27 Familie Smith.
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❰ S O P H I A ❱
Unruhig schritt ich im Penthouse hin und her. Unzählige Dinge hatten sich in den letzten Tagen ergeben. Die Hochzeitsvorbereitungen liefen. Endgame quasi. Die wenigen Einladungen waren raus, laut Mr Dominico war auch das Schiff gebucht und Liam war angeblich am Vortag da, um es sich anzusehen.
Sein Kommentar machte mir eher Angst und Bange, als dass er mich beruhigte. („Wird schon chillig werden.")
Es war keine richtige Hochzeit, beziehungsweise eine aus den falschen Motiven, aber trotzdem wollte ich, dass es irgendwie schön wurde. Meine nächste Sorge war, dass ich Eleanor immer noch nicht ausreden konnte diesen dämlichen Junggesellenabschied sein zu lassen.
Auch Louis sorgte nicht gerade für einen erholsamen Schlaf meinerseits, weil er mich das verfluchte Brautkleid nicht sehen ließ. Ständig hielt er mich hin. („Es ist noch nicht fertig.")
Von wegen.
Im Kopf ging ich alles noch einmal durch. Das Gästezimmer war bezogen, die zwei Kinderbetten aufgebaut und am Vorabend hatte Liam murrend und fluchend seine Sachen in mein Schlafzimmer gebracht. Wir hatten darum Poker gespielt, wer sein Schlafzimmer für die nächste Woche aufgeben musste und ich hatte einfach enormes Glück.
Irgendetwas war anders zwischen uns und auf dem ersten Blick konnte ich nicht genau sagen, was es war. Trotzdem empfand ich es als angenehm, denn es fühlte sich an, als wäre die ständige Abwehrhaltung mir gegenüber etwas gewichen.
Es änderte jedoch nichts daran, dass ich es immer noch hasste, wenn Liam mir demonstrierte, wie sehr mein Körper es mochte von ihm berührt zu werden. Ich konnte einfach nichts daran ändern.
Es klingelte und bei Gott, ich hoffte das es Liam war. Schon seit einer halben Stunde sollte er wieder da sein. Ich wollte mich nicht alleine in die Hölle des Löwen wagen. Draußen schneite es dicke Watteflocken und wenn er mir mit der Ausrede kam, dass der Verkehr stockte, dann saß meine Familie ebenfalls noch fest.
Ergo: Er musste trotzdem vor ihnen hier sein. Rein logisch betrachtet, aber bei Liam war rein gar nichts logisch. Die Erkenntnis ereilte mich, als ich die Tür des Penthouses öffnete und zwei kleine Mädchen in meine Arme stürzten.
Emma, kaum fünf Jahre alt, plapperte sofort drauf los: „Tante Softy! Tante Softy, draußen ist ganz viel Schnee, können wir wieder raus? Hast du einen Garten? Einen Schlitten?"
Mit zerzausten dunkelblonden Haaren sah Emma mit braunen Kulleraugen zu mir auf. Ihre kleine Schwester, Mary, die gerade das dritte Lebensjahr erreicht hatte, vergrub ihr Gesicht fest in den Stoff meines schwarzen Rollkragenpullovers. Ihr kleines Zöpfchen wippte auf und ab. Beide Kinder rochen nach Schnee und waren eiskalt.
„Kommt erst einmal rein, wir trinken eine heiße Schokolade und dann schauen wir, ja?", vertröstete ich sie, dann fiel mein Blick auf meine Schwester Zoé. Abgekämpft aber sichtlich zufrieden strahlte sie mich an: „Gott sei dank sind wir endlich da! Vom Flughafen bis hier hin ist es das reinste Abenteuer! Wir haben ewig im Stau gesessen und dann musste Emma zum Klo und Mary hatte durst, also haben wir bei Wendy's angehalten. Übrigens, du hast uns einen wirklich tollen Fahrer geschickt, Basil ist ein Schatz, nicht wahr, Fritz?"
Meine Schwester redete in einer Tour und als sie sich weiter schnatternd an mir vorbei schob, da sah ich meinem Schwager, wie er als Packesel fast einklappte. Hinter ihm schleppte ein schnaufender Basil weitere Reisetaschen und zwei Koffer.
