2. Kapitel
Sarah
Es brennt.
Ich sehe die orangefarbenen Flammen, wie sie meinen Körper hinaufschlängeln und sich in mein Fleisch bohren.
Ich schreie, versuche, sie zu löschen, doch es ist zwecklos. Je länger ich es versuche, desto fester beißen sie sich.
Da dringt eine Stimme durch den dicken, grauen Rauch, die mich schier anbrüllt. Ich schreie noch immer, bin völlig panisch, doch plötzlich werde ich gepackt und kräftig geschüttelt.
Ich reiße die Augen weit auf und die Flammen mitsamt dem Rauch verschwinden.
Keuchend fahre ich mit meinen Händen an die Hüften und untersuche mich nach Brandnarben. Doch da ist nichts.
Ich sitze auf grauem Steinboden, meine Kleider sind schmutzig und meine Haut blutig.
Ich versuche, mich zu erinnern, wo ich bin, warum ich blute. Wo ist meine Familie? Wo ist Jack?
Langsam richte ich mich nach vorne, um nach ihnen zu rufen und schaue prompt in zwei meerblaue Augen.
Und da fällt mir alles wieder ein. Der Marktplatz. Der Mann. Das Mädchen. Die Botschaft. Die Fesseln. Jack, wie er vor mir kniet.
Oh Gott, Jack! Ist er auch hier? Haben sie auch ihn gefangen genommen? Ich versuche, meinen Atem zu beruhigen und schaue mich hektisch um.
Ich sitze in einem riesigen runden Käfig, der beinahe den ganzen Raum einnimmt. Davor stehen Wachen in blauer Uniform. Raumhohe Fenster sind in die Wand eingelassen, aber die Verdecke sind zugeklappt. Die Käfigtüre ist offen, doch ein stämmiger Wachmann steht davor, bereit einzugreifen, wenn ich versuchen sollte zu fliehen.
Auf einmal erscheint ein Typ vor mir, ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Sein Haar ist dunkel und leicht gewellt und seine Augen leuchtend blau. Er ist groß und athletisch. Insgesamt sieht er ziemlich gut aus. Als wäre er geradewegs aus einem Modemagazin oder einem Film gekrochen.
Ich habe zwar nur selten Filme geguckt, wir haben aber mal welche im Unterricht gesehen und gelernt, dass sie früher zur Unterhaltung gedient haben. Und dieser Typ vor mir sieht definitiv wie einer aus diesen Filmen aus.
Ich bin mir sicher, sein Gesicht schon mal irgendwo gesehen zu haben, aber kann es nicht zuordnen.
Erst jetzt spüre ich, dass mein Kopf brummt und mir alles weh tut.
Meine Glieder sind unglaublich schwer.
Neben dem Jungen sitzt ein älterer Herr mit hellblauen, beinahe grauen Augen und gräulichem Haar. Er trägt einen weißen Kittel. Ist das ein Arzt?
Der Typ mit den blauen Augen ergreift das Wort, seine Stimme ist tief und angenehm, aber ich kann ihn nicht verstehen, weil es in meinen Ohren seltsam klingelt. »... hör mir gefälligst zu, wenn ich mit dir rede!«
Erst langsam sickern die Worte zu mir durch, jedoch habe ich trotzdem nicht alles verstanden.
Plötzlich zückt er einen Dolch und kommt mir gefährlich nahe. Ich weiche erschrocken zurück. Mit einer blitzschnellen Bewegung bohrt er die Spitze der Klinge in meinen Arm. Ich schreie auf und beobachte geschockt, wie das Blut aus der Wunde tritt und sich mit dem Wasser um uns herum vermischt.
»Hör. Mir. Zu. Beantworte. Meine. Fragen«, sagt er langsam mit einem bedrohlichen Unterton. Dabei kommt er wieder näher und droht mir mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen mit dem Dolch.
Ich nicke schnell, bevor er mir noch einmal in den Arm schneiden kann, antworte aber, um mir ein letztes bisschen Würde zu bewahren. »Ich bin nicht dumm, du kannst normal mit mir reden.« Ich nuschle und selbst mein Mund tut mir weh.
Er verengt seine Augen zu Schlitzen und beugt sich weiter zu mir hinab. Den Dolch umklammert er fest und hält ihn an meinen Arm. Langsam, aber bestimmt lässt er ihn über meine dünne empfindsame Haut gleiten. Ich versuche, nicht noch einmal aufzuschreien, sondern presse die Lippen fest aufeinander, bis sie mir wehtun. »Wenn ich du wäre, würde ich nicht so mit deinem Prinzen reden«, rät der Fremde und lässt den Dolch locker in seiner Hand kreisen.
Der Prinz!
Aber natürlich, jetzt weiß ich, woher ich ihn kenne. Es ist der Thronfolger unseres Landes. Er wird der nächste Tyrann, der nächste Verrückte sein, der die Landmenschen unterdrücken und zugunsten der Wassermenschen herrschen wird.
Ich sage nichts. Diese Information muss ich erstmal verdauen.
Das bedeutet auch, dass ich im Palast bin.
»Wie heißt du?«, fragt er mit rauer Stimme.
Als ich nicht gleich antworte, lässt er zum dritten Mal den Dolch über meinen wunden Arm gleiten. Und es scheint ihm nicht einmal etwas auszumachen. Als hätte er das schon tausendmal gemacht.
Hat er wahrscheinlich auch. Mistkerl.
Ich schreie auf und presse die Hände gegen meinen Kopf. Es fühlt sich so an, als könnte er jeden Augenblick zerspringen. Das Klingeln in meinen Ohren wird stärker. »Sarah Jones«, presse ich hervor.
»Wie alt bist du?«, brummt er, den Dolch noch immer erhoben.
Diesmal antworte ich sofort. »Sechzehn.«
»Wer sind deine Eltern?« Seine Augen blitzen unheimlich auf.
