1. Kapitel

Sarah

Das Leben ist hart und du musst stark sein, wenn du in dieser Welt überleben willst. Diesen Satz haben mir meine Eltern eingetrichtert, bis ich ihn in- und auswendig konnte. Und obwohl ich früher die Bedeutung nicht verstand, heute tue ich es. Er ist mein Mantra geworden, das auch an diesem frühen Morgen schon in meinem Kopf kreist.

Ich schlüpfe leise aus der Hütte, das Handtuch an mich gedrückt und laufe hinunter zu den alten Duschkabinen.

Immer wieder drehe ich mich um, schaue, ob mir jemand folgt. Alle anderen scheinen noch zu schlafen. Gut. Erleichtert steige ich in eine der winzigen Kabinen und lasse mir das kühle Wasser über den Kopf laufen.

In zehn Minuten ist halb sechs. In zehn Minuten werden alle aufstehen und zu den Duschen laufen, die letzten werden kein Wasser mehr vorfinden, da alles verbraucht ist. An jedem anderen Tag wäre mir das egal gewesen, ich hätte mich mit den anderen Frauen und Mädchen in eine Reihe gestellt und gewartet. Doch heute brauche ich die Zeit für mich.

Meine Hände werden taub von dem eiskalten Wasserstrahl und ich beeile mich mit dem Einseifen und Abspülen, damit mir nicht auch noch die Beine einschlafen. Ich wickle meinen Körper in das große Handtuch, ziehe eine graue Hose und ein weites olivgrünes Shirt an, das am Saum schon ausgefranst ist. Meine Haare binde ich zu einem schnellen Zopf. Als ich mir die Schuhe binde, merke ich wie sehr ich zittere.

Es wird alles gut gehen, spreche ich mir in Gedanken Mut zu und verlasse die Kabine.

Davor hat sich bereits eine kleine Schlange gebildet. Ganz vorne steht meine kleine Schwester Lee. Sie sieht mich aus ihren großen dunklen Augen an, gibt aber keinen Mucks von sich, drückt nur ihren Teddybär an sich, den sie auf dem Arm hält. Ich laufe an ihr vorbei. Mir ist bewusst, dass ich mit ihr reden sollte, aber ich kann nicht. Seit Monaten hat sie nicht mehr richtig gesprochen. Seit diese verdammten ... Ich stoppe den Gedanken so schnell, wie er gekommen ist und beeile mich in Richtung Hütte zu laufen.

Auf halbem Weg kommen mir Jack und mein Dad entgegen. Sie tragen den großen Blecheimer zum Brunnen, um ihn fürs Kochen aufzufüllen, bevor auch dort das Wasser ausgeht.

»Sarah.« Mein Dad hält mich auf und ich bleibe abrupt stehen. »Ist alles klar für nachher? Hast du dir alles eingeprägt?«

Er mustert mich besorgt.

Ich nicke und möchte weitergehen, doch er greift nach meinem Arm.

»Alles in Ordnung? Du musst das nicht machen, wenn du dich nicht wohl damit fühlst.«

Ich verenge meine Augen zu Schlitzen und schiebe seine Hand weg. »Ich ziehe das durch«, entgegne ich schroff und schüttle kurz den Kopf, um meine wirren Gedanken zu ordnen.

Mein Vater sieht mich besorgt, aber einigermaßen überzeugt an.

Im nächsten Moment läuft Jack zu mir herüber. »Hast du alles, was du brauchst?«

Ich nuschle ein leise »ja« und er lächelt mich mit seinem berüchtigten Jack-Lächeln an, bei dem es mir jedes Mal warm ums Herz wird.

»Wir schaffen das, Sarah«, ermutigt er mich und ich lächele ihn kurz an, bevor ich zurück zur Hütte haste.

Meine Mum steht am Tisch und packt die Produkte in die traditionellen Weidekörbe, die wir immer benutzen müssen, um in der Wasserwelt unsere Ware zu verkaufen

»Sarah!« Wütend sieht sie von ihrer Arbeit auf. »Wo ist Lee? Ich habe sie extra zu dir geschickt, damit sie nicht allein duschen muss. Wahrscheinlich wird sie jetzt ewig unter dem kalten Wasser stehen, weil sie nicht merkt, wann es genug ist. Warum bist du nicht bei ihr?«

Schweigend helfe ich ihr beim Einpacken.

