3. Kapitel

Sarah

»Ruhe!« Der König, gefolgt von seiner Frau, der Prinzessin und dem Prinzen, tritt durch die Tür in den Saal ein.

Bei der Schönheit des Prinzen verschlägt es mir beinahe den Atem. Ich schlucke und zwinge mich, nicht über mich selbst die Augen zu verdrehen. Je länger ich ihn betrachte, desto mehr spüre ich auch wieder den Schmerz – den Schmerz, den er mir zugefügt hat. Er zuckt durch meinen ganzen Körper.

Genau in dem Augenblick, als ich den Blick gerade abwenden will, sieht der Prinz mich an. Seine Augen leuchten, was mich dazu veranlasst schnell wegzusehen. Stattdessen starre ich auf den König.

Er ist groß und breit, hat eine ähnliche Statur wie sein Sohn und die gleiche dunkelbraune Haarfarbe. Seine Haare sind allerdings nicht mehr so dicht und haben einen leichten grauen Schimmer. Er ist dicker und furchteinflößender als sein Sohn. Auch seine Augen sind anders – kalt, eindringlich und ohne jegliche Emotion. Er hat die Augen eines Monsters.

Mit großen, machtdemonstrierenden Schritten kommt er auf uns zu. Die Anwesenden setzen sich stumm wieder auf ihre Plätze, alle mit gesenktem Kopf. In ihren Gesichtern kann man den großen Respekt für den König ablesen.

Nur der korpulente Mann, Claire, die Wachmänner und ich stehen noch wie angewurzelt am selben Ort.

Als der König zum Stehen kommt, baut er sich bedrohlich vor uns auf. Sein majestätisches Gewand bäumt sich im Wasser auf, was ihn nur noch mächtiger und unantastbarer erscheinen lässt.

Die Wachen verbeugen sich unterwürfig, treten zügig hinter mich. Auch Claire und der Mann verneigen sich vor ihm. Ich denke nicht einmal dran.

Aus empathielosen Augen sieht er mich an. »Ich denke, wir kennen uns noch nicht?« Seine Stimme ist tief und gefühlslos.

Ich erwidere nichts, fixiere ihn nur mit festem Blick und verschränke langsam die Arme vor der Brust, zum Zeichen meiner Ablehnung.

Angespanntes Raunen hallt durch den gesamten Saal. Vermutlich widersetzt sich nicht oft jemand diesem Tyrannen. Aber was habe ich schon zu verlieren?

Mein Leben, höre ich eine leise Stimme in meinem Kopf, aber verdränge sie sofort wieder. Wie gesagt, mein Temperament wird mir noch den Tod bringen.

Der König starrt mich einige Augenblicke still an. Dann streckt er seine linke Hand aus, presst sie auf meinen oberen Rücken und drückt mich gewaltsam in eine Verbeugung.

Ich bin wie eingefroren, kann mich nicht dagegen wehren. Seine Hand ist eiskalt und fühlt sich an, wie ein schweres, grausames Gewicht, das man nicht abschütteln kann. Ein kalter Schauer fährt mir durch die Glieder und ich bekomme eine Gänsehaut.

»Meinst du nicht, du solltest deinem König ein wenig Ehre erweisen?«, fragt er in einem eisigen Ton.

Ich sage nichts, versuche seiner Berührung zu entfliehen. Ich werde mich vor diesem Mann nicht noch tiefer verbeugen, wie ich es schon tue.

Als er bemerkt, dass ich versuche, mich zu wehren, schnaubt er abfällig und schnippt mit den Fingern. Einer der Wachmänner tritt hinter mir aus dem Schatten und reißt mich mit brutaler Gewalt zu Boden. Meine Knie schlagen auf dem harten Grund auf und ich presse die Lippen zusammen, um ein gequältes Stöhnen zu unterdrücken, weil mein ganzer Körper noch immer schmerzt.

Diese Genugtuung werde ich ihm nicht geben.

Er schaut von oben zu mir herunter und verzieht die Lippen zu einem boshaften Lächeln. »Und dein Name war gleich ...?«

Ich bleibe still, bis ich einen weiteren gewaltsamen Stoß von hinten spüre, ausgeführt von einem der Wachen. Alle Augen im Saal sind auf mich gerichtet und ich spüre wie mir, vor lauter Abscheu für diese Menschen, die Galle hochkommt. »Sarah«, hauche ich.

Der König lächelt noch immer eiskalt. »Willkommen im Palast, Sarah. Ich hoffe, dir wird es an nichts fehlen.« Seine Stimme ist so ruhig, viel zu ruhig. Aber unter der Oberfläche brodelt es, etwas in ihm ist bereit, jederzeit auszubrechen.

Die Ruhe vor dem Sturm.

»Mein König, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie ohne Aufforderung anspreche, aber dieses Mädchen ist frech und ihre Dienstmagd noch dazu. Meinen Sie nicht, es gibt passendere Wege, diese Aufmüpfigen loszuwerden, als sie an unseren Tischen speisen zu lassen?«, fragt der rundliche Kerl, der mich geschlagen hat, leise und verbeugt sich tief vor dem König, traut sich nicht, ihm ins Gesicht zu blicken.

Der Angesprochene lächelt weiterhin sein falsches Lächeln, bei dem mir fast die Adern gefrieren, und blickt ihn an. »Danke für Ihre Meinung, Mac«, sein Lächeln verschwindet, »aber ich weiß, was ich tue.«

Er schaut diesen Mac drohend an, welcher kleinlaut den Kopf einzieht.

»Natürlich, Majestät.« Er lässt von ihm ab und geht, ohne dem König den Rücken zuzuwenden, zurück an den Tisch.

»Und du, verschwinde von hier«, wendet sich der König herrisch an Claire und wedelt mit der Hand.

Diese macht einen unterwürfigen Knicks, eilt aus dem Saal und wirft mir über die Schulter noch einen kurzen Blick zu.

Ich sehe ihr nach, bis sie verschwunden ist und setzte mich ebenfalls an den schick dekorierten Tisch.

Die Wachmänner nehmen rechts und links neben mir Platz.

Wie gemütlich.

Ich starre zum Podest hinauf, das der König in diesem Moment betritt. Die gesamte royale Familie lässt sich auf ihren edlen Stühlen, an ihrer eigenen Tafel, nieder. Mein Blick wandert über ihre Gesichter.