Ich schweige. Nein, das kann ich ihm nicht sagen. Womöglich wird er sie verfolgen, oder auch einsperren.
Ein weiterer Schlitz.
Ich schreie, stöhne auf vor Schmerz und krümme mich auf dem Boden zusammen.
Der Mann mit dem weißen Kittel flüstert dem Prinzen etwas zu, jedoch kann ich nicht verstehen was.
»Deine Eltern?«, wiederholt der Prinz ruhiger und blickt gelangweilt, geradezu gleichgültig, auf mich hinab.
Als ich nicht antworte, geht er vor mir in die Hocke. Schnell weiche ich zurück, doch er hebt nur beschwichtigend die Hände. Ich sehe ihn prüfend an und erkenne in seinen Augen nicht mehr die kalte Entschlossenheit. Sein Blick ist weicher geworden.
Als ich immer noch nicht reagiere, senkt er den Dolch, bis er auf den Boden zeigt.
Langsam richte ich mich auf, habe das spitze Messer jedoch weiterhin im Blick.
»Okay ...« Er schließt kurz die Augen. »Dann sag mir, warum ihr diese Botschaften verteilt.« Seine Stimme klingt sanfter, aber ich lasse mich davon nicht täuschen.
Stattdessen ziehe ich meine Augenbrauen hoch und schaue ihn von unten an. Er kniet über mir, den Dolch in der Hand kreisend. Doch diesmal wirkt es nicht so bedrohlich wie noch vor ein paar Augenblicken. Eher, als wäre es eine Hantel und kein Mordinstrument.
»Ist das nicht einleuchtend?«, frage ich und lege extra viel Spott in meine Stimme.
Er mahlt mit dem Kiefer und seine Hand mit dem Dolch zuckt impulsiv.
»Wir wollen Aufmerksamkeit.« So viel kann ich sagen, so viel ist logisch. »Und die haben wir bekommen.« Ich deute auf ihn. »Allerdings wollten wir nicht eure. Wir wollten andere erreichen. Andere Dörfer.«
Damit verrate ich keinen.
Er nickt nachdenklich, auch wenn er wütend über meine spöttische Antwort zu sein scheint. Dann winkt er den anderen Mann zu sich, der daraufhin mit seinen Fingern über meinen Arm streicht. Seine Fingerkuppen glühen blau, anders als unsere. Bei Landmenschen leuchten sie in rötlichen Goldfarben. Die Wunden verschwinden sofort – er scheint ein ziemlich mächtiger Arzt zu sein. Ich atme erleichtert auf, als ich endlich keine Schmerzen mehr spüre.
Im Grunde genommen kann jeder heilen, der zaubern kann. Ich kann das und der Prinz mit Sicherheit auch. Aber bei uns würde die Wunde nie so perfekt verschlossen sein wie bei einem Land- oder Wassermenschenarzt.
Ärzte sind besonders stark in ihrer Zauberkraft ausgebildet und beherrschen sie gekonnt und zielgerichtet. Ihre Ausbildung beginnt schon im frühen Alter nach der Schule, welche die Wassermenschen besuchen, um Grundkenntnisse und Zauberkräfte zu erlernen.
Allerdings haben Wassermenschenärzte – natürlich – eine viel bessere Ausbildung als die unserer Art, weil uns schlicht und einfach die Mittel und das Geld fehlen.
»Warum tust du das?«, frage ich mit letzter Kraft. »Warum lässt du jetzt wieder meine Wunden heilen?«
Der Prinz steht auf und schaut mich verächtlich von oben herab an.
»Damit ich diesen Arm erneut verletzten kann, wenn wir uns das nächste Mal sehen.«
Ich sitze auf dem kalten Boden meiner Zelle und starre an die Decke. Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, seit mich der Thronfolger unseres zum Scheitern verurteilten Landes ausgefragt hat. Ein Tag? Vielleicht auch nur ein paar Stunden ... Mein Zeitgefühl schwindet immer mehr dahin, je länger ich zusammengekauert auf dem grauen Boden sitze.
Irgendwann schmerzen meine Glieder und ich schüttle meine Beine aus. Bei dieser Bewegung beginnt mein Kopf wieder zu schmerzen, das Blut pocht mir in den Schläfen. Wie lange wollen sie mich hier festhalten? Was haben sie mit mir vor?
Ich schüttle den Kopf, versuche, ruhig zu bleiben. Meine Kehle brennt – sie ist ausgetrocknet und mein Magen leer. Energielos lege ich meine Stirn auf den Steinboden. Wie konnte das alles nur passieren?
Ich richte mich auf und versuche, meinen Schmerz zu ignorieren. Ich gehe ein paar Schritte, halte mich an den Gitterstäben fest und starre die geschlossen, blickdichten Fenster an. Die Wachen stehen davor, erwidern meinen Blick, wann immer ich sie anstarre. Kalt und emotionslos.
Da wird auf einmal die schwere Holztür, welche vom salzigen Meerwasser schon glatt und geschmeidig geschliffen wurde, aufgerissen und ein paar weitere Wachmänner strömen in den hohen Raum, lösen die anderen ab, welche eilig verschwinden.
Einer der uniformierten Männer kommt zu meiner Zelle, schließt sie auf und stellt mir ein Tablett auf den Boden. Dann schließt er sie wieder und stellt sich zu den anderen, das Gesicht zu einer reglosen Maske verzogen.
Ich lasse mich vor das Tablett auf den Boden sinken und starre auf das durchnässte Essen. Es stammt aus meinem Dorf – das sehe ich sofort, an der Art, wie das Brot geformt ist, an der Größe der Oliven und wie der Käse mit wilden Kräutern bestückt ist. Nahrung, angebaut und hergestellt von uns. Von Mum. Von Dad. Jack.