Ich wagte es kaum Fritz zu begrüßten, seine übergroße Brille war beschlagen, sein Haar an den Spitzen feucht und ein hässlicher Kaffeefleck auf seiner Jacke. „Einfach reingehen und stell die Sachen irgendwo im Flur ab." Mit einem Keuchen signalisierte er mir, dass er mich verstanden hatte.
Dann sah ich auf die letzte Person und auch jene, vor der ich am meisten Angst hatte.
Meinem Vater.
Es war merkwürdig ihn in Jeans und schlichten Wintermantel zu sehen. Er wirkte durch und durch gelassen.
Mit den Augen scannte er mich ab, dann machte er ein paar Schritte auf mich zu und sprach: „Entschuldige unsere Verspätung, Kleines." Seine Umarmung war warm und herzlich, dann drückte er mir einen Kuss auf die Stirn und lächelte leicht: „Nun denn, dann stell mir den Mann vor, der dich innerhalb von wenigen Wochen dazu brachte ihn heiraten zu wollen."
Obwohl er freundlich klang, wusste ich es besser. Mein Vater war nicht sonderlich begeistert davon, dass ich Liam heiraten wollte. Man musste jedoch berücksichtigen, dass er meinen Schwager Fritz, auch nicht besonders gemocht hatte. Dabei war der 1.90-Meter-Mann ein echter Teddy und ließ sich dermaßen von meiner Schwester unterbuttern, dass ich mich fragte, wie er sich als Partner im Architektur-Büro durchsetzten konnte.
„Bist du deshalb erst hier her gekommen, statt direkt Geoff zu besuchen?", fragte ich und nahm seinen Mantel an. Dann dankte ich kurz Basil für seine Hilfe und schloss die Tür wieder.
„Unter anderem", gab er zu und besah sich das Penthouse: „Kleines, wirklich schön hast du es hier." Dieser Smalltalk sollte nur vom eigentlichen ablenken, ich sah es an diesem betont gleichgültigen Blick, den mein Vater aussetzte.
„Dad, wirklich?"sprach ich und meine Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln. „Versprich mir, dass du nett bist, wenn Liam gleich nach Hause kommt." Nach außen spielte ich die besorgte Verlobte, aber eigentlich traute ich Liam zu, dass er sich von meinem Vater nicht verspeisen ließ.
Oberflächlich betrachtet war mein Dad ein harmloser Familienanwalt, aber im Gericht, wenn er für misshandelte Kinder und zerrütteten Familien kämpfte, dann jagte er einen dezent Angst ein. Es waren schon so einige Gegenkläger heulend abgezogen und Ordnungsstrafen vom Richter persönlich, wegen Einschüchterung, waren auch oft genug ins Haus geflattert.
Die nächsten Minuten verbrachte ich damit Zoé und Fritz das Gästezimmer zu zeigen und den Mädchen Liams improvisiertes Schlafzimmer, wo die beiden Kinderbetten aufgebaut waren. Das Zimmer sah fast aus wie eine Spielhölle.
Sein Bett war zur einer mächtigen Kuschelcouch umfunktioniert. Kissen, Stofftiere, bunte Decken so weit das Auge reichte. Emma stürzte sich sofort drauf und hüpfte auf und ab. Mary stolperte auf ihren kurzen Beinchen voran und verliebte sich direkt einen Stoff-Pinguin und schloss ihn in ihre Arme. „Winni!", erklärte sie glücklich. „Darf ich ihn 'ham?"
„Natürlich", sprach ich und band ihr die dunkelblonden Locken zurück zu einem ordentlichen Zopf.
Während die Kinder tobten, schnupperten sich Zoé und Fritz durch das Penthouse und mein Vater öffnete die erste Flasche Wein.
Essen hatte ich großzügig bestellt und die belegten Platten warteten nur darauf aus dem Ofen genommen zu werden. Ich hatte mir Mühe gegeben typisch britische Speisen zu organisieren. Denn selbst kochen konnte ich sie nicht.
