wort. „Davon habe ich gehört."
Einige Momente lang nahm Seokjin ihn fast schon entschuldigend in Augenschein, dann biss er sich auf die Unterlippe. „Es ist eine geistige Epidemie in unserem Inselreich. Manche Geschäfte heuern sogar Sokaiya an, um ihre Konkurrenz auszustechen und klein zu halten. Unsere Schamkultur ist zu geschärft, um gegen die eigentlichen Widersacher der Monopolbildung vorzugehen. Versteh mich nicht falsch, ich war früher unheimlich stolz darauf, einen Konferenzsaal zu betreten und die Geschäftsmänner darin nur mit meinem Auftritt, der Anwesenheit eines Sokaiyas einzuschüchtern; je mehr man von diesem Potenzial zur Fatalität bekommt, desto mächtiger fühlt man sich. Heute..."
Seine Worte klangen aus, ließen eine hohle, leere Stille zurück, die für sich selbst sprach. Seokjin nagte an seiner Unterlippe, zupfte mit den Fingernägeln an einem Hautstück daran und blickte dann zurück zu Jeongguk, als müsste er sich darauf besinnen, wo er gegenwärtig war.
„Namjoon wusste, woher ich komme und wozu ich gehöre, aber er hat ein unheimlich sensibles Gespür für Wiedergutmachungspotenzial. Gleich nach der Hauptversammlung fragte er mich, wie lange ich noch vorhätte, gegen die Menschen zu operieren, und er bot mir an, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, direkt neben ihm, wenn alles vorbei ist und die Terrorherrschaft der Yakuza über Japan ihr Ende genommen hat. Das war das erste Mal, dass jemand mich nicht für das, was ich bin, verurteilt hatte, obwohl ich meine Zugehörigkeit, wie alle Mitglieder einer Vereinigung, unter der Haut trage. Es war auch das erste Mal, dass ich ernsthaft an einen Ausstieg gedacht habe. Das habe ich ihm nie vergessen."
Schweigend griff Jeongguk nach der nächsten Zwiebelschote. Seokjin schien zu tief versunken in der Erinnerung an seinen Lebenswandel, um Nachfragen zuzulassen.
„Damals gab es neben ihm nur Yoongi. Hat Jimin dir von ihm erzählt?"
Als Jeongguk sofort den Kopf schüttelte, machte sich ein säuerliches Gefühl in ihm breit, das Seokjin trotz seines feinen Gespürs nicht zu detektieren schien.
„Er war Funktionärssohn und leidenschaftlicher Aktionär, investierte sein gesamtes Kapitalvermögen. Den Wall Street-ähnlichen Skandal der Mizuho-Bank im letzten Jahr hat er nicht verkraftet. Da hat er sich eine Pistole in den Mund gesteckt."
„Ist er...?", fragte Jeongguk ungläubig.
„Tot? Nein." Seokjin schüttelte den Kopf. „Nein, er hat nicht abgedrückt, aber er hat sich nie davon erholt. Ihre Freundschaft ging in die Brüche und mit dem Niedergang unseres kleinen Clans verließ auch Hoseok das sinkende Schiff. Er war Yoongis engster Vertrauter, ein bezeichnender Schwertkünstler, wie es sie nur im alten Edo gegeben hat. Danach hat Jimin Taehyung aufgegabelt und rekrutiert, und wie Namjoon nie wieder ein Wort über die beiden verloren. Bis gestern. Du scheinst hier innerhalb eines Tages an Prinzipien gerüttelt zu haben, die ich in Stein gemeißelt geglaubt hatte."
Jeongguk wusste nicht, was er sagen sollte, denn weder hatte er intendiert, irgendeine festgefahrene Konstellation am Rande von Nagareyamas Zivilisation aufzureißen, noch so etwas wie Verständnis für etwas so Absurdes wie den Lebensstil der vier immobilen Außenseiter zu entwickeln. Zart und brüchig bildete es sich in ihm aus, zwischen all der Wut auf seinen Schicksalsschlag nährte es von der stillen Intimität, die hier herrschte. Sie wirkte vertrauter, inniger als alles, was auf Jeongguk bisher gewirkt hatte, und er konnte einfach nicht anders, als sie dafür zu beneiden. Die vier Samurai—oder dreieinhalb, wenn man bedachte, dass Seokjin sich als disqualifiziert aus dieser Betitelung betrachtete—lebten in ihrem eigenen abgeschotteten Mikrokosmos, der an der Peripherie ihrer lärmenden Millionenmetropole koexistierte, und trotzten mit ihrem Zusammenhalt der Vergänglichkeit.