Ich spüre wie mir heiße Tränen in die Augen steigen und versuche sie so schnell, wie sie gekommen sind, zu vertreiben. Ich darf hier drin nicht die Nerven verlieren, sonst endet es für mich schnell und schmerzvoll, so viel ist sicher.
Angeekelt hebe ich das durchnässte Brot hoch und starre es an. Wie kann ihnen nasses Essen nur schmecken? Anderseits leben sie ja auch in einer nassen Welt. Ich seufze. Hätte ich eine mit Luft gefüllte Kiste, könnte ich das Essen ganz einfach trocken, mit Hilfe meiner Zauberkräfte. Das würde diese Situation etwas erträglicher machen.
Apropos Luft, ich habe den Zauber meiner Luftblase seit einiger Zeit nicht mehr erneuert. Warum ist er nicht verblasst? Ist wirklich erst so wenig Zeit vergangen?
Ich halte meine Hände ans Gesicht und fühle, wie sie sanft umweht werden. Ich atme tief ein und schüttle den Kopf. Seltsam.
Schulterzuckend trinke ich das Süßwasser, welches in einem länglichen Glas mit Deckel auf dem Tablett steht, und meine Kehle fühlt sich gleich ein bisschen besser an. Doch von den anderen Sachen fasse ich nichts an. Dieses ekelhaft pampige und durchnässte Brotstück können sie ruhig selbst essen. Angewidert werfe ich es auf den Teller zurück und lehne mich mit dem Rücken gegen die Gitterstäbe.
Auf einmal durchströmt mich eine seltsame Müdigkeit. Benebelte, schummrige Müdigkeit. Und noch bevor meine trägen, schwer gewordenen Augenlider zufallen, spüre ich das heiß lodernde Feuer wieder.
Als ich aufwache, starre ich in dieselben meerblauen Augen. Das Feuer erlischt langsam und ich presse kurz die Augen zu, um mich zu konzentrieren. Was zur Hölle machen sie mit mir?
Ich richte mich auf und starre den Prinzen wütend an. »Was ist in diesem Wasser, das ihr mir gegeben habt? Warum zur Hölle sehe ich vor meinem inneren Auge immer wieder dieses ...?« Ich reibe mir die Stirn, die Kopfschmerzen sind immer noch da. Doch meine Stimme ist kalt und kein bisschen mehr schwach.
Er antwortet leise, mit beherrschter Stimme: »Das ist nur ein Mittel, damit du schläfst. Aber sagen wir ... es wird noch ein kleines Extra mitgeschickt. Und schwups, bist du in einem schönen Traumland.« Er grinst leicht und erst jetzt bemerke ich den Dolch in seiner Hand und weiche zurück.
Lässig wischt er mit einem Finger über die Klinge und hält ihn gegen das Licht, als würde er die Schneide nach Unreinheiten untersuchen.
Ich starre ihn ungläubig an. »Ein Traum? Ich würde ein anderes Wort benutzen – zum Beispiel unterbewusste Folter. Dieses Feuer ist die reinste Qual.« Im selben Moment beiße ich mir auf die Zunge. Verdammt, das hätte ich nicht sagen sollen. Jetzt weiß er, dass er mich voll und ganz im Griff hat. So wie er es will.
Toll gemacht, Sarah.
Er lacht trocken auf und wendet den Blick wieder mir zu.
»Feuer also? Interessant. Jeder sieht etwas anderes. Feuer kam noch nie vor. Die meisten erzählen von erstickender schwarzer Leere.« Er sagt das, als wäre es eine wissenschaftliche Erkenntnis. Als wäre ich Teil einer gruseligen Studie.
»Ach, tatsächlich? Bei wie vielen Leuten hast du das denn schon ausprobiert? Wie viele saßen schon in diesem Käfig und mussten deine Folter ertragen?«, zische ich gepresst und kralle die Hände in meine Bluse.
Theoretisch müsste diese schon völlig durchweicht und meine Haut verschrumpelt sein, von der langen Zeit im Wasser, aber der Zauber verhindert das.
Ich sehe wie die Augen des Prinzen kurz aufflackern, ein unsicherer Moment, bevor er seine undurchdringliche Maske wieder aufsetzt. »Du bist nicht diejenige, die hier die Fragen stellt«, sagt er kalt und hält meinem Blick stand.
Dann fängt er an, auf und ab zu gehen, in langsamen beherrschten Schritten. »Wer macht alles mit, bei dem Verteilen der Botschaften? Wer aus deinem Dorf? Deine Eltern?«
Mein Herz beginnt vor Angst zu rasen, als ich zu einer Antwort ansetze. »Nein. Meine Eltern nicht. Sie wissen nichts davon. Sie sind unschuldig. Es gab eine kleine Gruppe in unserem Dorf, mit wenigen Mitgliedern. Ich glaube in anderen Dörfern und Städten sind die Zusammenschlüsse größer«, lüge ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
Er zeigt keine Reaktion. Vielleicht glaubt er mir. »Wie hast du es rausgefunden? Dass Botschaften verteilt werden? Oder hat eure Gruppe damit angefangen?«
Ich darf ihm nicht zu viel offenbaren.
Lüge, trichtert mir eine Stimme in meinem Kopf ein. »Wir haben Botschaften auf dem Boden gesehen und uns angeschlossen«, sage ich hastig und schlucke.
Verrate nicht zu viel.
Lüge.
»Wer ist alles in dieser Gruppe? «
Wieder schlucke ich schwer. Ich kann, nein, ich darf keine Namen nennen.
Schweigen.
Ich spüre den Dolch, noch bevor ich ihn sehe. Kaltes Metall auf weicher Haut. Das Blut schwebt vor mir im Wasser, vermischt sich damit. Ich möchte schreien, lasse den Laut aber im Hals ersticken. Der Schmerz zuckt durch all meine Glieder, die Schläfen pochen. Ich presse meine Zähne zusammen.