Hühnerfleisch, serviert mit Gemüse und in Speck gerollten Chipolata-Würstchen dazu Brots- und Preiselbeerensauce. Zum Nachtisch hatte ich Yorkshire Pudding und Crumble mit Beeren. Ungehemmt sah sich Zoé in der Küche um: „Ich würde meinen, wir sind in London, nicht in New York. Wieso gibt es keine amerikanische Küche?"
„Die kriegt ihr die nächsten Tage sowieso", antwortete ich und hörte sie seufzten: „Oh wow, pigs in blankets, die hatte ich schon ewig nicht mehr! Das Diner wird dich ein Vermögen gekostet haben."
„Ach was, du musst einfach damit rechnen auf dein geliebtes Porridge die nächste Woche verzichten müssen. Es sei denn wir gehen Frühstücken." Ich sah, wie Fritz die übergroße und furchtbar komplizierte Anlage im Wohnzimmer inspizierte. Der Tisch war gedeckt und eigentlich warteten alle nur noch auf Liam, aber jeder war zu höflich, um sich darüber zu beschweren.
Umso erleichterter war ich, als ich endlich hörte, wie sich die Haustür öffnete. Schnell stellte ich mein Glas Wein ab und sah im Flur, wie Liam einen großen Karton abstellte und einen Kleidersack in den Händen hielt.
„Wo warst du so lange!", flüsterte ich wütend und er schüttelte sich schlecht gelaunt. Schneeflocken fielen aus seinen Haaren: „Auf den Straßen und in den Geschäften ist die Hölle los. Außerdem wolltest du doch, dass ich noch Spielzeug besorge."
Ich beäugte die Kiste. „Eine Ritterburg von Playmobil? Ich habe Nichten, nicht Neffen."
„Jetzt wirst du aber sexistisch, Sweets. Mädchen sollten genauso mit Autos und Burgen spielen dürfen, wie Jungen mit Puppen", erwiderte er und ich verzog das Gesicht: „Und das von einem so chauvinistischen Kerl, bei dem man meinen könnte, er wäre mit Donald Trump verwandt."
„Was hast du gegen den guten alten Donald?", fragte er gespielt entrüstet und pellte sich aus seinem dicken Parka. Okay, er war scheinbar in der Stimmung mich zu reizen, also atmete ich tief durch, dann sprach ich: „Sei freundlich und... bleibe höflich."
Liam rollte mit den Augen: „Deine Freundinnen habe ich auch auf meine Seite gezogen, also ein bisschen Vertrauen in meine Fähigkeiten Leuten das Blaue vom Himmel herunter zu labern, solltest du schon haben."
Schweigend sah ich ihn an, doch er ließ sich nicht drauf ein, sondern drückte mir stattdessen den Kleidersack in die Arme: „Hier, von deinem Goldjungen. Das Kleid für dich Hochzeit für deine Schwester."
„Sicher, dass es nicht meines ist?", aufgeregt öffnete ich den Sack vorsichtig. Enttäuscht verzog ich das Gesicht, als ich feststellen musste, dass es sich tatsächlich nicht um mein Brautkleid handelte.
Liam stellte die Kiste nun auf den Boden und nahm mir den Sack aus den Händen: „Vielleicht gehört dein Goldjunge in den Arsch getreten, damit du dieses dämliches Kleid endlich kriegst, auf das du so scharf bist."
„Louis lässt sich nicht stressen, er wird dann nur noch trödeliger", merkte ich frustriert an. Liam grinste: „Langsam fange ich an diesen überteuren Spinner zu mögen."
„Du magst alle Leute, die anderen auf die Nerven fallen", korrigierte ich ihn. Leicht neigte er den Kopf: „Ich sehe, wir verstehen uns. Also – deine Sippe ist hier?"
Kurz darauf stellte ich Liam offiziell meiner Familie vor. Meinen Vater kannte er oberflächlich und während dieser nur einen kräftigen Handdruck mit Liam austauschte, schien meine Schwester ihn völlig überdreht zu umarmen und sofort auf ihn einzuplappern: „Schön, dass wir uns kennen lernen! Ich habe Sophia gesagt, ihr sollt uns besuchen kommen, aber dann kamst du uns zuvor indem du den heiligen Kniefall vor unserer Kleinen machtest – ich will übrigens alle Einzelheiten! Hat es jemand gefilmt? Ihr müsst es uns erzählen, war es windig und kalt, war es der blühende Herbst?"