Sich einzugestehen, dass er keine Freundschaft kannte, die unter der Oberfläche kratzte, nagte an ihm. Als wäre er ein vereister See, den niemand betrat, um nicht in ihm einzubrechen. Jeongguk zog wortlos eine Schulter hoch und hoffte, dass Seokjin sich keine tiefgründigere Antwort von ihm erhoffte.
Er hätte ihm gerne eine gegeben, doch es kam ihm prätentiös vor, bescheiden auf diesen allem Anschein nach elementaren Wandel innerhalb ihres kleinen Konglomerats zu wirken. Vor allem dann, wenn er auf drei seiner vier Mitglieder eine selbstgerechte Ungerechtigkeit verspürte, die sich in willkürlichen Hitzeschüben und verärgerten Kommentaren äußerte.
„Und trotzdem wollt ihr mich bei der erstbesten Gelegenheit für eure sinistren Zwecke ausweiden."
Seokjin besaß die Dreistigkeit, mit der Selbstverständlichkeit eines Narrativopfers zu seufzen. „Ja und nein. Muss ich dir ein drittes Mal erklären, nach welchem Kodex wir unser Leben ausgerichtet haben? Jimin hat sich nicht komplett neu erfunden, damit du sein Vermächtnis durch den Dreck ziehst."
„Was soll das heißen?"
„Frag ihn am besten selbst, ich bin ein miserabler Erzähler und will seiner Geschichte kein Unrecht tun."
„Seokjin", beharrte Jeongguk mit sanftem Nachdruck, der eine bezeichnende Wirkung entfaltete, denn Seokjin schwächelte sofort in eine Erklärung.
„Schön", seufzte er erneut. „Aber steck ihm nicht zu, dass ich es bin, der geplaudert hat, er reagiert allergisch auf selbstgerechte Euphemismen auf seine Person."
Jeongguk kam nicht drumrum, die Schultern defensiv hochzuziehen. „Weil seine liebsten Cousins ja so gerne mit mir tratschen", konstatierte er in einem sarkastischen Flüsterton, und Seokjin blinzelte verwirrt, ehe er zu begreifen schien, worauf sein nackter Seitenhieb abgezielt hatte.
„Er gehört gar nicht zu den Kims", sagte er dann, und jetzt steckte die Irritationsfalte Jeongguks Stirn an, während Seokjin entschieden den Kopf schüttelte. Offenbar, bemerkte Jeongguk, ließ sich Seokjin spielerisch leicht zum Plaudern verleiten, wenn er sich dazu berufen fühlte, Rechtmäßigkeiten einzuräumen. „Nein, Taehyung und Namjoon sind Cousins, Jimin stammt aus einem Armenviertel von Fukuoka. Sein Nachname lautet Park, er hat ihn nie abgelegt, ich glaube, er hat gar keinen japanischen Familiennamen, das ließe sich schwerlich mit seinem Nomadenstatus vereinbaren. Vollwaise, seine Eltern leben irgendwo hinter der Meerenge und haben ihn kurz nach seiner Geburt an ihr gieriges Nachbarland abgegeben. Er hat öfter die Pflegefamilien gewechselt, als Taehyung die DVDs wechseln kann. Soll wohl ein ziemlicher Draufgänger gewesen sein, als er noch im Süden gelebt hat."
„Jimin?", hakte Jeongguk skeptisch nach und nahm eine der Suppenschalen, die der andere ihm anreichte. „Sprechen wir vom selben Jimin? Das kann ich mir kaum vorstellen."
Trocken lachte Seokjin auf und indizierte ihn mit stillen Handbewegungen zum Wohnzimmer, das—zu Jeongguks Erleichterung—unter niemandes Anspruch stand, und worin er sich auf dem Sofa niederließ.