Die Prinzessin hat eine ähnliche Figur wie ihr Bruder und ihr Vater. Etwas breiter und üppiger als die ihrer Mutter. Sie ist wirklich wunderschön. Ihre Haare sind dunkelbraun, genau wie die des Prinzen und glänzen im Licht der Kronleuchter. Sie sind zu einer raffinierten Frisur zusammengesteckt, damit sie nicht im Wasser herum schweben. Ihr Kleid ist bodenlang und blütenweiß, bestickt mit blauen Perlen. Ihre Haut ist bleich, die Lippen purpurrot und sie hat dunkelblaue Augen, in denen ein gleichgültiger Ausdruck liegt.

Die Königin hingegen ist dunkelblond, schmal und schlank. Sie wirkt ganz anders als der Rest ihrer Familie. Doch auch sie ist bildhübsch und trägt ein langes dunkelblaues Kleid. Ihre Miene ist erstaunlich weich, doch auch ihr traue ich nicht.

Mein Blick schweift zu dem Prinzen. Er sitzt ein bisschen abseits, hat seinen Stuhl von dem seiner Schwester etwas weggeschoben und schaut gedankenverloren aus dem Fenster. Seine Augen leuchten wieder in diesem tiefen Blauton; das Licht der Kronleuchter verstärkt das noch zusätzlich. Er wirkt seltsam angespannt.

Ich wende meinen Blick ab und starre auf die mit Speisen gefüllten Platten vor mir. Alles durchnässt. Die anderen Menschen an meinem Tisch greifen freudig zu. Wie können sie diesen matschigen Fraß nur genießen?

Ich frage mich, wer sie alle sind. Herzöge, Grafen und Fürsten? Oder auch Menschen aus einfacherem Stand? Kopfschüttelnd schaue ich wieder auf das Essen.

Ich fasse keinen Happen dieser Mahlzeit an. Einerseits, weil es ekelhaft nass ist und andererseits, weil es mich zu sehr an meine Familie erinnert ...

Sofort muss ich an die vielen Tage auf dem Feld denken. Wie meine Eltern und ich anpflanzten, gossen und ernteten. Mir wird augenblicklich schwer ums Herz. Also sitze ich einfach da, starre aus den Fenstern und beobachte die Wasserwelt. Ich sehe, wie die Sonne durch die Oberfläche bricht; wie die Strahlen wie lange Finger durch das Wasser greifen.

Die Wasserstädte sind nicht im tiefen Wasser, sondern immer im seichten, in der Nähe der Küsten. Das tiefe Wasser gehört den Fischen und Pflanzen, die dort noch in Ruhe leben können. Zum Glück. Außerdem sind die Wassermenschen nicht weit vom Land entfernt, damit sie näher an ihren Lebensmitteln sind.

Im nächsten Moment schiebt sich eine dunkle Gestalt vor das Fenster, verdeckt mir die Sicht.

Es ist der Prinz. Gemächlich lässt er sich mir gegenüber auf der langen Bank nieder und starrt mich undurchdringlich an. Ich starre zurück.

»Hallo Sarah«, sagt er halbwegs freundlich – ich antworte nicht. Ich kenne ja nicht einmal seinen Namen.

Andere Menschen am Tisch drehen sich zu uns um, sie scheinen neugierig geworden zu sein. Was macht der Prinz bei einer aufmüpfigen Gefangenen?

Dieser sieht mich nun verächtlich an, den Mund zu einem spöttischen Lächeln verzogen. »Heute nicht besonders gesprächig, was?«, fragt er höhnisch und ich muss unweigerlich an den Dolch denken.

Ich kneife die Augen zusammen, seufze tief und bleibe still. Was will er mit dieser gespielten Nettigkeit erreichen? Als ich die Augen wieder öffne, liegt sein Blick immer noch auf mir, sein Gesichtsausdruck ist unverändert.

»Wie auch immer. Ich dachte, du willst vielleicht etwas essen. Du ... solltest etwas essen«, fährt er fort. Dann stellt er eine kleine, grüne Box vor mir ab.

Fragend schaue ich ihn an. »Was ist das?« Mein Tonfall ist schärfer als beabsichtigt.

»Ach, kannst du auf einmal doch wieder sprechen?«, gibt er von sich und verengt seine Augen.

»Sei doch einfach leise ...«, murmle ich genervt, doch er grinst nur wieder spöttisch.

Eine blonde Frau neben ihm zieht scharf die Luft ein. »Henry, mein lieber Neffe, was tust du da? Aus welchem Grund redest du mit ihr und warum lässt du es zu, dass sie so mit dir umgeht?«, fragt sie mit hoher Stimme.

Henry. Das ist also sein Name.

»Genau, warum eigentlich, Henry?«, ahme ich die Frau nach, die Arme vor der Brust verschränkt.

Der Prinz sieht mich halb belustigt, halb verärgert an und dreht sich zu ihr. »Guten Tag, Tante Maggie. Ich rede mit ihr, weil Vater mich dazu aufgefordert hat, dass ich mich um sie kümmern soll. Ich bin für ihre Befragung verantwortlich. Und nein, ich finde es nicht okay, wie sie mit mir umgeht, aber keine Sorge, das wird nicht unbestraft bleiben.« Seine Augen funkeln gefährlich, bevor er fortfährt.

»Ich will, dass sie etwas isst, damit sie für die Befragungen tauglich ist.« Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.

Nicht unbestraft? Noch eine Befragung?

»Und stimmt es ...« Seine Tante senkt die Stimme, doch ich kann sie immer noch verstehen. »... dass Ihre Majestät sie gestern hinrichten wollte und du ihn daran gehindert hast? Warum? Was ist sie denn bitte wert? Und was ist das für eine Lehre für alle anderen Aufmüpfigen? Sie werden denken, sie kommen einfach so davon.«

Henry lacht leise. Warum auch immer. »Ja, es stimmt. Ich habe meinen Vater davon abgehalten, sie umzubringen. Es wäre dumm, es jetzt zu tun. Wir können noch so viel über andere Aufmüpfige herausfinden, noch so viel von ihr erfahren, wenn sie einmal alles preisgibt. Und das ist vielleicht noch eine größere Lehre für die Aufmüpfigen als ihr Tod ... wenn wir alles über sie erfahren und damit aufhalten können.«

Das haben sie also mit mir vor. Mich so lange zu foltern, bis ich alles verrate. Blanke Wut kriecht in mir hoch. Nicht mit mir.

Ich recke mein Kinn in die Höhe. Ich werde nichts und niemanden verraten.