Ich musste Liam zu Gute halten, dann er seine freundliche Miene beibehielt. Fritz begrüßte ihn eher zurückhalten und verhaltend, während meine zwei Nichten nur höflich 'Hallo' sagten. Das Essen wurde quasi von Zoé gesteuert. Sie bestimmte die Gesprächsthemen und niemand schien etwas dagegen zu haben.
Es war seltsam zu sehen, dass Fritz sich um die Mädchen kümmerte und Zoé die Rolle des Ansagers übernahm. Mein Vater startete erst am Abend sein Verhör, nämlich als ich Emma und Mary ins Bett brachte und Zoé die Küche an sich riss. Fritz packte die Koffer aus und nachdem ich die Geschichte vom Zwerg Bobbo erzählt hatte, der eine Prinzessin heirate wollte, machte ich mich auf dem Weg, um im Wohnzimmer eventuell eine Leiche in Plastikfolie zu wickeln.
Zu meiner Überraschung war die Plastikfolie unnötig, denn mein Dad und Liam saßen sich auf der Couch je gegenüber und unterhielten sich wie normale Leute. Kein Zähne fletschen, noch irgendetwas sonst. Dennoch sah ich den bohrenden Ausdruck auf dem Gesicht meines Vaters, während Liam komplett gelassen erschien.
„Entspann dich", sprach Zoé als sie meinen Blick folgte und mich anwies, ihr in der Küche beim wegräumen zu helfen. „Noch hat Dad ihn nicht verschlungen und wenn jemand wie Fritz ein solches Verhör überlebt, dann tut Liam das auch."
„Darum geht es mir nicht", wich ich aus und räumte die Platten weg. Zoé drehte sich lächelnd um: „Angst, dass Dad irgendetwas aus Liam rauskriegen könnte, was dich beschämen würde?"
Nein, aber das er irgendwie den Braten roch, dass etwas nicht stimmte. Es reichte mir, dass ich Eleanor ständig auswich und anlog. Ihr Blick behagte mir nicht und ich hatte die Befürchtung, dass sie mich irgendwann regelrecht in die Ecke drängen würde.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich zwei Stunden später froh darüber war, dass mein Vater aufbrach, um zu Geoff zu fahren. Dort würde er übernachten und die meiste Zeit verbringen. Zoé hielt mich dennoch ziemlich auf Trapp. Sie schnatterte und erzählte so viel, dass ich kaum dazu kam mir sämtliche Neuigkeiten abzuspeichern. News über Nachbarn, ehemalige Klassenkameraden, Bekannte und was wusste ich nicht alles.
Erst um kurz nach Mitternacht fiel ich fix und fertig und mit dröhnenden Kopf ins Bett. Aus meinem Bad drangen noch Geräusche und prompt erinnerte ich mich daran, dass ich mir für die folgende Woche das Schlafzimmer mit Liam teilen musste.
Ich bereute es, dass ich nicht meinen kuscheligen Pyjama, mit den Fröschen drauf angezogen hatte, sondern ein Nachthemd. Mühsam zog ich die Decke bis zum Kinn und drehte mich auf die andere Seite, sodass Liam nur meinen Rücken zur Gesicht bekam.
„Deine Schwester ist die Hölle", vernahm ich seine dunkle Stimme. Dann hörte ich es klicken und das Licht im Bad ging aus. Die Matratze bewegte sich. „Im ernst, sollte sie irgendwann entführt werden, dann war'n es Terroristen, die sie zur neuen Geheimwaffe machen. Schlagzeile: Präsident totgequatscht – wir befinden uns im Krieg mit England. Scheiße ist die Matratze weich, als würde man in Watte pennen."
„Hör auf dich zu beschweren", brummte ich und zog mir die Decke über die Ohren.
„Ich will Schmerzensgeld", äußerte er sich und schnaubte: „Und mit deinem Vater stimmt irgendetwas nicht."
Nun hatte er meine Aufmerksamkeit und ich drehte mich um: „Wie bitte?"