„Sagen wir es so, Jimin lebt, um zu täuschen. Lass dich von seinem pazifistischen Gehabe nicht blenden, er ist kein pathologischer Killer, aber er weiß ganz genau, wie schmal der Grat zwischen Selbstjustiz und Gerechtigkeit ist, und wie präzise er Schwerter schwingen muss, um die Halsschlagader von verdorbenen Yakuza-Häuptlingen zu treffen. Seine Anpassungsfähigkeit ist so ausgeschärft wie die Dualität eines Chamäleons. Kein Wunder, wenn man von den Kabukimono unterrichtet wurde."
„Von den was?", fragte Jeongguk verwirrt, und Seokjin pustete in seine Schüssel, ehe er ihm ein gleichermaßen verschmitztes wie wehleidiges Lächeln zuwarf.
„Tu mir den Gefallen und eigne dir ein Geschichtsbuch über die Edo-Periode an, es täte dir gut, zu verstehen, worüber wir reden. Kabukimono sind... wandernde Exzentriker in flatternden, irisierenden, bunten Roben. Herrenlose Samurai und Theaterkünstler des Kabuki-Theaters, die zirkusähnlich das Land durchstreifen und genauso gern amüsant wie aufmüpfig sind. Jimin hat sich einer solchen Truppe angeschlossen, nachdem er mit 16 oder 17 aus seiner letzten Pflegefamilie ausgebrochen ist, und traf darin auf Hoseok. Von ihm wurde er der Kunst der Unsichtbarkeit unterwiesen; wie man Schatten mimt und zu völliger, innerlicher und äußerlicher Transparenz zerfließt, im Grunde genommen wie man sich zu einem lebhaften Mysterium verklärt. Er beherrscht jedes Katana und Tsurugi, das hier an den Wänden hängt." Leise holte Seokjin Luft, als beriete ihm der Anblick der glänzenden, teils zweischneidigen Klingen über ihren Halftern noch immer so viel Pietät wie früher. „Nicht nur, weil er zweifellos unaussprechliche Dinge in seinen Pflegefamilien über sich ergehen hat lassen, sondern auch, weil kein anderer so eine innige Verflechtung zu Gerechtigkeit verspürt. Es ist, als spräche durch ihn die Moral aller Dinge, und er ist nur ihr Henker. Ein Gefäß für die Richtigkeit. Ich kenne ihn seit fünf Jahren und trotzdem gibt es Augenblicke, in denen ich mich wundere, ob ich ihn überhaupt kenne. Manchmal glaube ich, dass er nicht da ist, um gekannt und vielmehr, erkannt zu werden."
Still blickte Jeongguk herunter in seine dampfende Misosuppe und rührte nachdenklich darin mit den Stäbchen herum. „Und ich dachte, er wäre einfach sowas wie Namjoons Stellvertreter."
Seokjin zuckte die Schultern. „Eben, er blendet. Jimin fluktuiert zu sehr, um die Bürde eines Clans zu tragen. Eigentlich... bin ich sogar Namjoons Sekundant." Er errötete keine Unwesentlichheit, während er sich damit beschäftigt gab, die Algen aus seiner Suppe einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Wieder schlich sich die Verträumtheit in seine Stimme, als könnte er Namjoon nur erlauben, fernab der Realität in einer schwebenden, unbegreiflichen Materie für ihn zu existieren. „Auch wenn es heute nur noch ein hohler, bedingungsloser Titel ist. Früher haben Sekundanten den Selbstmord ihres Bruders vollstreckt und standen sich in Kämpfen zur Seite. Du kannst dir also vorstellen, wie viel blindes Vertrauen herrschen muss, um jemandem zu seinem Sekundanten zu erklären. Namjoon und ich, wir... wollen bald unsere Bruderschaft zelebrieren. Sie offiziell machen."
„Vor einem Götterschrein."
Jeongguks Kopf zuckte zur Seite und er beobachtete entgeistert, wie Jimin sich mit einer beispiellosen Lässigkeit durch die Schiebetür ins lichtgeflutete Wohnzimmer schob und auf bloßen Sohlen zu ihnen schritt. Er hielt ein Katana in der Hand, das er einmal träge um sein Handgelenk schwang, bevor er es auf Zehenspitzen zurück auf seinen Sockel steckte. Die Klinge brach das Licht reiner und härter als seine anderen Sammlungsstücke, und Jeongguk wurde das Gefühl nicht los, dass sie vor nicht allzu langer Zeit penibel gereinigt sein musste.