Henrys Tante scheint damit beruhigt zu sein, wendet sich wieder ihrem Teller zu und beginnt ein Gespräch zu ihrer anderen Seite. Niemand beachtet uns mehr.

»Glaub bloß nicht, dass ich bei deinem ach so tollem Plan mitmache«, zische ich dem Prinzen zu.

Dieser erwidert nichts. Stattdessen deutet er auf die Box. »Iss. Luftgefüllt«, sagt er knapp und stützt das Gesicht in seine Hände. Ich starre auf die Box. Mein Magen knurrt unruhig, doch gleichzeitig möchte ich nichts vom Prinzen annehmen. Als ich mir vorstelle normales, nicht zermatschtes Essen vor mir haben zu können, kann ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich nehme etwas Brot und Kartoffeln und umhülle die Box anschließend mit einer Luftblase. Langsam öffne ich sie, lege die Speisen hinein und berühre sie mit meinen Fingerkuppen, bis sie trocken sind. Ich beuge mich so weit nach vorne, bis sich die Luftblase um meinen Kopf mit der um die Schachtel verbindet und beginne zu essen, so gut das mit gefesselten Händen eben funktioniert. Henry beobachtet mich aufmerksam. Ich fühle mich unwohl in seiner Gegenwart und freue mich schon darauf, wieder allein in meinem Zimmer zu sitzen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der der brennende Blick des Prinzen mich nicht einmal verlassen hat, verstummt das Klirren des Bestecks und die ersten Menschen strömen mit vollen Bäuchen aus dem Saal. Henry steht auf und verschwindet wortlos.

Als ich Claire sehe, die am Eingang steht und auf mich wartet, fällt mir ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Schnell springe ich auf, die Wächter folgen mir.

»Claire.« Ich seufze erleichtert und folge ihr in den Gang.

Nach ein paar Schritten dreht sie sich zu mir um und zieht eine Augenbraue hoch. »War es wirklich so schlimm?«

»Schlimmer.« Wir biegen in den nächsten Gang ab. »Du hattest recht«, fahre ich resigniert fort und Claire dreht sich zu mir um, sieht mich fragend an und wird ein bisschen langsamer. »Der König hatte tatsächlich vor mich hinzurichten«, teile ich ihr mit und sie atmet so heftig aus, dass kleine Bläschen neben ihren Kiemen aufsteigen.

»Der Prinz hat es ihm wohl ausgeredet, weil er noch mehr Informationen aus mir herausquetschen will.« Ich rümpfe die Nase.

Claire mustert mich. »Danke«, sagt sie schließlich.

Ich blicke die verwundert an. »Wofür?« Zügig hole auf, bis ich neben ihr gehe. »Für vorhin ...«

Ich nicke leicht.

»Aber«, fährt sie fort, »das hättest du nicht tun müssen. Und auch nicht tun sollen.«

Ich schweige für einen Moment.

»Ich weiß. Aber ...« Ich verstumme und suche nach den richtigen Worten, schaue nach oben zur bemalten Decke und danach direkt in Claires dunkle Augen. »... es war nicht richtig, wie er mit dir umgegangen ist. Das hört sich jetzt total lahm und klischeehaft an, das weiß ich selbst. Aber genau wegen dieser Einstellung bin ich hier gelandet, also ... Warum damit aufhören?«

Sie erwidert meinen Blick und ich meine, eine leichte Bewunderung darin zu erkennen. Schließlich wendet sie sich ab und dreht sich wieder nach vorne. »Was ist schon richtig?«

Ich gebe ein trockenes Lachen von mir und nicke. Sie hat recht. Wer bestimmt, was richtig ist?

Eine Weile laufen wir still weiter.

Dann richtet Claire das Wort wieder an mich. »Wirklich, danke. Ich hab echt keine Ahnung, ob du lebensmüde bist oder einfach nur verdammt mutig ...«

Ich grinse und sie schenkt mir ebenfalls ein aufrichtiges Lächeln.

Wir durchqueren einen großen Raum, der mit Bildern geschmückt ist. Als ich einen Blick auf die Wand werfe, bleibe ich abrupt stehen und starre die Gemälde interessiert an.

Auf einem ist der König zu sehen. Er starrt finster auf mich herab, fast verächtlich. So wie auch im realen Leben. Aber nicht er ist es, der meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Es ist Henry.

Er ist auf einem großen Gemälde abgebildet, etwas weiter rechts von seinem Vater. Sein Gesichtsausdruck sieht seltsam aus ... als wäre er unsicher mit irgendetwas. Sein Blick wirkt verschleiert. Er ist viel jünger als jetzt, schätzungsweise gerade mal zwölf Jahre alt. Doch seine Augen leuchten in dem gleichen tiefen Himmelblau.

Claire stellt sich neben mich und schaut mich von der Seite an. »Weißt du, eigentlich ist er ein guter Mensch. Freundlicher und gütiger als sein Vater. Vielleicht wird er eines Tages ein besserer König; ein gerechterer ...«, sagt sie leise.

Ich kneife meine Augen zusammen. »Ein guter Mensch? Und gute Menschen foltern ihre eigenen Untertanen? Wenn du es sagst.«

Claire schluckt hörbar. »Für ihn bist du eine Bedrohung, eine Gefahr für sein Königreich und seine Aufgabe ist es, alles für dieses Königreich zu tun ... zur Not alles zu opfern. Sogar sein eigenes Leben, wenn es nötig ist«, wispert sie und schaut mich dabei nicht an.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, kann es nicht glauben, was sie da gerade sagt. Als wäre er ein verdammter Heiliger.

»Als wäre es dieses Königreich wert. Als wäre ihm dieses Königreich etwas wert. Es ist nur ein Haufen Asche und besteht fast ausschließlich aus unterdrückten, unglücklichen Menschen. Er wird kein guter König. Und selbst, wenn er gerechter als sein Vater wäre, würde sich rein gar nichts ändern. Er würde so reagieren, wie es ihm beigebracht wurde und ihm wurde beigebracht, uns zu unterdrücken. Daran ändert Verstand und Güte nichts«

Claire erwidert eine Zeit lang nichts, starrt stumm auf das Gemälde. »Manchmal ist die Güte und der Verstand so groß, dass sich etwas ändern kann.«

Ich wische mit der Hand über mein Gesicht und versuche, mich zu beherrschen. Nichts, was sie von sich gibt, ergibt Sinn. Und wenn sie das nicht erkennt, ist sie wohl blind. Die lange Zeit, in der sie hier wohnt, hat ihr wohl eine Gehirnwäsche gegeben. »Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«, platzt es etwas zu schroff aus mir heraus und ich räuspere mich schnell, um es zu vertuschen.