Dieser verdammte Mistkerl.
»Sag. Es. Mir.«
Ich mache keine Anstalten zu sprechen, beiße mir leicht auf die Zunge, damit ich auch keinen Ton von mir gebe.
Dolch auf Haut. Blut im Wasser.
Ich halte mir eine Hand vor die Augen. Das Pochen in meinem Kopf verschwindet einfach nicht, es wird immer schlimmer. Als würde mein Gehirn langsam zerdrückt werden.
Und er lässt nicht nach. »Sag. Es.«, fordert er mit einem dunklen Unterton.
Ich halte das nicht mehr länger aus. Vorsichtig schiele ich zu ihm und bin sogleich verwundert. Sein Blick ist verändert – von wild entschlossen und kalt zu entsetzt und verwirrt. Seine Stirn ist gerunzelt.
Was macht ihm so Angst?
»Macht es dir Spaß andere zu verletzten?«, frage ich leise röchelnd. Der Schmerz wird immer unerträglicher.
Und dann, ganz plötzlich, lässt der Prinz den Dolch los und starrt auf seine Hand. Das scharfe Messer ist zu schwer, um im Wasser zu treiben und sinkt auf den Boden, hinunter zu mir auf den Grund, und bleibt wenige Zentimeter vor meinem linken Knie liegen.
Was zum Teufel ist los mit ihm?
Er setzt an, etwas zu sagen, scheint es sich aber anders zu überlegen und schließt den Mund.
Der entsetzte Ausdruck in seinen Augen ist verschwunden, hat nur wenige Sekunden angedauert. Jetzt ist da wieder seine undurchdringliche Maske, sein Pokerface. »Immer noch so ein freches Mundwerk, Ms Jones?«, fragt er spöttisch, wieder ganz der Alte. Er achtet nicht auf mein schmerzverzogenes Gesicht, sondern verdreht nur die Augen und fängt an, auf und ab zu gehen.
Mein Atem geht stoßweise.
Ich halte das nicht länger aus.
»Was ist mit dem Jungen? Er hat sich gewehrt, als du mitgenommen wurdest, wollte dich retten. Dumm und naiv, findest du nicht auch?« Er dreht sich im Gehen zu mir um und mustert mich.
Die lautlosen Schreie hallen laut in meinem Kopf wider, bilden ein unaufhörliches Echo.
Jack.
Er merkt. Wie nervös ich werde und kommt schnell auf mich zu.
»Wo ist er? Habt ihr ihn gefangen genommen?«, frage ich panisch.
Seine Augen formen sich zu schmalen Schlitzen.
»Nein. Wir haben ihn gehen lassen. Er war nicht verdächtig. Oder ... gibt es einen Grund, ihn herzuholen?«
Scheiße.
»Nein«, sage ich schnell. Zu schnell.
Er beugt sich über mich und schaut verächtlich auf mich herab. »Na, dann. Ich frage mich, wie lange du es durchhalten wirst, das Lügen.«
Ich erwidere nichts, versuche, meinen Atem zu beruhigen.
Jack ist in Sicherheit. Meine Familie ist in Sicherheit. Wie ein Mantra hallen die Worte durch meinen Kopf.
»Wie auch immer. Es sind sowieso schon Wachwassermenschen auf dem Weg in euer Dorf, um zu schauen, ob alles mit rechten Dingen zugeht.«
»Nein«, flüstere ich, mein Kopf schnellt in die Höhe.
Beruhige dich.
Dad wird lügen, Jack wird lügen. Sie werden alle lügen und sich beschützen. Ich bin mir sicher.
»Wieso so besorgt? Willst du mir vielleicht irgendetwas sagen?«
»Ich habe dir nichts zu sagen.« Gespielt gelangweilt zucke ich mit den Schultern, als hätte ich keine Ahnung, wovon er da redet. »Naja ... ihr werdet dort sowieso nichts finden«, füge ich hinzu.
»Ach ja? Hast du nicht vorhin von einer kleinen Gruppe in eurem Dorf gesprochen?« Er zieht die linke Braue nach oben und mustert mich abschätzig.
Ich versuche zu lächeln. »Und du glaubst wirklich, dass sie noch im Dorf sind? Du denkst wir haben keine sicheren Orte, an denen wir untertauchen können?« Ich gebe einen Laut von mir, der wie ein Lachen klingen soll, um meine Lüge noch glaubwürdiger zu machen.
Kurz wirkt er verunsichert, doch dann kehrt die Wut zurück. Er richtet sich auf. »Wie heißt der Junge?«
Ich ziehe scharf die Luft ein. »Warum willst du das wissen? Er hat nichts damit zu tun.«
»Wenn das so ist, wird es dir ja nichts ausmachen, mir seinen Namen zu verraten.« Der Prinz beugt sich gefährlich über mich.
Ich presse die Lippen zusammen. »Jack.«
Der Name wird ihm keine Probleme machen, oder? Bitte nicht.
Der Prinz nickt zufrieden.
»Darf ich dich etwas fragen?«, sage ich schnell, richte mich wackelig auf und ignoriere den brennenden Schmerz in meinem Arm.
Ich stehe direkt vor ihm. Er ist mindestens einen Kopf größer und gefühlt doppelt so breit. Ich fühle mich schmächtig und klein neben ihm.
Mit dem letzten Quäntchen Würde, das ich aufbringen kann, schaue ich ihm ins Gesicht. Sein Kiefer zuckt. Auf einmal wirkt er nachdenklich. »Ja«, murmelt er leise. Die lodernde Wut hat einem weicheren Ausdruck Platz gemacht.
Ich lege den Kopf schief, verwundert über diesen Stimmungswechsel. »Was habt ihr mit mir vor? «, bringe ich die schwerwiegende Frage heraus, die seit ich hier bin auf mir lastet.