Jimins Blick traf seinen, und ein Schauer rann über Jeongguks Rücken, weil er sich augenblicklich fragte, was sich hinter den schläfrig-schönen, unmerklich herabhängenden Augen des Kenshi abspielte. Labte er sich vor seinem geistigen Auge immer noch an den Blutopfern, die er seinen hungrigen Schwertern vor ungeraumer Zeit in Form von zahllosen Sakrilegen dargebracht hatte? Schottete er all die Grausamkeit, die Seokjin ihm nur in aller Vorsicht zu attestieren wagte, ab in einem schalldichten Vakuum innerhalb seines Gedächtnisses? Oder war er mittlerweile abgestumpft gegen alle Schrecklichkeiten, weil er sie selbst erlebt hatte und wusste, welchen Preis sie einforderten?
Es beirrte ihn und vor allem kollidierte es mit seiner Moral. Der Gedanke, dass jemand irgendwelche Vendettas hegte, die er in echten, blutigen Rachsalven manifestierte, befremdete Jeongguk maßlos. Erst hatte er, der naive, zweidimensionale Zwanzigjährige, gedacht, er könnte es nachvollziehen; weil er genauso gnadenlos auf die Controller seiner PlayStation einhauen konnte, wenn es galt, die animierten Gegner auf seiner Konsole mit maximaler Gewinnrate auszumerzen. Aber ihm fehlte der Bezug zur Wirklichkeit, wie sie hinter seinen verdunkelten vier Wänden seines Zimmers auf Capri stattfand und offensichtlich in kaputten, gebrochenen oder verlorenen Menschen wie Jimin ihre Vollstrecker gefunden hatten.
Dabei wirkte er nicht im Ansatz verloren, so ruhig wie er vor ihnen stand und die Hände in die Taschen seiner Hose schob, als hätte kein (unschuldiges?) Blut an ihnen geklebt, das Namjoon oder sein fragwürdiger Moralapparat ihm zu vergießen befohlen hate.
„Es ist eine traditionelle Zeremonie", erklärte er ruhig und nahm das Augenmerk von Seokjin, der lauthals seine Suppe ausschlürfte und mit vollen Wangen und glasigen Augen zu ihm schaute, als hätte ein politischer Pionier, ein neuerstandener Amedeo Guillet sich dazu herabgelassen, seine Armeen mit seiner Weitsicht zu beehren. „Die das Lebenswerk zweier verbrüderter Samurai markiert. Nur wer sie abhält, darf sich jemandes Sekundant nennen. Taehyung und ich werden dieselbe Feier abhalten, wenn wir soweit sind."
Seokjin stieß ein überraschtes Summen aus. „Ach, jetzt doch auf einmal?"
Jimin seufzte und ließ sich auf einem abgeknickten Bein auf dem Polster nieder. „Sobald er aufhört, Namjoon in seiner unerträglich liebenswürdigen Taehyung-Manier beim Arbeiten auf die Pelle zu rücken. Manchmal fürchte ich, dass er doch noch zu jung für das alles hier ist."
„Sagst du", feixte Seokjin ihn glucksend. Jeongguk schaute neugierig zwischen den beiden her. „Mit deinen süßen zweiundzwanzig. Du bist nur wenige Monate älter als er."
„Zweieinhalb, wenn ich bitten darf."
„Oh, natürlich, entschuldige meine Schlampigkeit in der wundersamen Welt von Ziffer und Zahl."
Seine Antwort war ein milde belustigter Blick, den Jimin auf ihn abschoss, bevor er sich an Jeongguk wandte, der vergeblich versuchte, inmitten des neckischen Gefechts tunlichst nicht als das Störelement aufzufallen, als das ihn der gesamte Haushalt klassifiziert hatte.
„Ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen", erklärte er dann mit einem Mal so abgeklärt, als hätte die schwammige Frage seiner Abreise nie wie ein großes, graues Fragezeichen den Raum beansprucht, in dem Jeongguk sich zunehmend beengter fühlte. Jimin erwiderte seinen verblüfften Blick gefasst, blonde Haarsträhnen sein Gesicht fedrig umfächelnd, und besaß den Anstand, sich zu eruieren, bevor Jeongguk ein in jeder Hinsicht kompromittierend klingendes, leises „Schon?" über die Lippen gekommen wäre.