Doch zu spät. Claire reckt ihr Kinn und dreht sich zu mir. Ein gefährliches Funkeln liegt in ihren Augen, eines, das ich zuvor noch nicht bei ihr gesehen habe.

»Was soll diese Frage? Denkst du ich stehe auf deiner Seite? Ich bin ein Wassermensch, ob du es glaubst, oder nicht. Aber meine Loyalität gilt nicht König Michaelsen, sondern Henry – nur, falls du dich das fragst. Ich bin nicht auf des Königs Seite. Aber ich habe Hoffnung auf den nachfolgenden.«

Nachdenklich schaue ich sie an. Ich weiß, dass sie nicht voll und ganz Wassermensch ist, aber ich werde nicht weiter nachfragen. Ich habe ihre Nerven schon zu sehr strapaziert. Meine Neugier für ein anderes Thema ist sowieso längst geweckt. »Klingt, als kennst du den Prinzen sehr gut?«, frage ich, eine Spur sanfter und vorsichtiger.

Ihr Kiefer spannt sich an und ihr Blick wird starr. »Ich arbeite schon eine Weile hier ...«, murmelt sie.

Ich runzle die Stirn.

Eine Lüge.

Aber ich beschließe, nicht nachzubohren und laufe weiter. Claire folgt mir schnellen Schrittes. Allerdings ist sie nun still, versunken in ihren eigenen Gedanken. Es scheint, als hätte ich irgendeine Erinnerung in ihr wachgerufen, die sie verdrängt hat und der sie jetzt nachhängt.

Den restlichen Tag verbringe ich damit, aus dem Fenster zu starren. Ich denke an meine Familie, versuche, mir vorzustellen, was sie gerade machen.

Ob es ihnen gut geht?

Ob sie gerade alle zusammen am Tisch sitzen und sich unterhalten? Ob mein Vater gerade das Brot backt, während meine Mutter die Oliven einölt? Ob Lee mit ihrem Teddy im Arm auf der Wiese sitzt? Ich wünschte, ich wäre bei ihnen.

Claire hat sich in ihre Kammer zurückgezogen. Seit unserem Gespräch hat sie nichts mehr von sich gegeben. Zum Glück werde ich nicht zum Abendessen in die Halle gebracht. Noch einmal hätte ich das heute nicht ausgehalten.

Claire stellt einfach nur ein Tablett mitsamt einer luftgefüllten Box vor mir ab und verschwindet sofort und ohne ein Wort wieder in ihrer Kammer.

Ich seufze und starre hinauf zur Wasseroberfläche, bilde mir ein, dass ich dahinter sehen kann. Dass dort die grünen Wälder auf mich warten und ich die weiten Felder und den Wind spüren kann. Doch natürlich sehe ich nichts außer tiefes Blau und verschwommenes Wassergrün. Das salzige Wasser wirkt auf die Dauer drückend; es fühlt sich an, als wäre es entsetzlich schwül.

In der Nacht schlafe ich unruhig, wache andauernd wieder auf. Ich bin es nicht gewohnt in so einem großen Bett zu schlafen. Und ich vermisse die Wärme von Lees Körper, der sonst immer neben mir liegt. Ihre gleichmäßigen beruhigenden Atemgeräusche.

Lee.

Ich vermisse sie schrecklich, vermisse das traurige, zerbrechliche Mädchen mit den großen braunen Augen. Ich hoffe, dass es ihr nicht noch schlechter geht, seit ich weg bin. Jetzt hat sie noch jemanden verloren, den sie liebt – an die gleichen Leute, und ich weiß nicht, ob sie das noch einmal aushält. Noch immer habe ich Hoffnung, dass sie irgendwann wieder so fröhlich und ausgelassen wird, wie vor dem Vorfall.

Ich seufze und setze mich im Bett auf. Es ist stockdunkel und ich kann den Mond kaum durch die Wasseroberfläche sehen. Von Sternen ganz abzusehen. Ausgelaugt lasse ich mich in die Kissen fallen – der unruhige Schlaf übermannt mich sofort.

Der folgende Tag zieht in derselben leeren Langsamkeit an mir vorbei, in der ich aus dem Fenster blicke. Ich werde glücklicherweise nicht zum Essen geholt, bleibe den ganzen Tag alleine auf dem Boden zurück. Allein die seltene Gesellschaft von Claire lenkt mich ab, als sie Essen vorbeibringt und ein paar gezwungene Sätze mit mir wechselt. Ganz die zurückhaltende Dienstmagd. Sie ist nicht mehr dieselbe Claire wie vor unserem Gespräch. Diejenige, die offen, nett und freundlich zu mir war. Eine Aufmunterung an diesem tristen Ort. Aber ich musste unser aufkeimendes gutes Verhältnis natürlich gleich wieder zerstören.

Ich halte es in der Stille meines Zimmers kaum aus, sehne mich nach irgendeiner Ablenkung. Aber da ist nichts außer diese allumfassende Leere.

Am zweiten Tag ohne jegliche Geschehnisse bitte ich Claire nach ein paar Blättern Papier und einem Stift. Bereitwillig und ohne nachzufragen macht sie sich auf den Weg.

Ich setze mich an den Tisch und fange an, irgendwelche Kritzeleien darauf zu malen, nur damit die Leere mich nicht wieder komplett ausfüllt. Damit ich nicht ständig an meine Familie denke. Das macht alles nur noch schlimmer.

Ich habe nie verstanden, warum das Papier sich unter Wasser nicht auflöst. Aber auch dafür war unser Dorf nie zuständig. Ich denke, es ist aus ganz anderem Material, als das Papier, das wir auf dem Land benutzen.

Am frühen Mittag wird auf einmal die Tür aufgerissen. Ein schwarz gekleideter Mann steht im Raum, füllt ihn mit seiner vor Macht strotzenden Ausstrahlung gänzlich aus. Die Wachmänner stehen direkt hinter ihm.

Claire kommt blitzschnell aus ihrer Kammer herausgesprungen. »Herr? Was ist los?«, fragt sie erstaunt. Der Mann schaut sie ernst an.

»Der König möchte mit ihr reden.« Er wirft einen ablehnenden Blick in meine Richtung.

