{{19}} Hawk
Schlafloser Falke
Ich lief durch die Gassen und sah mich möglichst wenig um. Ich kannte alles hier. Wusste, wie jedes Haus aussah und was der Schlamm war, der den Boden rutschig machte und wie ein Stall voller Scheiße roch.
»Zu Hause ist es doch am schönsten, oder Kapitän?«
Ich sah Moha nicht an und sah auch an der kleinen Hexe vorbei, die mich immer wieder lange ansah. Nickend lief ich weiter und zog Scarlett beiseite, als ein Eimer Pisse aus einem Fenster geschüttet wurde und ohne mein Zutun auf ihr gelandet wäre.
Wie lange war ich nicht mehr hier? 12 Sommer?
In jedem Fall war ich damals noch ein halber Junge gewesen.
Mein Kiefer malte. So viel Dreck. So viel Armut. So viel Krankheit.
»Kapitän?«
Ich sah Moha an, die nun neben meiner kleinen lief. »Die See ist mein Zuhause. Nicht dieses Höllenloch. Das ist nur der Ort, den ich überlebt habe.«
Ich lief weiter und steuert das eine Haus an, das ich geschworen hatte, nie wieder zu betreten.
Dort angekommen, stürmten die Handvoll Männer hinein, die ich auserkoren hatte, mitzunehmen.
»Notgeiles Pack«, schnaubte Moha, betrat aber dann mit einem Blick auf mich selbst das Hurenhaus, das einst mein Heim war.
Ich starrte derweil einen Moment die Tür an und ließ die Erinnerungen über mich kommen. Dieses elende Bedürfnis, geliebt zu werden, hing diesem Haus und dieser Stadt nach und versuchte seine Krallen in mich zu schlagen. Das Bedürfnis, jemanden zu haben, nur eine Person, der ich wichtig genug war, um meinen tot zu betrauen, sollte er eintreten. Hunger, Angst und Fäulnis jagten mir Schauer über den Rücken, aber ich straffte mich.
Nein, dieser Ort hat keine Gewalt mehr über mich.
Die Kleine trat in mein Sichtfeld und sah mich besorgt an. »Alles in Ordnung bei dir? Du musst hier wirklich schlimme Erinnerungen haben. Tut mir leid.«
Nur meine Augen bewegten sich. »Spar dir dein Mitleid, Hexe. Ich brauche es nicht. Was ich hier erlebt habe, ist vergangen und was vergangen ist, ist für mich bedeutungslos.«
So viel Verlust.
Hunger.
Krankheit.
Suche nach Zuneigung.
Ich packte sie grob an der Wange und zog sie näher. »Sie mich nie wieder mit diesem mitleidigen Blick an, Scarlett Tudor. Tust du es doch, brenne ich dir die Augäpfel mit einem heißen Löffel heraus.«
Ihr Blick veränderte sich und Angst war darin zu erkennen. Scarlett schlug hart meine Hand weg und nahm Abstand.
»Genau deswegen mag dich keiner«, sagte sie und ging noch einen Schritt zurück.
Ich starrte sie nur an, verzog die Lippen und packte sie im Gehen am Arm. Zusammen liefen wir in das Bordell und sofort schlug mir die Mischung mehrerer Gerüche entgegen.
Parfum.
Schweiß.
Alkohol.
Opium.
Sex. Sex und noch mehr Sex.
Scarlett zappelte in meinen Griff, also ließ ich sie los und ließ alles auf mich wirken. Mein Blick huschte automatisch zu der Treppe, die in die einzelnen Zimmer im Obergeschoss führte und somit zu dem, indem ich und meine Mutter gelebt hatten.
So viele Erinnerungen.
Ich biss die Zähne zusammen und sah mich um. Der untere Bereich war offen und dazu gedacht, dass die Kundschaft sich eine Frau aussuchen konnte. Dreckige Kissen auf dem Boden, vereinzelt kleine Tische und Vorhänge mit Löschern, die den Anschein von Privatsphäre wahren sollten.
Ich schluckte.
Mein Blick wollte weiter wandern doch binnen weniger Sekunden, hingen plötzlich drei Frauen an meinem Arm.
»Welch hübscher Anblick.«
»Geh weg, Theodora! Ich habe diesen Happen zuerst gesehen.«
Sie schnaubte, während die Dritte ihre halb bedeckten Brüste ganz offenlegte und mir schlicht kokett zuzwinkerte. Ehe ich etwas erwidern konnte, was ich ohnehin nicht wollte, kam eine vierte Dame hinzu und ich erstarrte kaum merklich.