Seokjin übernahm die Wehmut, die so unwillkürlich in Jeongguk aufgestiegen war, denn er sah sowohl verletzt als auch enttäuscht aus, während Jimin sprach.
„Namjoon hat dich für entlassen erklärt und mir alle Papiere überreicht, die du benötigen wirst. Wir haben keine Verwendung für dich, bis das Treffen mit Shinoda ausgeklügelt ist, und dich bis dahin hier zu lassen, würde zu viele Fragen in deinem Umfeld aufwerfen."
„Entlassen?", lenkte Seokjin ein. „Das hat er gesagt?"
Jimin haderte. „Der genaue Wortlaut war ein anderer, aber ich filtere sowieso nur noch die Grundessenz seiner Anweisungen heraus, wenn Nozomi bei ihm ist. Es erspart erstaunlich viel Zeit und Nerven."
Aus dem Augenwinkel konstatierte Jeongguk, dass Seokjin eine Spur kleiner aussah, als er wortlos seine Stäbchen umgriff, doch die schwammige Erkenntnis wollte sich nicht richtig in ihm festsetzen, da hatte sein vorlautes Mundwerk bereits reagiert.
„Meinst du meine Eltern?", kam es plump von ihm. „Denn wenn ja, dann scheiß auf sie, sie werden sowieso nicht bemerken, dass ich fehle. Ich muss dorthin nicht zwingend zurück."
Jimin presste seine vollen Lippen aufeinander und entließ sie dann wieder aus der Härte seiner Gesichtszüge, und Jeongguk fand nur Zuflucht in ihnen, weil sie als einziges Merkmal in seiner ernsten Miene Sanftheit zuließen. „Ich fürchte schon", entgegnete er mit einem schwachen Lächeln. „Sie werden Shinjuku bereits nach dir durchsucht haben, daher ist es nur logisch, dich dort zu verstecken, wo sie bereits gewesen sind. Du wirst dich nicht in deinem Zuhause verschanzen müssen, dafür hat Namjoon gesorgt."
Misstrauisch nahm Jeongguk den laminierten Ausweis entgegen, den Jimin aus der Tasche seiner Hose zu Tage förderte, und runzelte die Stirn, als er ihn als Personalausweis identifizierte. „Otaku Sota? Soll das eine neue ID sein?"
„Fast. Es ist dein Ticket in deine neue Arbeitsstelle."
„Wie bitte?"
„Na, wie sieht es denn aus, wenn euer Restvermögen das des Durchschnittsbürgers trotz stagnierender Arbeitslosigkeit übersteigt? Die Yakuza kontrollieren den Finanzhandel, Jeongguk. Wenn auch nur einer von ihnen in das Banksystem eingeschleust ist, in dem ihr registriert seid, haben sie euch schneller aus der Menge herausgepickt, als du Zuhause verschnaufen kannst."
„Aber wir haben kein Geld mehr", brauste Jeongguk auf und begann, einen jähzornigen Ärger auf das chronisch selektive Gehör in diesem Haus zu entwickeln. „Es ist alles verprasst, in Spielehallen ausgegeben oder auf klebrigen Tresen hinterlassen. Wir sind bankrott, pleite, blank, was für ein Wort muss ich nennen, um zu dir durchzudringen?!"
Die Intensität, mit der Jimin ihn förmlich niederrang, schnitt ihm die Luft ab. Dann zuckte er betont trostlos die Schultern. „Leichtgläubig."
„Was?"
„Was Jimin meint", schob Seokjin hastig ein, denn Jeongguk hatte sich bereits vor Entrüstung kerzengerade auf dem Sofa aufgesetzt und war im Inbegriff, dem blonden Schwertkünstler an die Gurgel zu gehen, der ihn lediglich mit einer Mischung aus Abgeklärtheit und Neugierde musterte, „ist, dass die Personalien deiner Familie äußerst... intransparent sind. Äh. Wir könnten uns durchaus vorstellen, dass nicht alles, was euch widerfahren ist, so hätte passieren müssen. Wir arbeiten noch daran. Aber er hat Recht", schloss er schließlich nickend. „Du bist nicht sicherer aufgehoben, wenn du dich in einem abgeschotteten Vakuum versteckst. Es ist klüger, dich der Masse unterzujubeln."