Er stößt seinen Atem aus, den er wohl angehalten hat.
Dann dreht er sich blitzartig um und läuft mit riesigen Schritten zur Käfigtür.
Ich will ihm hinterherzulaufen, doch scheitere sofort. Der Schmerz ist einfach zu groß.
»Etwas ziemlich Schlimmes, denke ich. Etwas, das keinem angetan werden sollte – egal was er oder sie verbrochen hat«, flüstert er nachdenklich, als er an der Tür ankommt und sie von außen zuschließt.
Ich ziehe verblüfft die Augenbrauen hoch.
Was soll das denn heißen? Und warum ist er auf einmal so anders? Er hat beinahe zerbrechlich gewirkt. Verwundbar.
»Kein Arzt diesmal?«, frage ich und stütze mich an den Gitterstäben ab.
Er schüttelt stumm den Kopf. So heftig, dass seine Haare durchs Wasser wirbeln. Aus irgendeinem Grund brennt sich dieser Anblick in mein inneres Auge ein und ich sehe das Bild auch dann noch, als der Moment schon vorbei ist. Ich schließe kurz meine Augen, um es zu vertreiben.
»Das heißt, du bist fertig?«
Er antwortet wieder nicht, verschwindet einfach durch die Holztür, ohne mich noch einmal anzusehen. Lässt mich blutend, allein und unwissend in meinem Verlies zurück.
Die darauf folgende Zeit verbringe ich beinahe ausschließlich im Delirium, die Flammen lodern vor meinem inneren Auge. Wenn ich wach bin, sitze ich auf dem Boden, starre zur Decke, hoffe, dass irgendetwas passiert. Meinetwegen sogar, dass er zurückkommt. Nur, damit ich nicht alleine mit meinen Gedanken, den Wachen und dem kalten Boden bin.
Ich sitze dort, bis zwei uniformierte Wassermenschen kommen und mich zwingen, wieder dieses Zeug zu trinken, das den Traum hervorruft. Ich halte diese Hitze nicht aus. Sie ist schrecklich, fühlt sich an, als würde ich von Innen verbrennen. Wann hört es endlich auf? Sie können mich doch nicht ewig hier einsperren.
In der ganzen Zeit kommt kein Arzt, um mich zu heilen und die Wunden auf meinem Arm platzen immer wieder auf.
Aber die Luftblase muss ich kein einziges Mal erneuern.
Total merkwürdig.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnet sich endlich die schwere Holztür. Ich springe sofort auf, ignoriere meinen Schmerz. Ein Wunder, dass ich gerade nicht im Bewusstlosigkeitsstatus schwebe und von den Flammen gequält werde.
Moment. War das wohl Absicht?
Muss ich wach sein für das, was gleich passiert?
Ich erwarte den Prinzen und weitere bohrende Fragen, doch stattdessen stehen mehrere dunkelblau gekleidete Männer und ein junges hübsches Mädchen, vielleicht in meinem Alter, vor meinem Käfig. Sie hat bitterschokoladenfarbenes, leicht gewelltes Haar, das perfekt ihr helles Gesicht einrahmt. Ihre Augen wirken so ... außergewöhnlich. Sie sind dunkel und groß. Landmenschen-Augen. Aber sie hat Kiemen. Wer oder was ist sie?
Langsam kommt sie auf mich zu, die Tür wird aufgeschlossen. Ihr hellblaues Kleid schwebt im Wasser. Als sie bei mir ankommt, lächelt sie leicht. »Hallo«, murmelt sie und zwei der uniformierten Männer erscheinen neben ihr, legen mir Eisenketten um die Hände. Ich wehre mich nicht, dazu bin ich viel zu müde.
»Keine Angst. Wir wollen nichts Böses«, sagt das Mädchen. Ihre Stimme klingt weich und warm, aber ihr Gesichtsausdruck ist nachdenklich – weit in der Ferne, als wäre sie nicht hier. »Ich bin Claire«, stellt sie sich vor, dann dreht sie ihren zarten Körper um und läuft zum Käfigausgang. Ich folge ihr, in Begleitung der Wachen. Einer von ihnen läuft rechts, einer links von mir. Als wir aus der Zelle treten, schaue ich über meine Schulter zurück, starre den Käfig an, mit dem ich so schlimme Gedanken und Erinnerungen verbinde. Hoffentlich muss ich nie wieder hierher zurückkehren.
Die restlichen dunkelblau gekleideten Männer schließen sich uns an, bilden eine Mauer hinter uns. Zügig versuche ich, zu Claire aufzuschließen, die schon die schwere Holztür geöffnet hat und in den Gang tritt. Die Männer folgen uns auf Schritt und Tritt. Der Gang ist dunkel und mit einzelnen Lichtern beleuchtet.
Ich habe nie verstanden, wie Elektrizität unter Wasser funktioniert, aber dafür war ich schließlich auch nicht verantwortlich. Die Dörfer, die für den Strom zuständig sind, liegen weiter im Osten. Wir an der Küste haben uns immer um das Essen gekümmert, weil wir schnell am Meer und somit zügig bei unseren Kunden sind.
Die Wassermenschen machen nichts selbst. Sie leben ein Luxusleben, arbeiten als Modedesigner:innen oder Innenarchitekt:innen – in all den Berufen, die nicht für Grundbedürfnisse sorgen. Oder sie arbeiten gar nicht. Nicht einmal ihre Häuser bauen sie selbst. Sie gestalten sie höchstens. Für uns Landmenschen ist das undenkbar. Wir kümmern uns um alles, was wir zum Leben brauchen. Wir sind es gewohnt, Dinge selbst herzustellen – von unseren Hütten bis zur Nahrung und den Kleidern.
Ohne uns könnten sie hier gar nicht überleben. Und dennoch sind sie so undankbar, halten sich permanent für etwas Besseres.
»Wohin gehen wir?«, frage ich Claire.