Ich weiß, welche Sorgen sie sich immer um Lee macht und welch eine große Last die Trauer meiner Schwester für sie ist.

Ich hebe meinen Blick und sehe ihr in die Augen.

»Es tut mir leid, Mum. Heute Morgen musste ich mich wirklich um mich selbst kümmern ... Ich gehe gleich nach Lee gucken.«

Mum sieht mich an, ihre Züge sind weicher geworden. »Ich weiß, ich mute dir viel zu, aber Lee braucht dich. Ich schaffe das nicht alles alleine. Kann ich mich in Zukunft auf dich verlassen?«

Ich nicke und packe frisches Brot in die Körbe. »Was ist, wenn es mir diesmal nicht gelingt?«, stelle ich die gefürchtete Frage und schaue auf, nur um in das liebevolle Gesicht meiner Mutter zu sehen.

»Du wirst es schaffen, auch diesmal. Warum denn auch nicht? Es hat bis jetzt jedes Mal geklappt.«

Ich nicke zustimmend, lächle sie kurz an und wende mich wieder den Körben zu.

»Ich habe dir eine Bluse rausgesucht.« Mum gibt mir einen Bügel, auf dem eine frisch gebügelte, olivgrüne Bluse hängt.

Ich ziehe mein T-Shirt aus und die Bluse an, während Mum meine matten, braunen Haare zu einem neuen, ordentlicheren Zopf bindet.

In dem Moment kommt Dad herein, an der Hand hält er Lee. Hinter mir ertönt ein erleichtertes Seufzen und ich entspanne mich ebenfalls ein wenig. Lees Haare sind nass und sie läuft schnurstracks zu Mum, ohne mich auch nur anzusehen. Diese wickelt ihre blonde Mähne in ein Handtuch.

Ich knie mich vor sie und ziehe sie an den Schultern zu mir, dass sie mir ins Gesicht sieht. »Es tut mir leid, dass ich einfach gegangen bin. Ich hätte bleiben sollen. Verzeihst du mir?« Ich lächle sie leicht an und streiche ihr mit der Hand über ihre rosige Wange.

Sie legt den Kopf schief und nickt dann, lächelt aber nicht zurück. Sie lächelt schon lange nicht mehr.

Auf einmal flammt rote Wut in mir auf. Wie konnten sie ihm so etwas antun? Und meiner kleinen Schwester das Herz zerbrechen?

Ich richte mich ruckartig auf, schnappe den Korb und laufe zur Tür. Mum und Lee bleiben zurück und ich schaue sie noch einmal liebevoll an, bevor ich zu Dad und Jack trete.

»Bereit?«, fragt Jack. Ihm fallen Strähnen seines hellbraunen Haares in die Stirn, welche seine dunkelgrünen Augen etwas verstecken.

»Bereit«, erwidere ich.

Er grinst mich an und ich nehme seine Hand, die er mir entgegenstreckt.

Gemeinsam laufen wir zum Dorfrand, wo die Trucks stehen, mit denen wir an die Küste, zum Portal, gebracht werden. Hinter uns laufen viele Menschen, alle tragen Körbe, alle sind eingeweiht.

Jeder möchte sich wehren und bei unserem Plan dabei sein. Vor ein paar Monaten war dies noch nicht der Fall. In unserem Dorf gab es diese Gruppe, die etwas verändern wollte, zwar schon seit meiner Geburt, aber diese war ziemlich klein und man hat sie nicht sonderlich beachtet.

Jacks und meine Familien gehören seit Ewigkeiten zu ihnen.

Seit dem Vorfall mit Lee und dem kleinen Mike hat sich alles schlagartig verändert. Die Menschen haben begriffen, dass es so nicht weitergehen kann.

Deshalb verstecken wir seit ein paar Monaten geheime Botschaften in Oceans – der Stadt, in der wir unsere Ware als untertänige Landmenschen verkaufen.

Es passierte noch nie etwas bei diesen Vorhaben. Wir sind vorsichtig. Es ist nicht unser Ziel, Menschen zu verletzen. Zumindest nicht, solange es anders geht. Doch wenn wir irgendwann wirklich etwas Großes erreichen wollen, wird das vermutlich unvermeidbar sein.