„Und das je früher desto besser." Jimin erhob sich vom Sofa und taxierte ihn mit einem erwartungsvollen Blick. „Sie werden erwarten, dass du dich vor ihnen verkriechst, deswegen tun wir genau das Gegenteil. Soll ich Taehyung und Namjoon Bescheid geben, dass du jetzt gehen wirst?"
Jeongguk stieß ein in jeder Hinsicht abfälliges Schnauben aus. „Ganz bestimmt nicht", entgegnete er sarkastisch, und sah Seokjin in seinem Augenwinkel in seine Schale grinsen, weil es offensichtlich war, dass er lieber erhobenen Hauptes das Domizil der Samurai verließ, als sein letztes Quäntchen Stolz höhnischen oder bissigen Kommentaren auszuliefern. „Wir können los, ich hab alles bei mir, was mir gehört."
Nachdem Jimin seinen Aufbruch aus der idyllischen Zurückgezogenheit des Kominka markiert und sie in die gedrückte Schwüle eines aufziehenden Sommergewitters geführt hatte, winkte Jeongguk zum Abschied noch einmal verhalten Seokjin zu, der im Türrahmen des Landhauses lehnte und mit einem unmerklich verzogenen Schmollmund zusah, wie er zögerlich hinter Jimin auf dessen Motorrad aufsetzte. Natürlich musste es ein Motorrad sein, hatte Jeongguk seufzend festgestellt, als Jimin das höllische Gefährt aus der Garage geschoben hatte—Hauptsache ein windschnittiges, geschmeidiges Gefährt, das sich wie sie der Norm entzog und gnadenlos seine eigene Schneise durch den Einheitsbrei der Masse bahnte.
Jimin schien zu bemerken, dass ihm eine weitere Fahrt auf dieser unsicheren, zweirädrigen Blechbüchse nicht gänzlich geheuer war, denn er griff rücklings kurzerhand nach den Händen seines Passagiers und brachte sie um seinen Bauch zusammen. Jeongguk war heilfroh, dass man seine roten Wangen unter dem Helm nicht sehen konnte, denn er war sich sicher, dass sie wie ein glühend rotes Leuchtfeuer seine Verlegenheit über so viel zwangsläufige Körpernähe preisgegeben hätten. Seokjin rief ihnen irgendetwas nach, das er unter der Kunststoffhaube nicht verstand, auch weil seine Ohren vor Adrenalin rauschten, und dann machte das Motorrad einen buckligen Stolper vorwärts, ehe Jimin es geschickt wendete und mit der lässigen Routiniertheit eines Szenereiters die Straße herab beförderte.
Er wusste nicht recht, ob er sich nur wegen der bescheidenen Nachbarschaftsverhältnisse an die Verkehrsregeln und ein humanes Tempo hielt, aber Jeongguk beschloss, die seltene Bescheidenheit mit Leben und Tod zu genießen. Sie durchschnitten den stagnierenden Wind eines feuchten Sommers mit spielerischer Einfachheit, als sie aus der schmalen, hügeligen Straße des Kominka-Dorfs hervorbrachen und Jimin sie über die Nagarayema Bash Bridge geschmeidig in den Fluss des Nachmittagsverkehrs auf der stärker befahrenen Hauptstraße runter nach Matsudo einreihte.
Der Edo-Fluss zu ihrer Linken glänzte in der verhangenen Sonne wie ein trüber, alter Arm des Tones, von dem er sich im Norden abspaltete. Der Gedanke, dass sie sich genau hier, an den Grenzen der vier aufeinander treffenden Präfekturen Ibaraki, Saitama, Chiba und Tokyo wie staubige Fehler im System, Relikte einer längst vergangenen Zeit aufhielten und im konstanten Tempo runter zum Herzen des Inselreichs bewegten, hatte etwas Ehrfürchtiges an sich, dessen Sog sich selbst Jeongguk nicht erwehren konnte.