Sie antwortet nicht. Läuft einfach weiter und ich seufze tief.
Wir laufen eine Treppe hinauf, mehrere Gänge entlang, durch Türen und Säle. Ich bin beeindruckt. Alle Räume sind riesig, hoch und mit golden Details und Malereien geschmückt. Der Boden glänzt und ich kann mich darin spiegeln. Überall stehen Sessel, Stühle und andere Sitzmöglichkeiten. Ich bin geblendet von dieser ganzen Schönheit.
Wie viele Zimmer hat dieser Palast wohl?
Ich habe das mächtige Gebäude von Oceans zwar schon oft von außen gesehen, aber niemals hätte ich gedacht, dass er von innen so wunderschön ist.
Ein bisschen bin ich jedoch auch enttäuscht. Ich hatte mir immer gewünscht, dass der Tyrann auf dem Thron und seine verfluchte Familie, in dunklen, kalten Zimmern wohnen, eingeengt von ihrer eigenen Boshaftigkeit. Aber natürlich leben sie im glänzenden Luxus. Wie sollte es anders sein ...
Schließlich kommen wir in einen langen Korridor. Er ist schmaler als die anderen, weniger ausgeschmückt. Trotzdem ist er edel. Goldene Tapetenstreifen an der Wand, Marmorboden, der in dem Licht, das durch die hohen Fenster strahlt, funkelt. Die Sonne scheint hell. Mittagssonne.
Claire bleibt vor einer Tür stehen, die hellbraun ist und eine goldene Klinke hat. Gespannt folge ich ihr in den Raum. Er ist groß, besitzt einen weißen Schrank, ein breites Himmelbett und einen Tisch. Zwei weitere Türen sind in einer der Wände eingelassen und es gibt genau ein Fenster. Auch dieser Raum ist prächtig geschmückt, wenn auch etwas schlichter als die anderen.
»Willkommen in deinem Zimmer!«, flötet Claire fröhlich und ich starre sie verwundert an.
»Warum sollte so ein schönes Zimmer für mich bestimmt sein? Ich ... ich bin eine Gefangene.« Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen.
»Na und? Schließt das eine das andere etwa aus?«, fragt sie und lächelt mich an.
»Ja, irgendwie schon«, erwidere ich, »das ... ergibt keinen Sinn.«
Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Der Prinz ist ein guter Redner. Du kannst dich bei ihm bedanken. Wäre es nach dem König gegangen ...« Sie hält sich eine Hand an die Kehle und deutet ein Messer an.
Ich runzle die Stirn. »Das ergibt noch weniger Sinn. Der Prinz war derjenige, der mich gefoltert hat. Wieso sollte er nicht wollen, dass ich umgebracht werde?« Nachdenklich starre ich Claire an.
Diese zuckt mit den Schultern. »Man munkelt es nur unter dem Personal. Versichern kann ich dir das nicht.« Sie wendet sich ab, scheucht mit einer Handbewegung das Wachpersonal aus dem Raum. Ächzend fällt die Tür ins Schloss und wir sind nur noch zu zweit.
»Du traust dich mit mir allein zu sein? Keine gute Idee. Ich könnte dir ja was antun, zum Beispiel eine Botschaft auf dir hinterlassen«, spotte ich.
Sie schaut mich ungerührt an. »Die Wachen stehen draußen. Wenn du mir etwas antun würdest und ich schreie, kommen sie rein, bevor du überhaupt richtig anfangen konntest.« Auf den zweiten Teil meines Satzes geht sie gar nicht erst ein.
»Du traust denen? Obwohl sie welche von ihnen sind? Und du eine von uns?«, frage ich neugierig und kneife die Augen zusammen.
Sie schaut mich urverwandt an. »Ich habe nicht gesagt, dass ich ihnen traue. Aber sie müssen mich beschützen, sie werden mich beschützen. So lautet ihr Befehl. Und wer ich bin und zu wem ich gehöre, geht dich gar nichts an«, antwortet sie ruhig und dreht sich zu einer Schüssel mit einem Deckel um, die auf dem Nachtisch steht. »Setz dich.« Sie zeigt auf das Bett. Als ich nicht reagiere, schaut sie mich verärgert an. »Bitte tu einfach, was ich dir sage. Das hilft uns beiden.«
Ich seufze und lasse mich auf die Matratze fallen. Sie ist himmlisch bequem, trotz der Nässe, von der ich aufgrund des Zaubers aber noch immer nichts spüre.
Claire kniet sich vor mich und zieht mit ihren Fingern eine Luftblase um das Tuch, damit kein Salzwasser an die Substanz gerät. Ihre Fingerkuppen leuchten in der Farbe der Landmenschen.
Unverhohlen starre ich sie an. Warum hat sie Kiemen? Was ist sie?
Sie beginnt, meine Wunden mit dem Tuch abzutupfen.
Dann nimmt sie eine Salbe und Stoffverband, die sie ebenfalls mit einer
Luftblase umhüllt.
»Warum heilst du meine Wunden nicht mit deiner Zauberkraft?«, frage ich misstrauisch. Ich habe es in den letzten Tagen nicht selbst gemacht, weil ich viel zu müde und erschöpft dazu war. Man braucht viel Energie dazu, vor allem, wenn man sich nicht in seinem eigenen Element befindet.
»Weil mir das gerade zu viel Kraft ziehen würde und danach wäre ich total erschöpft. Das wäre ziemlich unnötig. Und ungünstig ...«
Als meine Wunden verarztet sind, steht sie auf und ich tue es ihr gleich.
Schnurstracks läuft sie zum Schrank, holt ein eisblaues, knielanges Kleid mit Taillen-Raffung heraus und reicht es mir. Der Stoff fühlt sich angenehm an, doch ich rümpfe die Nase.