Liam lag auf dem Rücken und runzelte die Stirn: „Man merkt, dass er ein Anwalt ist. Seine Fragen waren harmlos, zumindest auf den ersten Blick, aber eigentlich wollte er mir nur durch die Blume sagen, dass ich ein Versager bin. Nichts, was man mir noch nicht gesagt hat."
„Quatsch, er war ganz normal", warf ich ein, dann rollte ich mich wieder auf die Seite. „Hör auf dir was einzubilden." Ich wollte mir gar nicht ausmalen was passierte, wenn mein Dad je hinter dem Vertrag stieg. Er würde Geoff erschießen und mich bis an mein Lebensende auf dem Dachboden gefangen halten.
„Nacht", schloss ich deshalb knapp und versuchte einzuschlafen. Das Problem war jedoch, dass es mir sichtlich schwer fiel mich neben Liam zu entspannen. Ich lauschte seinem Atem und spürte wegen der Matratze seine Bewegungen.
Gerade, als ich glaubte für fünf Minuten im Reich der Träume zu sein, hörte ich leise jemanden meinen Namen sagen.
„Tante Softy?", flüsterte eine zarte Stimme leise, so als wäre er sehr weit weg. Ich reagierte nicht und erst, als das Stimmchen deutlicher wurde, zwang ich mich die Augen aufzumachen.
„Tante Softy... kann ich kuscheln?"
Mehrmals musste ich blinzeln, dann erkannte ich Mary in ihrem Nachthemd und Winni in den Armen. Das große Kuscheltier ließ sie winzig aussehen.
„Natürlich." Ich streckte die Arme aus, hob sie hoch und legte sie in die Mitte, dann deckte ich sie zu.
Es war ungewohnt, ein kleines Kind dabei zu haben und irgendwie war es niedlich, wie sie sich an Winni kuschelte und ihre kalten Füße mich frösteln ließen. Mary schlief noch einmal ein und ich tat es auch. Zwei Stunden später wurde ich erneut wach, weil Liam nieste und frustriert aufstand. Ein zweites Kind kroch ins Bett und er machte bereitwillig platz.
Um kurz vor sieben waren sowohl Emma, als auch Mary ausgeschlafen und wollten beschäftigt werden. Allgemein war meine Familie unruhig. Zoé machte ein Frühstück, bei dem ich mich fragte, ob sie noch jemanden erwarten würde.
Danach war ich fast nur unterwegs. Sie wollte die Fifth Avenue sehen, den Times Square besuchen und Henry & Payne beschnuppern. Zu Hause bestürmten mich dann die Mädchen und wollten stundenlang spielen.
Es gab kein Entkommen.
Weihnachten verbrachten wir auf Henry Castle und es verstörte mich. Das Anwesen war festlich geschmückt für die Feiertage. Es gab einen gigantischen Weihnachtsbaum und üppige Deko, sowie ein traditionelles Weihnachtsessen mit Gans.
Ein gebuchter Weihnachtsmann gab sich die Ehre und es war faszinierend Gwyneth und Leeann dabei zu zusehen, wie entzückt sie von Emma und Mary waren. Da war es auch egal, dass Emma im Eifer des Gefechts, als sie in ihrem neuen Ballettkostüm eine kleine überschwängliche Tanzeinlage gab und dabei eine 15.000 Dollar Vase um schmiss.
Gwyneth, die Hexe, wie ich sie heimlich taufte, setzte sich in einem Vera Vang Kostüm tatsächlich auf dem Boden und las Mary etwas aus dem neuen Buch 'Briefe von Felix' vor. Bei einer Tasse Punsch raunte ich Zoé zu: „Du musst mir die beiden leihen, sie bändigen die größten Monster."
„Deine Schwiegermutter und ihre Majestät sind die reinsten Lämmchen", meinte Zoé verwirrt. Für mich blieb es jedoch seltsam. Schrecklich harmonisch und irgendwie irritierte es mich, dass sich beide Familien so gut verstanden. Ob sie jetzt alle schauspielerten, oder nicht.
Ich war froh darüber, dass bei den Paynes nicht viel Wert auf Geschenke gelegt wurde. Für die Kinder gab es eine Ausnahme und Liam und ich konnten uns damit herausreden, dass wir uns zu Hause schon beschenkt hatten.