Selbst zu sehen, wie fließend Jimin, den er gedanklich beinahe sofortig als den Inbegriff der Vergänglichkeit, das Aushängeschild der vier überlebenswütigen Samurai klassifiziert hatte, sich in die verpestete Gewöhnlichkeit der Gegenwart einfügen konnte, war beeindruckend. Vielleicht hatte Seokjin genau das gemeint, als er ihn als natürlichen Blender bezeichnet hatte. Von außen konnte Jeongguk kaum erkennen, dass Jimin nur den Anschein von Normalität trug; dass hinter seinen präzisen Schlenkern über die stetig ausgebauter werdende Fahrbahn mehr steckte als ein bloßes Geschick mit dem Lenkrad.
Es dauerte nicht lange, bis das aufziehende Stadtpanorama seine grauen, hohen, verglasten Finger nach oben zur schweren Wolkendecke ausstreckte. In weiter Ferne glaubte Jeongguk, den stumpfen Umriss von Mount Fuji zu erkennen, der sich hinter der Metropole wie ein urzeitlicher Beschützer über die Bucht erhob. Sie fuhren auf den Highway auf, der sich entlang der stark befahrenen Ginza-Route durch das Herz der Innenstadt und über die Straßen in einer ironischen Allegorie über die Hybris dieser Stadt schlängelte, und Jeongguk saugte die vorbeifliegenden Wahrzeichen Tokyos auf: der Tokyo SKYTREE, der sie wie der neuzeitliche Koloss von Rhodos in der Millionenmetropole willkommen hieß; der orange leuchtende Tokyo Tower, an dem er sich zu Kindheitszeiten im Auto orientiert hatte, dass sie nur noch eine Viertelstunde bis nach Hause in Akasaka benötigen würden; der Yoyogi-Park, in dem seine Mutter früher oft mit ihm zum Meiji-Schrein spaziert war und der jetzt kahl geschoren und braun in der Sonne verdorrte.
In einer abgrundtiefen Ironie kam er sich vor, als spazierte er durch Meilensteine seiner Erinnerung, die ihm nie als solche fundamentalen Gedächtnisbruchstücke aufgefallen waren und ihn jetzt schmerzlichst fragen ließen, was passiert wäre, wenn er Tokyo nie verlassen hätte. Sein Herz zog sich zusammen, je tiefer sie durch Shibuyas Neondschungel durchdrangen; je fahler die Beleuchtung und Beschilderung wurde; je weniger euphorisch aussehende Menschen die überbordenden Gehwege frequentierten.
Das lärmende Motorengeräusch riss das zahnlose Toyama aus einem Nachmittagsschläfchen heraus, und Jeongguk nahm den Helm ab, sobald Jimin das Gefährt auf einem verlassenen Parkplatz gegenüber der Sozialwohnungen abgestellt hatte. Der Asphalt bröckelte, war an zahlreichen Stellen wie eine eiternde, nie abheilende Wunde aufgeplatzt, und von wenigen Autos verstreut besetzt. In gewisser Weise war es Jeongguk peinlich, Jimin an seinem neuen Leben abseits des Weltgeschehens teilhaben lassen zu müssen, doch Jimin schien ungerührt vom Anblick, der sich ihm bot.
Er wendete das Motorrad und warf einen Blick zum Gebäudekomplex auf der anderen Straßenseite. Jeongguk folgte ihm, die Hände in die Hosentaschen geschoben, und verspürte urplötzlich eine hohle Form von Melancholie darüber, wieder vor der Schwelle zur Bedeutungslosigkeit abgesetzt worden zu sein.
Was für ein scheußlicher Moment, damit sich der Kreis schloss.
Sie standen vor der Ausfahrt des Parkplatzes und Jimin stützte einen Fuß auf der Raste ab, bevor er sich zurücklehnte und ausatmete.
„Wir melden uns bei dir, Jeongguk", sagte er, ein freundliches Funkeln in den Augen, das die Enttäuschung nicht aus Jeongguks Brust zu tilgen vermochte. Erst schien er noch etwas sagen zu wollen, doch dann besann er sich eines Besseren, denn er drehte die Zündung und vertiefte einen Mundwinkel. „Lass dich nicht unterkriegen. Wir sehen uns früher wieder als du denkst."
Das Motorknurren verschmolz jäh mit der dumpfen Lärmkulisse einer entfernt florierenden Hauptstadt, und Jeongguk versuchte vergebens, von der zweiten Etage des offenen Treppenhauses aus die Gestalt des Schwertkünstlers auf den breiten Straßen auszumachen. Dann stieg er die letzten Windungen nach oben und schleppte sich mit letzter Kraft an den Putzwänden und abgegriffenen Geländern vorbei zur Tür ihrer Wohnung.