Claire nickt. »Lassen Sie uns bitte für fünf Minuten allein.« Der Mann macht eine zustimmende Geste und verschwindet augenblicklich in den Korridor.

Claire schiebt mich vor den Kleiderschrank, holt ein rotes, bodenlanges Kleid heraus und dazu die gleichen schwarzen Schuhe, die ich beim letzten Mal getragen habe. Bevor ich protestieren kann, dass ich dieses – für meinen Geschmack – viel zu prunkvolle Kleid nicht anziehen werde, deutet sie mir an meine jetzigen Kleider auszuziehen. Etwas in ihrem Blick lässt mich verstummen. Blinde Entschlossenheit.

Ich schließe meinen halb geöffneten Mund und drehe mich ergeben dem Spiegel zu.

Als ich das Kleid anhabe, bindet Claire meine Haare zu einem geflochtenen Dutt und trägt mir sogar noch Lippenstift auf. Dann schaut sie ihr Werk zufrieden an und lächelt. Es ist beinahe ein boshaftes Lächeln. »Zeig's ihnen«, flüstert sie mir in die Haare.

Ich schaue sie verwundert an, will etwas erwidern, doch sie zerrt mich schon zur Tür. »Kommst du nicht mit?«, frage ich erschrocken.

Sie schüttelt nur den Kopf. Dann fällt die Tür ins Schloss und ich bin allein mit dem unbekannten Mann und den Wachen.

Es ist schwer mit dem Fremden Schritt zu halten; er läuft schnell und ich stolpere beinahe die ganze Zeit über mein Kleid. Es ist ein paar Zentimeter zu lang.

Nach kurzer Zeit biegen wir in einen langen Gang, woraufhin wir einen weiten Raum betreten. An der Wand hängen Landkarten und überall liegen Bücher herum. In der Mitte steht ein Tisch, auf dem weitere Karten und Zeitungen verteilt liegen.

Erst jetzt erkenne ich, was auf darauf abgebildet ist. Verschiedene Teile des Landes und des Meeres. Ich mustere sie interessiert, bis eine laute Stimme ertönt.

»Wie konnte es nur so weit kommen?«

Schnell drehe ich mich um und sehe Henry, der wild gestikulierend vor seinem Vater steht. Der Prinz ist wütend und scheint mich noch nicht bemerkt zu haben. Die Wachmänner fesseln erneut meine Hände. Ich schnaube. Was denken sie? Dass ich jemanden erwürgen will? Lächerlich. Alleine gegen so viele bewaffnete Personen. Als ob ich eine Chance hätte.

Der König neigt den Kopf schief, als er mich bemerkt. Ich verenge die Augen. Auch Henry dreht sich um, seine Miene wirkt dunkel und bedrohlich. Als er mich sieht, rümpft er die Nase, als wäre ich wertloser Dreck. Doch seine Augen weiten sich und leuchten kurz in einem helleren Blauton auf. Lodernde Wut breitet sich in meinem Inneren aus.

»Vielleicht kann unser Gast uns bei ein paar Fragen behilflich sein«, schnaubt Henry verächtlich.

»Mein Sohn, beruhige dich. Aber tue, was auch immer du tun musst«, erwidert der König und legt ihm eine Hand auf die Schulter. Was für eine liebenswürdige Geste von einem solchen Monster. Bei der Ironie dieses Anblicks kann ich nicht anders, als zu lachen. Es ist ein trockenes und leises Lachen.

Henry kommt mit großen Schritten auf mich zu. »Was ist so lustig, Sarah?« Seine Stimme trieft vor Verachtung.

Ich presse die Lippen zusammen und bleibe still, als er noch näher kommt.

»Heute Morgen sind die Soldaten zurückgekommen, die wir in dein Dorf geschickt haben.« Er spricht nicht weiter, sieht mich nur an. In seinen Augen blitzt Bedrohung auf und ich mache einen Schritt zurück.

Nein. Bitte lass nichts passiert sein.

»Sie haben nichts gefunden. Keinen noch so kleinen Hinweis«, fährt er fort und deutet auf mich. »Angeblich wusste keiner etwas davon, die Spuren verlaufen sich im Sand.« Er blickt mich verbittert an und sieht nach einiger Zeit zu Boden, beginnt vor mir auf und abzugehen und faltet die Hände hinter seinem Rücken.

»Ich habe dir doch gesagt, dass sie alle weg sind oder nichts damit zu tun haben«, gebe ich leise von mir. Erleichterung macht sich in mir breit und ich muss ein triumphierendes Lächeln unterdrücken. Es ist alles gut gegangen.

»Ja, das hast du. Komisch nur, dass dein Dorf vollzählig war. Niemand ist verschwunden. Du hast aber gesagt, dass alle, die etwas damit zu tun hatten, abgehauen sind. Nun stellt sich die Frage: Wer spricht die Wahrheit? Du oder die Leute aus deinem Dorf?«

Sofort ist die Anspannung zurückgekehrt und es fährt mir eiskalt den Rücken hinunter.

»Unsere Leute hatten ein hübsches Gespräch mit diesem Jack. Und deinen Eltern.«

Ich spüre, wie ich blass werde.

Nein.

Er hält kurz in seiner Bewegung inne, um meine Reaktion zu verfolgen. Doch ich presse die Zähne aufeinander und verstecke meine Gefühle hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit.

»Ich bin nicht dumm, Sarah. Ich weiß, dass irgendjemand in deinem Dorf etwas damit zu tun hat. Aber niemand zeigt etwas oder verhält sich verdächtig. Es gibt keine einzige Spur.« Bedrohlich funkelt er mich an. »Seltsam nicht wahr? Also stellt sich mir die Frage, warum warst du so unvorsichtig, wenn deine Leute jeden falschen Schritt gekonnt verstecken?« Er setzt sich wieder in Bewegung, kommt näher auf mich zu. So nah, dass ich nur meine Hand ausstrecken müsste, um ihn zu berühren.

Ich lege den Kopf schief und schließe die Augen. Ich kann ihm nicht von dem Mädchen erzählen. Das wäre der Beweis, den er noch braucht, um ganz klar zu wissen, dass noch viele andere aus dem Dorf darin verwickelt sind. So viele, dass wir sogar unseren Kleinsten schon zeigen, wie man Botschaften hinterlässt.

Außerdem würde er nicht verstehen, warum ich mich für ein junges Mädchen geopfert habe.

»Vielleicht bin ich ja doch dumm und du hattest recht in diesem Punkt«, sage ich schließlich und schaue ihn herausfordernd an.