Wir wollen die Aufmerksamkeit der Landmenschen erregen, die nicht an der Küste leben und denen es noch schlimmer geht als uns, die noch härtere Arbeit ausüben müssen. Sie sind für die gefährliche Entwicklung der Elektrizität unter Wasser zuständig, hohlen Kohle, Öl und andere Stoffe aus Mienen und stellen Waffen her.

Und wir wollen auf uns aufmerksam machen. Darauf, dass wir hier sind und nicht aufgeben, bis Gerechtigkeit herrscht. Bis der König endlich sein Amt abgibt und Wassermenschen und Landmenschen friedlich nebeneinander leben können.

Bisher haben wir leider kaum etwas erreicht, trotz jahrelanger Arbeit. Aber in letzter Zeit bekommen wir immer mehr Antworten von anderen Dörfern auf unsere Botschaften. Es fühlt sich gut an, zu wissen, dass wir endlich nicht mehr alleine sind.

Wir steigen in die Trucks, in deren Fahrerhäusern Polizisten sitzen. Sie arbeiten zwar für sie, sind aber welche von uns. Die Polizisten werden sehr gut bezahlt und nur manche, sehr wenige von uns, werden von ihnen ausgewählt, bei der Polizei zu arbeiten.

Ich würde mich niemals gegen meine eigenen Leute stellen. Für kein Geld der Welt. Auch wenn uns eingetrichtert wird, dass wir nichts wert sind. Doch ihre Worte sind unwichtig für mich. Wir alle sind es wert ein gutes Leben zu führen – egal, wo und wie wir aufwachsen oder wer wir sind.

Die wuchtigen Türen werden zugeschlagen und die Wägen setzen sich in Bewegung. Das Land verändert sich rasant. Wird flacher und weniger grün. Bis ich nur noch Sand und keinen einzigen Baum mehr sehe.

Auf einmal halten die Trucks ruckartig an und ich öffne die Tür von innen, springe ins Freie. Der Sand fängt mich auf und ich nehme den salzigen Geruch von Meerwasser wahr. Sofort verschlägt es mir den Atem und mir wird schwindelig. Ich verabscheue diesen Geruch zutiefst. Ich verabscheue das Meer zutiefst.

Würde ich die Wassermenschen nicht so sehr hassen, könnte ich den Geruch bestimmt mögen und das Meer vielleicht sogar schön finden. Aber das tue ich nicht. Ich lebe nun einmal in dieser Welt und kann nichts daran ändern. Ich seufze.

Wir folgen den Polizisten nach vorne, zu dem Ort, an dem sich Wasser und Land berühren. Ein großes hölzernes Portal ohne Türen ist davor aufgestellt. Es besteht aus einem dunkelbraunen riesigen Rahmen, durch den man das weite Meer sehen kann. Das Wasser umströmt das Portal im unteren Bereich, formt es und schleift es weich.

Mindestens ein Dutzend uniformierte Wassermenschen stehen hinter dem Portal, mit den Füßen im flachen Wasser. Um ihre Köpfe fließen Wasserblasen, die ihre Kiemen bedecken.

Einer geht auf uns zu. Es ist ein großer, breiter Mann in einer makellosen, blauen Uniform. »Tretet vor. Schmückt euch mit Blumen. Weist euch aus«, bellt er.

Man kann jedes Wort verstehen, obwohl er in der Wasserblase spricht. Das ist ein Teil ihres Zaubers.

Ich hasse Wassermenschen. Ich hasse sie zutiefst.

Ich rümpfe die Nase, stelle mich in die Schlange und tippe meine Arme, Beine und den Oberkörper mit den Fingern an. Sofort schlängeln sich Blumen entlang dieser Stellen und zieren mich. Jeder Landmensch besitzt die Kraft, andere Blüten hervorzuzaubern, je nach persönlichen Vorlieben. Sie gehören zu einer Art Uniform. Wir dürfen nur dunkle Hosen und grüne, rote oder gelbe Oberteile tragen – Erdtöne, passend zu unserer Herkunft. Wir müssen uns immer, wenn wir die Wasserwelt betreten, mit Blumen schmücken, da diese uns nochmal zusätzlich ausweisen.

Mich schmücken bunte sommerliche Feldblumen. Diese habe ich als kleines Kind immer mit meiner Mutter gepflückt und dann den Esstisch damit dekoriert.