»Verschwindet, ihr fickrigen Aasgeier! Geht euch einen anderen Schwanz zum Lutschen suchen«, meinte die Frau und mein Blick traf ihren. »Der hier, gehört mir. Nicht wahr?« Sie schmiegte sich an mich und beugte sich zu mir hoch. Ihre Lippen trafen meine federleicht und ich verzog sie, als ihre Hand in meinem Schritt glitt.
Mein Blick wurde eisig. »So ein stattlicher junger Mann. Wie sieht es aus? Bist du an einer Frau interessiert, die etwas reifer ist, als die jungen Dinger?«
Ich schob sie von mir und sah sie an.
Das lange, einst edle Kleid war schmutzig und sie roch nach vielen Männern und dem süßen Duft von Opium.
Ich legte den Kopf schief und sah mir die Haare an, die meine Farbe hatten. Sah in die Augen, die so grün waren, wie meine es einst beide waren.
»Hallo, Mutter.«
Nun war es an ihr zu erstarren. Sie ließ die Hand sinken, die gerade im Begriff war, meine Männlichkeit zu verwöhnen, und ihre Augen weiteten sich. Sie ließ ganz von mir ab und trat einen Schritt zurück. »T- Talay?«
Meine Kleine sog erschrocken Luft in ihre Lungen und sah zwischen mir und der für sie fremden Frau hin und her.
»Talay?«, fragte sie überfordert.
Dann sah sie die Frau an, und ihr Blick wanderte über ihren Körper, bis hoch zu ihrem Gesicht. »Du siehst deiner Mutter wirklich ähnlich«, merkte sie an und sah zurück zu mir.
»S-Sohn«, setzte Mutter an und hob sich die Hand vor dem Mund, als hätte sie mich vermisst. Tränen traten in ihre Augen und sie schüttelte den Kopf. »Du ... hast dich verändert. Du bist so ... groß und ... ein Mann, ja das bist du.« Sie schluchzte, doch mein Blick blieb kalt. »Mein Junge!«
Sie rannte los und umarmte mich fest, aber ich sah nur gerade aus.
Früher hätte ich gemordet, um einmal so von ihr umarmt zu werden. Ich hätte alles getan. Alles!
Doch jetzt? Es widerte mich an.
Sie.
Der Ort.
Die Stadt.
Das Land.
Die verdammte Welt.
Ich sah zu der Prinzessin, die mir entgegensah, und beobachtete, wie meine Mutter, die mich eben noch für einen Freier gehalten hatte, an meine Brust weinte.
Ich verzog erneut die Lippen und bewegte mich dann. Ruckartig stieß ich meine Mutter einhändig beiseite, sodass sie nach hinten stolperte und mit einem Aufschrei auf dem Hintern landete. Sofort kam ein Kind angerannt und als es zu Mutter ging und ihr aufzuhelfen versuchte, wurde mir fast schlecht.
»Mutter! Gehts es dir gut?« Das Mädchen, dreckig und verlaust, sah von ihr zu mir.
»Verschwinde du Rüpel! Wenn du keine der Frauen willst, such die ein anderes Hurenhaus!«
Mit offenem Mund sah Scarlett mich an. Aber statt zu der Frau zu gehen, die ich als meine Mutter bezeichnete, stellte sie sich schützend vor mich.
Ich blinzelte.
»Ich kenne zwar nicht die ganze Geschichte, aber ich bin mir sicher, Talay wird einen Grund für diese Reaktion haben.«
Wäre Moha nicht gekommen, wäre mir eventuell der Mund aufgeklappt.
Sie verteidigte mich?
SIE?
»Na wen haben wir denn da? Mama Esmeralda, oder? Ja, eindeutig«, quasselte sie und spielte mit ihrem Dolch. »Na, jetzt weiß ich auch, von wem der gute Kapitän sein hübsches Aussehen hat. Für eine Hure in deinem Alter hast du dich gut gehalten.« Sie schob sich auch vor mich und das machte mich sowohl wütend als auch stolz.