Er runzelt missbilligend die Stirn. »Das denke ich nicht. Aber ich werde es herausfinden. Ich lasse es nicht zu, dass die Spuren sich in Luft auflösen. Ich tue das für mein Land«, antwortet er sachlich und richtet sich in voller Größe vor mir auf.

Ich lache trocken. »Dein Land? Meinst du etwa, dass du deinem Land damit etwas Gutes tust? Indem du nur auf die eine Hälfte deiner Untertanen eingehst und die anderen völlig unterdrückst? Aber natürlich. Du machst das nur für dein Land, damit es diesem an nichts fehlt.«

Er kommt in schnellen Schritten auf mich zu, packt mein Kinn und drückt es nach oben, sodass ich ihn anschauen muss. »Halt lieber den Mund, oder ...«

Ich starre ihn wortlos an.

»Sohn, beherrsche dich! Sie ist unsere einzige Informationsquelle.« Die barsche Stimme des Königs durchschneidet das Wasser und lässt den Prinzen erstarren. Er scheint ziemlichen Respekt vor seinem Vater zu haben. Man merkt es daran, wie er sich in seiner Gegenwart bewegt, wie sein Gesichtsausdruck sich verändert. Er nimmt eine geduckte Haltung an. »Vater ...« Henry nickt und wendet sich wieder mir zu.

In dem Moment reiße ich mein Gesicht ruckartig aus seiner Handfläche und taumle ein paar Schritte nach hinten, knalle gegen ein Bücherregal. Von dem obersten Brett fällt ein Stapel Karten auf mich hinab. Ich ducke mich erschrocken zur Seite weg, knicke meinen Knöchel um und falle auf den Boden.

Mit zwei Schritten ist Henry bei mir und reicht mir seine Hand. Als ich nicht danach greife, packt er meine Taille, zieht mich auf die Beine und schiebt die Karten mit dem Fuß ein paar Zentimeter weg. Dabei lässt er mich nicht los. Prüfend schaut er mich an, sein Blick ist weicher als noch vor wenigen Sekunden.

»Alles klar bei dir?«, flüstert er und ich meine, ehrliche Besorgnis in seiner Stimme zu hören.

Ich erwidere nichts, sondern runzle nur verwirrt die Stirn. Ist der Prinz besorgt um mich? Dann nicke ich hastig und winde mich aus seinem Griff.

Er lässt rasch die Hände sinken und macht einen Schritt zurück. Den Kopf wendet er ab.

Vorsichtig gehe ich auf die Tür zu. »Kann ich gehen? Oder wollt ihr noch was wissen?« Ich schaue genervt zum König und ignoriere Henry, wie er so mitten im Raum steht.

Der König schaut mich mit ernster Miene an. Wir messen uns mit Blicken, bis man beinahe das angespannte Knistern im Wasser spüren kann. Dann lächelt er aufgesetzt. »Aber natürlicher, Liebes«, sagt er mit einem süßlichen Tonfall. Seine Stimme umgarnt mich wie klebriger Honig. Ich verziehe angeekelt den Mund und verdrehe die Augen.

Ich öffne die Tür und möchte gerade im Gang verschwinden, als ich aus Henrys Richtung ein »Ich begleite sie« höre.

Verwirrt drehe ich mich zu ihm um und sehe wie er ebenfalls in den Gang hinaustritt und die Tür hinter sich schließt. Ich beobachte ihn von der Seite, als er sich in Bewegung setzt. Schwach fallen Sonnenstrahlen durch die großen Fenster ins Schlossinnere und verfangen sich in seinen Haaren, was sie glänzen lässt.

Als er bemerkt, dass ich ihn fixiere und daraufhin die Stirn runzelt, wende ich schnell den Blick ab. Ich habe wirklich keine Lust, ein Gespräch anzufangen.

Kurz ruhen seine Augen auf mir, doch er läuft weiter schweigend neben mir und den Wachen her, scheint in seine eigenen Gedanken versunken zu sein. Er blickt aus den raumhohen Fenstern, starrt auf die Straßen hinab, auf denen rege Geschäftigkeit herrscht.

Ob gerade Menschen aus einem anderen Dorf auf dem Marktplatz ihre Ware verkaufen? Sehnsuchtsvoll schiele ich auf das geschäftige Treiben. Vielleicht sogar Leute aus meinem Dorf? Das würde bedeuten, dass mein Dad hier ist. Vielleicht bin ich nur einen Wimpernschlag von ihm entfernt.

Und von Jack.

Angestrengt starre ich aus dem Fenster, kneife die Augen zusammen, um irgendetwas erkennen zu können, auch wenn ich nicht einmal bis zum Marktplatz sehen kann.

»Nach was suchst du?« Interessiert wendet Henry sich mir zu.

»Nicht so wichtig ...«, erwidere ich und beschleunige meinen Schritt.

»Du hoffst, dass sie hier sind nicht wahr?« Er holt mich ein und ich kann seinen Blick förmlich auf mir spüren.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Deine Familie.«

Ich seufze. Eigentlich geht es ihn nichts an und ich sollte ihm nichts über mich erzählen, aber andererseits ist es nichts, was mir schaden könnte und ich brauche gerade jemanden zum Reden. »Ich hoffe es, ja. Ich würde sie so gerne sehen.« Gedankenverloren starre ich auf den Boden. »Ich vermisse sie ...«

Er nickt, als würde er es verstehen, als würde er irgendetwas verstehen.

Ich schnaube.

»Ich verstehe, dass du sie vermisst«, meint er leise. »Auch wenn du denkst, dass ich so etwas nicht fühlen kann.« Er seufzt leise und meidet meinen Blick.

Mit gemischten Gefühlen sehe ich ihn an. Irgendwie ist mir der nachdenkliche, ruhige Prinz ganz sympathisch.

Ich schüttle energisch den Kopf, erschrocken über meine eigenen Gedanken und biege so schnell wie möglich in den Gang ein, in dem mein Zimmer ist. Gott sei Dank sind wir hier.

»Wohin gehst du?«, erklingt Henrys tiefe Stimme.

Verblüfft drehe ich mich um. Wie bitte? Bin ich im falschen Gang? Ich schaue mich um. Nein, ich bin definitiv richtig.

»Ähm ... in mein Zimmer«, erwidere ich schlicht.

Er lächelt geheimnisvoll. »Schade. Ich dachte, du wolltest deine Familie sehen ...«

»Was?«, platzt es aus mir heraus.