»Das ziehe ich bestimmt nicht an«, sage ich bestimmt und werfe das Kleid in einem Schwung auf das Bett hinter mich.
Claire verdreht die Augen, sagt aber nichts. Sie greift in den Schrank und holt ein olivgrünes Cocktailkleid heraus. Ich bin wirklich kein Fan von Kleidern, aber dieses ist wenigstens in einer meiner Farben gehalten.
Ich nicke stumpf und sie verdreht wieder die Augen, diesmal belustigt, als hätte sie es schon geahnt.
Sie nimmt die Kleidungsstücke entgegen, die ich ausgezogen habe und bringt sie zu einem Korb neben dem Schrank. Sie sind zu schwer, um vom Wasser getragen zu werden und sinken sofort auf dessen Boden.
Dann hilft sie mir, das Gewand anzuziehen und bürstet meine Haare, welche nun leicht im Wasser schweben. Mit flinken Fingern bindet Claire sie zu einem ordentlichen Zopf.
Ich schaue mich im Spiegel an. Mein Arm ist verbunden und die Beine zerkratzt. Das Kleid passt jedoch wie angegossen. Es steht mir sogar einigermaßen. Der Zopf sieht auch edel aus. Claire versteht ihr Handwerk.
Und ich habe abgenommen. Enorm abgenommen.
Wie lange, verdammt nochmal, war ich eingesperrt?
Meine Haut ist bleich und heller als sonst, ich sehe erschöpft und abgekämpft aus. Meine Augen wirken dunkler, mit tiefen Ringen darunter. Mein Mund ist zu einer schmalen Linie verzogen. Doch mein Ausdruck wirkt entschlossener, ich sehe erwachsener aus. Ich bin nicht mehr das kleine, unsichere Mädchen. Die Gefangenschaft in der Zelle hat mich stärker gemacht.
Die Luftblase, die um meinen Kopf schwebt, sieht man kaum – nur wenn man genau hinsieht, ist da ein seltsames Flimmern.
Es ist nicht die Art von Luftblase, die ich hervorbringen kann. Sie ist mächtiger. Deshalb musste ich den Zauber wohl auch nicht erneuern. Wahrscheinlich ist sie von diesem Arzt, denn Ärzte beherrschen die Macht beider Elemente. Sie können sowohl Wasserblasen, Kiemenzauberei und auch Luftblasen zaubern.
»Gefällst du dir?«, ertönt Claires helle Stimme hinter mir.
Ich gehe nicht darauf ein. »Was ist das für eine Luftblase?«
Sie legt den Kopf schief und schaut mich im Spiegel an. »Der Arzt hat sie dir gemacht. Keine Ahnung, irgendeine spezielle Art, die nur Ärzte beherrschen.« Sie zuckt mit den Schultern, bückt sich und holt schwarze Schuhe aus der unteren Schrankschublade, welche einen winzigen Absatz haben. Zum Glück sind sie nicht zu prunkvoll, sondern einfach schlicht.
»Wie lang war ich überhaupt in dem Käfig?« Gespielt desinteressiert schaue ich Claire an.
»Fünf Tage«, antwortet sie sofort.
Fünf Tage. Ich nicke kurz. »Wie viel Uhr ist es?
»Zwei Uhr mittags, der sechste Tag«, erwidert sie und ich nicke wieder.
Damit wäre wohl das Wichtige geklärt. Allerdings dachte ich, dass ich viel länger in dem Käfig gesessen war. Merkwürdig.
Claire läuft zur Tür und öffnet sie.
»Wohin gehen wir?«, frage ich verwundert.
»Zum Mittagessen«, erwidert sie und lächelt mich an.
»Und ... wie ... wie viele sind da?«
»Ziemlich viele.« Nervös laufe ich hinter ihr her. Wieso soll ich bitte zu einem Mittagessen nach dieser ganzen Tortur? Und vor allem mit dem?
Wir laufen die Korridore entlang, die Wachmänner folgen uns in einem geringen Abstand. Ich gebe auf, mir einzuprägen, wohin wir gehen – es ist zu schwierig. Der Palast ist zu groß.
Claire läuft mit Leichtigkeit durch die Gänge. Sie scheint sich hier perfekt auszukennen. Wie lange sie wohl schon hier arbeitet?
Nach einigen Minuten betreten wir einen großen Saal. Lange Tafeln sind dort aufgestellt und mit blumigen Tischdecken dekoriert. Im oberen Bereich des Raums sind kunstvolle Malereien zu sehen und der Boden ist aus glänzend weißem Marmor, in dem man sich beinahe spiegeln kann. Von der Decke hängen mehrere prunkvolle Kronleuchter. Am Ende des Saales steht ein Tisch auf einem Podest. Er ist golden und vier Throne stehen dahinter.
Scheiße.
Bedeutet das, dass alle von der Königsfamilie hier sein werden? Der Tyrann, seine Frau, die Tochter, von der sich die Landleute erzählen, dass sie schrecklich verwöhnt ist, und der Prinz, der mich gefoltert hat?
Ich seufze. Am liebsten würde ich auf der Stelle umdrehen und verschwinden. Aber das würde natürlich niemals funktionieren. Vielleicht sollte ich mich nicht so anstellen. Schließlich lebe ich noch, das ist doch schon mal gut. Ich seufze abermals und ergebe mich der Situation.
An den Tischen sitzen viele, edel aussehende Menschen. Sie sind schick gekleidet und tragen auffälligen Schmuck. Sie unterhalten sich lachend, stoßen mit ihren Kelchen an und laden sich ihre Teller voll.
Was für eine Welt.
Claire führt mich zu einem Tisch in der Nähe des Podests. Ich schlucke.
Einer der Wachmänner bindet meine Hände noch fester mit der Eisenkette zusammen.
Als würde ich jetzt wegrennen oder irgendjemanden mit einer Gabel erstechen ... Was denken die sich eigentlich?