Aber in Wahrheit hatten wir einfach darauf verzichtet uns gegenseitig vorgeheuchelte Aufmerksamkeiten zu schenken.
Es gab einen langen Weihnachtspaziergang und ich unterhielt mich lange mit Joseph Payne, der die neuen Entwürfe lobte. („Ich habe mir den Zwischenstand angesehen und bin begeistert. Sehr schöne Arbeit.") Erst Gwyneth unterbrach uns mit den Worten, dass wir zumindest über die Feiertage die Arbeit ruhen lassen sollten.
Ich konnte beobachten, wie lebhaft sich Geoff und mein Vater unterhielten. Sie gingen miteinander um, als wären sie wieder zwanzig und nicht im besten Großvateralter. Kurz lauschte ich alten Anekdoten und hoffte, sie würden nicht allzu stark dem Scotch zusprechen und sich daneben benehmen. Zutrauen würde ich es ihnen.
Grace zog sich mit ihrer neuen Beute sehr schnell zurück und probierte sich durch ihr neues iPhone. In ihrem Alter konnte ich die Langeweile verstehen. Ich ließ sie in Ruhe und blieb auf meinem Platz, in einem grünen Ohrensessel, sitzen und lauschte der kitschigen Weihnachtsmusik. Dabei fiel mir auf, dass Liam sich erschreckend stark zurückhielt. Er sagte den Abend über kaum etwas und schien die Minuten zu zählen, bis die Scharade vorbei war.
Verdenken konnte ich ihm das nicht.
Nach Weihnachten vermisste ich irgendwie ein bisschen Ruhe, denn ganz egal, wo ich war, irgendwie kam ich nie dazu tief durchzuatmen. Denn überall schwirrten Leute um mich herum. Im Büro wurde ich ständig von irgendwelchen Personen gestört, die unzählige Dinge unterschrieben haben wollten.
Die Nähzimmer wurden aufgeräumt und ich überall rausgescheucht und Louis' schlechte Laune tat ich mir genau zwei Stunden an. Er murrte was von Stress, Ärger und das ich endlich verschwinden sollte. Dem Gefallen tat ich ihm, nachdem ich die Nase voll davon hatte angemeckert zu werden.
Zwischen Weihnachten und Neujahr war in New York die Hölle los. In ein Café brauchte ich überhaupt nicht reinzugehen. Zum einen, weil ich nicht unbedingt zehn Fotografen dabei haben wollte und weil in fast jedem Café die Hölle los sein musste. Ich wollte einfach nur in Ruhe zeichnen. Für eine Stunde, mehr oder weniger.
Sichtlich frustriert kehrte ich Heim, doch im Flur kam mir die zündende Idee. Lautlos nahm ich einen Autoschlüssel aus einer Schublade im Flur. Ich hörte, wie die Mädchen kreischten und Gwyneth mit meiner Schwester sprach. Ich würde der Hexe im eigenen Penthouse nicht entkommen können und darauf hatte ich gerade absolut keine Lust.
Kurz entschlossen fuhr ich in die Tiefgarage und suchte die Parkplätze ab. Ich wusste zwar, dass Liam und ich mehrere Autos hatten, aber mit dem schwarzen Range Rover war noch nie einer von uns gefahren. Der Wagen war groß und ich konnte es mir dort sicher ein wenig gemütlich machen. Als ich ihn fand, beschleunigte sich mein Schritttempo.
Endlich.
Ich drückte mehrmals den Knopf für die Schlossöffnung und dann riss ich die Tür auf. In diesem Moment erschrak ich mich fast zu Tode. Mir rutschte die schwere Handtasche mit den Zeichenmaterial von der Schulter und ich stolperte prompt einen Schritt zurück. Starker Nikotingeruch schlug mir entgegen.
„Verdammt, Liam, was machst du hier!" Ich hustete und öffnete die Tür komplett, damit dieser beißende Gestank verschwand.
„Die Stimme deiner bescheuerten Schwester hat mir einen Gehirnschaden verpasst!", fauchte er und wedelte mit der Hand neben seinem Kopf herum. Er trug, genau wie ich, noch seine Jacke und hielt in der anderen Hand eine Zigarette.