»Ich glaube, du hast heute Glück und dein Wunsch geht tatsächlich in Erfüllung.« Er vergräbt seine Hände in den Hosentaschen der Jeans, die er heute anstatt einer Uniform trägt. »Sie sind auf dem Marktplatz«, fügt er hinzu und mir wird ganz schwindelig.

Sie sind wirklich hier.

Ich versuche, meine Freude zu unterdrücken und schaue ihn prüfend an. »Warum sollte ich dir vertrauen?«, frage ich schnippisch und verschränke die Arme vor der Brust.

Er zuckt mit den Schultern. »Tu's einfach.«

»Du hast mich gefoltert.«

»Ich weiß. Es war meine Pflicht und ich würde es auch nicht rückgängig machen, selbst wenn ich es könnte.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Gar nicht psychomäßig und gruselig ...«

Er schmunzelt leicht. »Wenn du meinst.«

Ich nicke übertrieben und schaue ihn immer noch verwirrt an. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit diesem plötzlichen Stimmungswandel umgehen soll. Die Unterhaltung bisher war ehrlich und offen, sodass ich fast ganz vergessen habe, mit wem ich eigentlich spreche.

»Naja, es ist deine Entscheidung. Du kannst auch den Rest des Tages in deinem Zimmer sitzen und die Wand anstarren ...«

Ich verdrehe die Augen und beschließe kurzerhand, so gut es geht, freundlich mit ihm umzugehen. »Erstens, starre ich nicht die Wand an – ich habe schon was zu tun ... irgendwie. Und zweitens bin ich nicht freiwillig in diesem Zimmer.«

Er lacht kaum hörbar. Diesmal noch etwas echter als davor. Er scheint ein ziemlich guter Schauspieler zu sein. Denn das hier ist vermutlich nur eine seiner Maschen sein, damit ich ihm mehr über mich verrate. Das muss ich unbedingt im Hinterkopf behalten. Vielleicht sollte ich doch aufhören, mit ihm zu reden. Andererseits ... Was, wenn er mich wirklich zu meiner Familie bringt?

»Du musst mir nicht vertrauen, um mitzukommen«, bemerkt er und legt den Kopf schief.

Das sehe ich anders. Er könnte mich genauso belügen und irgendwo hinschleppen, um mir wieder weh zu tun. Aber die Hoffnung, meine Familie wieder zu sehen, verdrängt die Angst. Ich seufze ergeben. »Okay, okay. Bring mich gefälligst zu ihnen.«

Ein sanftes Grinsen stiehlt sich auf seine Lippen und seine Augen leuchten kurz auf. Das lässt ihn noch hübscher wirken, als er sowieso schon ist. Selbst als absoluter Kotzbrocken sieht er nämlich noch immer gut aus. Ich zwinge mich, meinen Blick abzuwenden, nur damit er gleich darauf auf seinen muskulösen Armen landet. Auch nicht besser.

Einer der Wachen räuspert sich leise, aber bestimmt. »Hoheit, der König hat uns ausdrücklich damit beauftragt, sie hier im Schloss zu behalten. Sie darf nicht nach draußen.«

Henry dreht sich schwunghaft zu ihm um. »Dieser Befehl ist hiermit aufgehoben«, gibt er trocken von sich und der Wachmann nickt ergeben.

»Dann sollten wir Verstärkung holen. Es ist keine gute Idee, nur mit uns beiden den Palast zu verlassen.«

Henry brummt ergeben. »Schicken Sie noch zwei Wachen.«

Der Angesprochene salutiert und macht eine schnelle Handbewegung. Seine Fingerkuppen beginnen zu glühen. Vor uns bildet sich ein Strudel, in dem winzige Buchstaben zu sehen sind. Im nächsten Moment jagt er den Gang entlang. Erstaunt über diesen Zauber blicke ich dem tobenden Wirbel nach.

Henry nimmt meine gefesselten Hände und ich spüre, wie meine Haut an der Stelle seiner Berührung leicht kribbelt. Irritiert weiche ich ein Stück zurück, doch er lässt mich nicht los. Auch er muss es gespürt haben, denn er schaut mir eine Nanosekunde länger in die Augen an als nötig und geht dann schnellen Schrittes voran. Mich zieht er einfach mit sich.

Nachdem wir einmal abgebogen sind, stellen sich vier weitere Wachen hinter uns und ich drehe mich unbehaglich zu ihnen um. Muss man gleich übertreiben?

Nach ein paar kurzen Momenten habe ich mich bereits daran gewöhnt, dass Henry meine Hände hält und, zu meinem Leidwesen, fühlt es sich gar nicht schlecht an. Irgendwie vertraut. Ich schüttle den Kopf. Das darf doch nicht wahr sein.

Henry schaut mich fragend über seine Schulter blickend an. »Alles klar?«

Ich nicke gedankenverloren und wir gehen weiterhin stumm nebeneinander her – durch das gesamte Schloss, bis hinunter zu einem Hinterausgang.

Langsam legt er seine Hand auf die goldene Klinke und ich halte die Luft an, als die Türe aufschwingt.

Helles Licht gleißt ins Innere des Schlosses und ich presse für wenige Augenblicke die Augen zu. Als ich sie wieder öffne, bin ich enttäuscht. Das Wasser um meine Haut fühlt sich noch immer schwül und drückend an. Aber was habe ich auch anderes erwartet? Es ist nun mal immer noch die Wasserwelt. Was ich nicht alles dafür geben würde, den Wind und die frische Luft zu spüren. Stattdessen ist da nur das endlose, drückende Salzwasser.

Wir laufen die Seitengasse hinunter, bis wir auf die Hauptstraße stoßen, die zum Marktplatz führt. Henry hält mich noch immer fest an den Händen und so langsam frage ich mich, wieso. Denkt er wirklich, ich würde mich einfach aus dem Staub machen? Da stehen ja auch gar nicht sechs Wachen hinter mir, oder so. Ich zucke resigniert mit den Schultern.

Alle Menschen, an denen wir vorbeilaufen, schauen uns unverhohlen an. Sie bleiben stehen und starren, als wären wir eine Zirkusvorstellung. Und ich kann sie sehr gut verstehen. Wir müssen ein seltsames Bild abgeben. Der Prinz in gewöhnlichen Kleidern, ohne formelle Uniform oder einen Anzug. Umringt von sechs Wachmännern und im Schlepptau ein Landmädchen, in einem leuchtend roten Kleid, die er an gefesselten Händen durch die Straßen führt. Ziemlich seltsam.