Fast alle Menschen im Saal haben mich mittlerweile bemerkt und beobachten mich, teils mit geschockten, teils mit arroganten Gesichtsausdrücken.
Ich starre sie nacheinander unverwandt an. Jede Person, der ich für eine längere Zeit kalt und trotzig in die Augen schaue, wendet ihren Blick entweder ab oder hält meinem provokant stand.
»Und wie soll ich mit den Fesseln essen, du Schwachkopf?«, fahre ich einen der Männer hinter mir unbeherrscht an.
Reiß dich zusammen, rede ich mir selbst zu, schließe kurz die Augen und atme tief ein und aus.
Claire tätschelt mir beruhigend den Arm. Mit einer ambivalenten Mischung aus Zorn und Dankbarkeit funkle ich sie an.
»Setz dich«, sagt sie beschwichtigend.
»Setz du dich zuerst«, erwidere ich versöhnend und deute einladend auf die Bank.
Seufzend senkt sie den Blick. Ich runzle die Stirn und sehe sie fragend an.
»Das Personal darf nicht mitessen«, murmelt sie. Sie wirkt etwas unsicher und irgendwie ... härter als noch vor ein paar Sekunden. Was ist mit ihr los?
Doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich, die Gefangene, darf mitessen, aber sie, das Personal, nicht. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Stehe ich nicht – rein logisch betrachtet – eine Stufe unter dem Personal?
Ich hebe meine Hand und berühre sie leicht an der Schulter, bis sie aufsieht. »Tut mir leid, dass ich das gefragt habe.« Etwas Besseres fällt mir nicht ein, doch sie scheint zu merken, dass ich es ehrlich meine und sie verstehen kann. Ein kleines Lächeln huscht über ihre Lippen.
Die Verschlossenheit ist augenblicklich verschwunden und die ausgelassene Claire ist wieder da.
»Schon gut«, flüstert sie sanft, »ich gehe jetzt, aber nachher hole ich dich wieder ab.« Sie zwinkert mir zu.
Ich lächele dankbar, als sie sich umdreht und in Richtung Ausgang läuft. Dabei streift sie versehentlich einen älteren Mann, der an dem mir zugewiesenen Tisch sitzt. Er ist rundlich gebaut und hat kurze, graue Haare.
»Pass doch auf, du nichtsnutzige Dienstmagd«, platzt es aus ihm heraus und er fixiert Claire mit einem zornigen Blick.
Diese bleibt wie versteinert stehen und schaut ihr Gegenüber überrascht an.
»Was tust du überhaupt hier? Du bist hier nicht willkommen, verschwinde!«, fährt er fort und schaut Claire missbilligend an.
Ihre Augen weiten sich erschrocken, aber sie erwidert nichts, wirkt wie versteinert.
Was fällt diesem verdammten Idioten ein? Wie kann er es wagen, Claire vor allen so zu demütigen? Ich spüre, wie die Wut in mir hochkocht und versuche sie krampfhaft in Schach zu halten.
»Entschuldigen Sie bitte, Herr«, murmelt Claire leise und schaut zu ihrem Gegenüber auf.
Weitere Personen an seinem Tisch sind auf die Situation aufmerksam geworden und werfen Claire neugierige Blicke zu. Doch niemand sagt etwas. Natürlich nicht. Die Blicke verwandeln sich zunehmend in Spott und boshafte Belustigung.
Ich kann meine Wut nicht mehr länger zurückhalten, lasse zu, dass sich der heiße Lava-Ball in mir ausbreitet und meine Handlungen steuert. »Scheiß drauf«, murmle ich und stapfe auf den Mann zu. Mein Temperament wird mir eines Tages noch den Tod bringen.
Die Wachmänner folgen mir, wohl darauf bedacht, jeder Zeit einzugreifen, wenn ich jemanden schaden würde.
»Hören Sie auf, das Mädchen so anzuschreien. Sie hat nur ihren Arm gestreift. Tagtäglich arbeitet sie in diesem Palast, sorgt sich um ihr Wohlergehen und alles, was Sie zum Dank zeigen, sind Beleidigungen, wenn sie ihren Arm versehentlich berührt?« Ich versuche, die Wut in meiner Stimme zu unterdrücken und beherrscht zu sprechen.
Der Mann sieht mich einen Augenblick verwundert an, dann verdüstert sich seine Miene, verzieht sich zu blanker Zorn.
Ich schiele zu Claire. Ihr Kopf ist nicht mehr gesenkt und sie lächelt mich kaum merklich an.
Der grauhaarige Typ erhebt sich, schaut mich grimmig an und lässt dann mit voller Genugtuung seine Hand auf meine Wange schellen. Ich taumle ein Stück zurück. Schmerz durchzuckt mich.
»Halte du dich da raus, du hast hier gar nicht mitzureden, du wertloses Landmenschenmiststück.« Seine Stimme ist erstaunlich ruhig, strotzt allerdings vor kalter Ablehnung.
Dann bricht Chaos aus.
Viele weitere Menschen erheben sich und umringen uns. Ich höre wie durch Watte, dass sie auf mich einreden, dem Mann bestätigend zusprechen und Claire spitze Bemerkungen zuwerfen.
Diese schaut mich besorgt an, gibt aber keinen Ton von sich.
Die Menge an Menschen verschwimmt vor meinen Augen. Wie in Zeitlupe sehe ich, wie die Wachmänner sie trennt und versucht, sie auseinanderzuhalten.
Mir wird schwindelig und ich verliere mein Gleichgewicht, doch Claire hält mich, bevor ich falle. Von unten schaue ich den Mann aufgebracht an. Er erwidert meinen Blick und grinst spöttisch auf mich herab. Was für ein Ekel. Doch bevor noch etwas Schlimmeres geschehen kann, hallt eine laute Stimme von der anderen Seite des Saales zu uns herüber.
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