Einen Moment lauschte er nach den Stimmen seiner Eltern. Dann, als er kein feindliches Leben hinter der zerbeulten Fassade ausmachen konnte, tastete er die obere Leiste nach dem Schlüssel ab, öffnete die Tür und drückte die Klinke herunter.
Der schale Geruch von Bier und Sake wehte ihm entgegen und fühlte sich wie eine schmerzlich vertraute Umarmung zurück in die Nichtigkeit an. Lautlos und mit schwerem Herzen schob Jeongguk sich in ihre Mietwohnung, lehnte sich einen Augenblick an die geschlossene Tür, bevor er seine Schuhe abstreifte und weiter tappte.
Die Jalousien waren heruntergerollt, wahrscheinlich um die Wärme davon abzuhalten, ihren schlecht isolierten Rückzugsort zu einem regelrechten Brutkasten zu transformieren. Der Kühlschrank brummte mechanisch in der anliegenden Küche vor sich hin, stand eine Winzigkeit offen, und sein kaltes weißes Licht illuminierte den kleinen Esstisch, der aussah, als hätte ihn jemand in großer Hast zurückgelassen. Jeongguk warf einen Blick in die angebrochenen Instant Ramen-Behälter, die sich darauf auftürmten, und räumte sie in den Mülleimer. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit, während er die Wohnung nach Lebensspuren absuchte, und er wusste nicht recht, was ihm lieber war: auf seine Eltern zu treffen oder sein Domizil verlassen vorzufinden; auch, wenn es keinen Grund gab, warum sie ihr Zuhause mitten in der Woche verlassen haben sollten.
Etwas knirschte unter seiner Sohle und Jeongguk hob den Fuß an, um die leere Plastikverpackung zu betrachten, auf die er getreten war. Dann betrat er das Wohnzimmer.
Ausgetrunkene Dosenbiere standen auf dem Tisch, reizten dessen Fläche ordentlich nebeneinander aufgereiht aus. Der Fernseher lief noch, und als Jeongguk einen Schritt in die offensichtlich beanspruchte Wohnlichkeit vorwagte, sah er auch, wieso. Sein Vater schlief auf der zerschlissenen Couch, eine Hand unter seine Wange geschoben, die andere nutzlos und abgeknickt zum Boden baumelnd. Krümel irgendeiner Speise hafteten an seinen eingefallenen Wangen und am Kinn, an dem stoppeliger, grauer Haarwuchs ihn viel älter zeichnete als er eigentlich war. Er bemerkte nicht, dass sein Sohn die Flimmerkiste abschaltete, und auch nicht, dass die Schiebetüren sich quietschend schlossen, als Jeongguk sich ins einzige Schlafzimmer flüchtete, das die winzige Wohnung zu bieten hatte.
Behutsam übertrat er die verwahrlost aussehende Matratze seiner Eltern und die zurückgeschlagene Bettdecke, die unordentlich in sich zusammengefallen auf den Holzboden poolte. Die Luft war stickig und dick, weil offensichtlich niemand wagen wollte, noch schwüleren Sauerstoff von draußen die Räume fluten zu lassen.
Jeongguk lauschte einige Momente den Geräuschen seines Zuhauses. Wie der Boden in unregelmäßigen Abständen aus unergründlichen Ecken knackte, weil der Vorbesitzer irgendwann einmal Flüssigkeiten verschüttet und die Dielen sich damit vollgesogen und aufgebläht haben mussten. Wie irgendwo von außerhalb Sirenen der Polizei beurkundeten, dass in Toyama doch Leben stattfand. Wie die Klimaanlage über seinem Kopf mechanisch klingende, surrende Laute von sich gab, weil sie längst nicht mehr arbeitete und nur noch den Anschein von Funktionstüchtigkeit wahrte.
Er rutschte herunter und legte sich hin, um zur Decke aufzuschauen. Dann nahm er sich sein Kopfkissen, vergrub sein Gesicht darin und schrie auf.
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author's note
sope mentioned!! SOPE MENTIONED!!
can't wait for you to meet them ♡
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