Plötzlich bleibt Henry stehen und ich laufe beinahe in ihn hinein. Gerade rechtzeitig bremse ich ab und schaue mich verwirrt um.

Wir stehen vor einem großen Park, umrundet von dicken, großen Wasserpflanzen, welche aussehen wie die alten Birken, die es in unserem Wald so häufig gibt. Auf der Rasenfläche sitzen viele Menschen, vor allem Jugendliche, die essen, lachen, reden. Vereinzelt stehen einige Bänke herum, auf denen Eltern mit ihren Kindern sitzen und ein paar Fleißige joggen auf dem kleinen Sandweg ihre Runden.

Neugierig schaue ich zu Henry und überlege, was seine Aufmerksamkeit so erregt, als ich es auch schon entdecke. Oder eher gesagt sie.

Eine junge Frau mit mittellangen haselnussfarbenen Haaren, die in akkuraten Locken auf ihren Rücken fallen, steht inmitten der Wiese, umringt von den sitzenden Menschen. Sie trägt ein langes, dunkelblaues Kleid mit einem schlichten Ausschnitt und eine Reisetasche in der Hand, die sie auf den Boden absetzt. Neben ihr stehen sechs Frauen in hellblauen schlichten Kleidern, die ebenfalls Koffer in der Hand haben und ein paar Wachen, die eine viel dunklere Uniform tragen, als die hinter uns. Generell sieht die junge Frau anders aus, irgendwie als wäre sie nicht von hier. Sie ist blasser, wohingegen ihre Wachen alle einen dunkleren Teint haben.

Sie dreht den Kopf in unsere Richtung und sieht Henry, starrt ihn förmlich an. Dieser weicht ihrem Blick nicht aus. Dann heben sich ihre Mundwinkel zu einem strahlenden Lächeln und sie kommt zu uns gelaufen – nein, sie schwebt zu uns. Ihre Schritte sind so anmutig und flüssig, dass man tatsächlich denken könnte, sie würde den Boden nicht berühren. Theoretisch wäre das ja sogar möglich – schließlich sind wir im Wasser. Jedoch gibt es kaum noch Wassermenschen, die schwimmen. Alle laufen ganz normal, denn für sie ist es auch normal. Es ist nun mal ihr Element und darin können sie sich so bewegen, wie sie es wollen. Ich hebe nur nicht wegen des Zaubers vom Boden ab, der mich umgibt.

Henry versteift sich neben mir und lässt schnell meine Hand los. Ich schaue zu ihm, doch er würdigt mich keines Blickes, ist vollkommen auf die Brünette fokussiert.

Diese kommt vor uns zum Stehen und grinst den Prinzen breit an. »Henry! Wie schön, dich endlich wieder zu sehen.« Sie schmunzelt und umarmt ihn stürmisch, drückt ihren Kopf an seine Brust und lächelt zu ihm hoch. Henry erwidert ihre Umarmung, wenn auch längst nicht so euphorisch. Trotzdem wirkt es liebevoll, wie er ihr über den Rücken streicht, bis er sie eine Armlänge von sich hält.

»Angelina«, sagt er ohne jegliche Emotionen, aber mit weicher Stimme.

»Schau nicht so griesgrämig«, scherzt diese und stupst ihn sanft an.

Auf einmal habe ich ein komisches Gefühl im Magen. Es ist eine seltsame Übelkeit, die sich in mir breitmacht. Ich versuche, sie so schnell, wie sie aufgetaucht ist, wieder zu verdrängen.

»Was tust du in der Stadt?«, fragt Henry erstaunt und lässt sie schließlich los. Doch sie verschränkt ihre Hand mit seiner und grinst breit, strahlt dabei förmlich. Sie ist wirklich hübsch. Ihre Figur, ihr Gesicht und auch ihre Ausstrahlung – nahezu perfekt. Und irgendetwas stört mich daran. Ein bisschen neidisch betrachte ich sie. Eigentlich hat es mich nie gestört, hübschere Mädchen zu treffen. Doch seitdem ich in diesem Schloss bin, fühle ich mich so minderwertig, dass es mir auf einmal doch etwas ausmacht. Vor allem bei ihr. Warum auch immer.

»Euch besuchen kommen. Ich dachte du freust dich ...« Sie wirkt enttäuscht, dann schnellt ihr Blick zu mir. »Aber wie es scheint, hast du andere Dinge zu tun.« Sie rümpft die Nase und schaut mich abschätzig an.

Ich lächle sie gespielt an und in mir keimt Gereiztheit auf. Was bildet sie sich ein? »Das Ding hat auch einen Namen«, fauche ich und Henry lacht leise.

Angelinas Blick wechselt von mir zu ihm und wieder zurück. »Weiß der König davon? Dass du mit einer Gefangen durch die Stadt läufst?«, fragt sie aufbrausend und verschränkt die Arme vor der Brust.

Henrys Miene verhärtet sich. »Nein, aber ich bin sicher, dass du es ihm gleich erzählen wirst, so gut wie ihr befreundet seid.«

Sie runzelt die Stirn. »Was ist eigentlich los mit dir? Seit wann bist du so ein Idiot?«, krächzt sie und sieht mich danach gehässig an.

Henry regt sich kein bisschen, gibt keinen Ton von sich. Genervt scheint Angelina aufzugeben, denn sie schnippst mit den Fingern und ihre Wachen und Dienstmägde setzten sich in Bewegung. »Wir sehen uns nachher – allein«, beschließt sie kurzerhand, verdreht die Augen noch einmal in meine Richtung und verschwindet.

Henry schaut ihr hinterher, sein Blick ist verschleiert. Dann blinzelt er kurz, dreht sich zu mir und nimmt wie selbstverständlich meine Hände. Seine Augen leuchten wieder in diesem geheimnisvollen Blau.

»Wer war das?«, frage ich, ohne nachzudenken.

»Niemand von Bedeutung.« Henry zuckt mit den Schultern und mustert mich einige Sekunden. »Nicht, dass es dich was anginge.«

Ich runzle die Stirn, sage aber nichts.

Anschließend laufen wir weiter und ich kann meine Aufregung kaum noch verbergen. Henry sieht mir halb belustigt, halb genervt dabei zu, wie ich mit federnden Schritten immer schneller laufe, bis wir endlich auf den Marktplatz einbiegen.

Und tatsächlich. Da stehen sie.

Mein Dad und Jack.

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