Meine Schwester sah zu mir und ihre Augen wurden riesig. »Kapitän? Ein Piratenkapitän?«
Mein Blick flog zu dem vernachlässigten Mädchen und dann zu Mutter, als sie fragte: »Dann ... ist dein Vater ...«
Meine Stimme klang kühl. »Am Galgen gehängt worden. Und jetzt sag mir, wo ist Marina?«
»Ich bin hier, Junge.«
Ich wandte den Kopf ab und sah die eine Frau an, die einer Mutter am nächsten kam. Sie lief auf einen Stock gestützt auf mich zu und als sie mich nun umarmte, erwiderte ich die Geste. »Junge«, flüsterte sie wieder. »Es tut gut, dich zu sehen.«
»Ja, es ist auch schön, dich zu sehen, Marina.« Wir lösten uns und sie nickte zu einem Raum, der, wie ich wusste, privat und nur für die Frauen war. »Komm, Talay. Deine Gäste und du seit herzlich willkommen.«
Ich packte Scarlett am Arm, diesmal sanfter und zog sie mit mir, bis wir an der Tür ankamen. Ich wandte mich an Moha und befahl ihr, wachzuhalten und ignorierte den entsetzten Blick meiner Mutter und die Rufe, ich solle doch warten.
Als die Tür sich schloss, deutete Marina auf einen Tisch und die vier Stühle, die an dem vermotteten Holz standen. »Setzt euch. Ich bin sofort wieder da.«
Sie humpelte weg und verschwand aus der Tür, durch die wir eben reingekommen waren.
Scarlett sah mich an. »Dein echter Name lautet also Talay?« Nun senkte sie den Blick und sah zu Boden. »Entschuldige, ich hätte mich nicht einmischen sollen, aber dein Blick ... Du hast so unendlich traurig und enttäuscht geguckt.«
Ich betrachtete sie und nickte in Richtung des Stuhles. »Offensichtlich ist das mein Name, kleine Hexe. Und jetzt setzt dich.«
Sie hatte meine Miene gedeutet? Hatte ich mich so wenig im Griff gehabt?
Bevor sie einen Schritt machen konnte, um zu tun, was ich sagte, zog ich sie, aus einem mir unerklärlichen Grund, an mich. »Ich weiß nicht, ob ich dich für ein Eingreifen erdolchen oder küssen soll.«
Ein Hauch von Mitleid war in ihrem Blick zu erkennen, aber dieser verschwand schnell. Sie sah mir jedoch auf die Lippen, dann auf die Nase und weiter hoch in meine Augen. Eine Hand legte sie auf meine Wange und strich über die Narben.
»Ich finde, der Name passt zu dir. Ich mag ihn.«
Ach?
Sie sah zu den Narben und dann wieder zurück auf meinen Lippen. Bevor ich weiter reagieren oder denken konnte, stellte meine Kleine sich auf Zehenspitzen, zog mich todesmutig ein Stück runter und küsste mich sacht. Fast fragend.
»Ich habe dir die Entscheidung gerne abgenommen, Talay«, hauchte sie gegen meine Lippen und küsste mich daraufhin gleich noch einmal.
Ich schloss die Augen, legte einen Arm um ihren unteren Rücken und zog sie enger an mich. Den Mund öffnend, drang meine Zunge in ihren ein.
Poseidon, ich musste mich so weit herunterbeugen, weil sie so klein war!
Wir küssten einander einen Augenblick, aber ich hörte etwas, und noch in der sinnlichen Berührung mit ihr gefangen, zog ich einen Dolch.
Jemand kreischte auf und als ich mich löste und dort hinsah, wo meine Klinge gelandet war, hob ich eine Braue. Das kalte Metall lag an einem dünnen Hals, und auf diesem saß der Kopf eines Kindes, meiner Schwester, die mich erschrocken ansah.
»Was willst du, Mädchen?« Ich drückte den Dolch fester an ihren Hals, meine Hexe noch immer im Arm. »Hat dir deine Hure von Mutter nie beigebracht, dass man sich nicht an Männer meines Kalibers heranschleicht?«
»Ich ... I-ich ...«
Meine Züge mussten für sie wie die eines Dämons aussehen. Die Narben, die dunkel verfärbten Augenringe, der unbeeindruckte, eisige Blick.
Und eventuell war ich das ja auch für ein Kind in ihrem Alter. Wie viele Sommer hatte sie erlebt? 10, wenn ich schätzen musste.
Ich rührte mich nicht, doch Scarlett sah von mir zu dem Mädchen hinunter und legte eine Hand auf meinen Arm.
Wieder mal mutig, wenn man bedachte, wie ich und sie war.
Als sie wieder hoch zu mir sah, sagte sie: »Sie ist nur ein unschuldiges Kind.«
Ihre Stimme klang unendlich sanft, aber ihr Blick strahlte Entschlossenheit und die Aussage ›steck schon deinen Dolch weg, du machst ihr Angst‹ aus.