Am Aschenbecher sah ich, dass Liam schon länger hier war und dann zog er sich die Kopfhörer vom Kopf. „Außerdem hatte ich wirklich keinen Bock meiner Granny bei den Vorzügen von Enkelkindern und überhaupt Hosenscheißern zu zuhören! Und bevor ich mit Puppen spiele, hänge ich mich lieber selbst auf."
Tief seufzte ich: „Ich dachte du hast eine Playmobil-Ritterburg gekauft."
„Das heißt aber nicht, dass ich damit spielen muss!", wies er mich mies gelaunt darauf hin. Müde streckte er die Beine aus und ich hörte ihn gähnen. Lange schlafen war nicht mehr drin, seit Mary und Emma zur Besuch waren. Man hörte sie pünktlich um sieben. Entweder krochen sie dann schon zu uns, oder sie rannten über den Flur.
Ich warf meine Tasche voran und kletterte ins Auto, dann schloss ich die Tür hinter mir. „Du magst keine Kinder", stellte ich fest und Liam zuckte mit den Schultern: „Nicht wirklich."
„Pech für dich, sie bleiben bis zum 31. Dezember, also gewöhne dich die nächsten Tag noch dran." Im Auto streckte ich ebenfalls die Beine aus und ließ mich in das bequeme Polster sinken. Ruhe, ach war das herrlich.
Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Es tat so gut, einfach einmal niemand um sich herum zu hören. Irgendwie war ich verwöhnt, was das anging.
„Es ist deine Familie, du hast kein Recht genervt von ihnen zu sein", hielt mir Liam vor und zündete sich eine neue Zigarette an. Ich drehte den Kopf in seine Richtung, wer hätte gedacht, dass wir uns ausgerechnet auf dem Rücksitz eines Autos treffen würden.
„Und trotzdem können sie einengend sein", ich nahm ihm die Zigarette aus den Händen und nahm selbst einen Zug. Ich war kein Raucher, aber gerade wollte ich mich wirklich entspannen. Nur half mir Nikotin nicht dabei. Im Gegenteil, meine Lungen zogen sich nur unangenehm zusammen. Ich reichte ihm den Giftstängel zurück.
Schweigend saßen wir nebeneinander in dieser halbdunklen Tiefgarage. Es gab eindeutig schönere Orte.
„Was tust du hier, Sweets?", fragte er schließlich. „Ich meine, wieso ich hier bin ist klar."
Natürlich, er hatte die Nase voll davon den vorbildlichen Verlobten zu spielen und er brauchte Luft, immerhin stürzte sich meine Familie, abgesehen von meinem Vater, wir Haie auf ihre Beute auf ihn.
„Ich wollte zeichnen", gab ich zu. „Aber überall werde ich entweder rausgeschmissen, oder es ist laut." Sichtlich frustriert schloss ich: „Ich kam nach Hause und habe nur die Worte Nachwuchs und Enkelkinder gehört, das war für mich Zeichen genug, dass ich noch nicht bereit für diese Hölle bin."
Liam schmunzelte: „Lass mich raten, meine Granny ist immer noch oben im Penthouse."
„Also warst du oben?"
„Nein, ich habe kehrt gemacht, als Basil mir mitteilte, dass sie uns bereits mit ihrer Anwesenheit beehren würde", wehrte er ab. „Aber ich habe mir das oft genug anhören dürfen. Ihre erste Frage am Telefon, als ich ihr von 'dir' erzählt habe war, ob ich dir einen Braten in die Röhre gelegen hätte."
Das überraschte mich nicht, immerhin hatte sie beim ersten Treffen dasselbe gefragt. Ich seufzte und sprach sarkastisch: „Das man dir so etwas zutraut."
Statt sich provoziert zu fühlen, beugte er sich vor und zog noch einmal fest an der Zigarette, dann sprach er gleichgültig: „Von mir wirst du so oder so kein Kind kriegen."
Nun sah ich ihn mit hochgezogenen Brauen an. „Ernsthaft? Glaubst du wirklich, es würde zu meinem Plan gehören von dir geschwängert zu werden? Meinst du, ich mache einen auf Boris Becker-Affäre und begehe Samenklau bei dir? Ohne dich in deiner Eitelkeit kränken zu wollen, aber deine Gene sind nichts, auf das ich besonders scharf bin."
„Großartig, dass wir uns so einig sind. Zumindest in einer Sache", merkte er an. Liam drückte die Zigarette aus, dann musterte er mich und ein arrogantes Grinsen glitt über seine Lippen: „Und Sweets, schon mal auf dem Rücksitz eines Autos rumgemacht?"
„Das geht dich nichts an."
„Also nicht", schlussfolgerte er vollkommen richtig. Da ich nicht auf dieses Thema weiter eingehen wollte, fragte ich: „Übrigens, was ich wissen wollte, wenn wir verheiratet sind und du stirbst, kriege ich dann deinen Fond und die Firmenprozente?"
„Planst du meinen Mord - ist es das, was du mir sagen willst?", stieg er drauf ein und verringerte den Abstand zwischen uns. Ich wollte mich nicht nervös machen lassen, also verzog ich nachdenklich das Gesicht: „Wie würdest du dein Ableben denn vorziehen? Schnell und schmerzlos oder lieber mit viel Tohuwabohu?"
„Klingt, als hättest du schon genaue Vorstellungen", merkte er an. Wieso ich diesen Quatsch, den ich selbst angefangen hatte, weiter spann, wusste ich nicht: „Hm, ein Föhn in der Wanne, ein Messer im Rücken, eine aufgeschlitzte Kehle im Schlaf, durchgeschnittene Bremsen im Auto, mir würde genug einfallen."
„Blutrünstige Zicke", murmelte er nur. „Dann nehme ich das Messer im Rücken."
Gerade wollte ich fragen, ob es ein Fischmesser oder ein Kartoffelschäler sein sollen, als Liam sich einfach vorbeugte. Ich spürte seine Lippen auf meinen, schmeckte Nikotin und starken Kaffee. Es ging so schnell, dass ich über alles andere nicht weiter nachdachte, allen voran, weil es Liams Küsse wirklich in sich hatten. Sie waren überrumpelnd, leidenschaftlich und unberechenbar, genauso wie Liam selbst.
Seine Hände glitten an meinen Seiten entlang und hoben mich schließlich hoch. Schwungvoll zog er mich so auf seinen Schoss. Seine Zunge drängte sich ohne falscher Scheu meiner entgegen und dann spürte ich, wie seine Hände an meinem Mantel zerrten, ihn öffneten und von meinen Schultern zogen.
Liams Lippen lösten sich kurz von meinen, sein Atem strich über meinen geschwollenen Lippen: „Du hast eindeutig immer viel zu viel an." Mein Mantel fiel zu Boden und dann knipste ich meinen sowieso schon dämlichen Verstand aus.
Denn die Küsse sorgten dafür, dass ich mich endlich entspannte und dass der Stress abfiel. Plötzlich war er einfach weg. Stattdessen konzentrierte ich mich völlig auf Liams Lippen, die meine Nerven flattern ließen.
Ich rieb mich gegen ihm und vernahm einen erregten Seufzer seinerseits. Seine Hände wanderten an meinem Körper herunter und als er den Stoff der Hose ertastete, wirkte er frustriert. Meine Finger glitten unter dem Pullover, der unter seiner offenen Jacke hervor lugte. Mit den Fingerkuppeln ertastete ich ausgeprägte Bauchmuskeln und bemerkte eine angenehme Gänsehaut.
Wenn Liams Berührungen es schafften, dass ich abschaltete, mich entspannte, dann war es etwas Gutes und sollte ich das nicht ausnutzen? Immerhin hatte ich davon auch Vorteile. Ich strich mit meinen Lippen über seine Wange, bis zu seinem Hals. Dort saugte ich mich fest und spürte, dass er in mein Haar griff. Sein heftiger Atem gefiel mir, es gab mir das Gefühl von ein Quäntchen Überlegenheit.
Ich wollte das genießen, zumindest noch für eine Weile. Es tat zu gut.
Doch bevor ich mich wirklich darauf einlassen konnte, klopfte jemand heftig gegen die Autoscheibe und erschrocken fuhren Liam und ich auseinander.
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