Ich sah ihr in diese seltsamen Augen, ließ den Dolch sinken, behielt ihn jedoch in der Hand.
»Verschwinde«, knurrte ich angefressen und strafte das Kind mit einem fürchterlichen Blick.
»A-aber ... du ... du bist mein .... B-Bruder.«
Ich brummte erneut gefährlich. »Ich bin nichts dergleichen. Diese Hure, da draußen, ist nur zufällig die Frau, die uns geboren hat und wir nur zufällig jene, die überlebt haben. Vor uns gab es tote Kinder und nach dir wird es sie auch geben.«
»Ab- aber ...«
»Du kannst mich mit deiner Art nicht um den Finger wickeln, törichtes Balg. Also verschwinde!«, brüllte ich das letzte Wort, und als sie ging, und fast an der Tür angekommen war, setzte ich hinterher: »Meine Beutel voll Münzen, wenn ich bitten darf.«
Sie erstarrte und biss die Zähne zusammen. Dann jedoch schnaubte sie, all die eben gespielte Angst verschwand und sie knurrte zurück, als sie mir den Beutel vor die Füße warf, den sie mir zuvor abgenommen hatte.
Es klimperte und sie zischte, bevor die Tür zufiel: »Du bist ein echter Mistkerl!«
Ich kickte mit der Stiefelspitze den Beutel hoch und fing ihn kopfschüttelnd auf.
»Ich will gar nicht wissen, wie viele Kinder sie in dieses Drecksloch geboren und demnach in den Gossen hat verrotten lassen«, sagte ich laut, was ich eigentlich nur denken wollte.
Wie oft konnte sie in 18 Sommer wohl empfangen, gebären und dann begraben? Wie viele Geschwister hatte ich auf diese Weise verloren?
Ich schluckte und wurde die Frage, ob ich Esmeralda nicht einfach den Kopf abschlagen sollte nach hinten. Ich war nicht wegen ihr hier.
Meine Aufmerksamkeit glitt wieder zu der Kleinen, deren Hand noch auf meinem Arm lag.
Sie starrte die Tür an und dann hoch zu mir. Einen Moment lang sah sie mich an, bevor sie sich wieder auf Zehenspitzen stellte und mich, so gut es eben bei meiner Größe ging, umarmte. Ihr Kopf reichte mir jetzt gerade so bis zum Hals.
»Egal wie sehr dich das trifft, du bist nicht mehr alleine und hast ihre Liebe nicht nötig. Du hast eine große Crew und Menschen an deiner Seite, die dir diese Liebe schenken«, sagte sie leise und ihr Atem streifte meine Haut.
Ich sah hinab. »Und wer sagt dir, dass ich das suche?«, fragte ich nun etwas gereizt.
Es passte mir kein bisschen, dass sie aus irgendeinem Grund anfing, mich zu lesen. Nein, das ging mir, bei Poseidons Eiern, gehörig gegen den Strich.
Ich nahm Abstand und zischte: »Setzt dich. Was auch immer du naives Ding meinst, zu wissen, ist falsch. Ich suche keine Liebe, meine Mannschaft ist nur so lange treu ergeben, bis jemand mit Münzen wirft oder die Angst vor mir nicht groß genug ist und am Ende des Tages«, fauchte ich mit zusammengebissenen Zähnen, »ist nie jemand bei mir, außer ich selbst.«
»Jeder«, mischte sich nun Marina ein, die gerade dir Tür öffnete und umständlich ein Tablett mit Getränken, einer Kerze und zwei Schalen, wie einem goldenen Messer und einer diversen Anzahl von Kräutern hereinkam, »sucht Liebe, Talay. Und jetzt setzt dich.«
»Sag mir niemals, was ich zu tun habe, Marina.«
Sie blieb stehen, und für eine Frau, die jetzt in ihren Fünfzigern sein musste, strahlte sie plötzlich eine massive Präsenz aus.
»Ich sagte«, wiederholte sie sich und ihre Augen, die zuvor ein warmen Braun hatten, wurden in wirbelnden Fäden zu einem dunklen Lila. Eine kleine Böe wehte durch den fensterlosen Raum und der Ursprung dieser, war Marina selbst. »Setzt dich, Junge.«
Marina, die sich mir bei meinem letzten Besuch als das preisgegeben hatte, dass sie war.
Eine Hexe.
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