Kurz schließe ich die Augen und atme ihren Duft ein. Sie riechen nach zuhause.

Die Schlange wird kürzer und schließlich bin ich dran. Ich weise mich aus und werde in eine weitere Reihe geschickt, die sich vor dem Portal gesammelt hat und auf Einlass wartet.

Als alle registriert und mit Blumen bedeckt sind, heben die uniformierten Wassermenschen ihre Arme und das Meer bäumt sich zu einer haushohen Welle auf, öffnet sich zu einem großen Durchgang in der Höhe des Portals.

Nacheinander treten wir ein, tauchen in die Wasserwelt ein, nachdem wir unsere Köpfe mit Luftblasen umhüllt haben.

Jack läuft neben mir. Um seinen Körper schlängeln sich violette Lilien.

Es sind die Blumen, die er auf das Grab seiner Mutter legt. Tag für Tag.

Oceans ist äußerlich betrachtet eine wunderschöne Stadt. Die Häuser sind blau und die Straßen poliert, glänzen Türkis. Überall laufen Menschen in schicken blauen Klamotten herum, wie die Farbe des Meeres. Damen mit weiten, eleganten Kleidern, Männer mit edlen Anzügen. Eigentlich darf ich diese Stadt nicht schön finden, erinnert mich eine energische Stimme in meinem Kopf. Ich schließe die Augen und schüttle den Kopf.

Da Oceans so nah an der Küste liegt, ist hier immer genug Licht, welches durch die Wasseroberfläche bricht. Allerdings gibt es auch dunkle Tage, wenn der Himmel von Wolken bedeckt ist, an denen die Helligkeit künstlich erzeugt werden muss.

Fische leben hier schon längst keine mehr. Die Menschen haben sie vertrieben, immer tiefer und weiter ins offene Meer hinaus. Sie stahlen ihren Lebensraum, zerstörten ihr zuhause.

Immer wenn ich im Wasser laufe, was eigentlich nicht möglich sein sollte, fühlt es sich kinderleicht an. Es ist sanft und man spürt keinerlei Widerstand. Nass werde ich auch nicht. Das liegt an dem Zauber, der mich umhüllt. Durch ihn kann ich mich frei bewegen, Dinge fühlen wie an Land und das Wasser bereitet meinem Körper keinerlei Schäden.

Genauso ist es bei den Wassermenschen. Zwar wäre es für sie möglich, zu schwimmen, aber das macht kaum noch jemand von ihnen. Stattdessen besitzen sie die Fähigkeit, im Wasser zu laufen, da es ihr Element ist, quasi ihre Luft. Außerdem funktioniert durch mehrere Zauber und individuell hergestellte Materialien alles ebenso gut und einfach wie über Wasser.

Wir betreten den Marktplatz, der aus Marmorboden besteht und glänzt, als wäre er aus tausenden Diamanten.

Jack und ich gehen zu der Stelle, an der wir immer stehen, bauen unseren kleinen Tisch auf und legen unsere Ware darauf. Die Kartoffeln, das Brot und der Käse sind durch das Wasser matschig und sehen nicht gerade lecker aus. Wie können die das freiwillig essen?

Schon bald ist der Markt voll mit Wassermenschen.

Ich schnaube, als ich an die seltsamen alten Legenden denke, die ich aus Schulbüchern kenne. In denen werden Wassermenschen mit Fischflossen dargestellt und als überaus gütige und freundliche Wesen bezeichnet. Außer die Sirenen. Diese, so heißt es, betörten mit ihrem Gesang Seemänner, bis deren Schiffe an den Felsen zerschellten. Boshafte Monster. Sie hatten schon eher eine Ähnlichkeit mit den heutigen Wassermenschen. Ich frage mich, woher solche seltsamen Legenden stammen.

War es vor hunderten, tausenden Jahren wirklich so anders auf diesem Planeten gewesen? Gab es damals diese Art der Wassermenschen noch gar nicht?

»... dieses Öl?«

Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, sehe eine Wasserfrau vor mir, die mich mit eisblauen Augen anfunkelt.

Jack beobachtet mich sorgenvoll.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum man im Wasser reden kann und jedes Wort versteht. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass es bei uns wegen des Zaubers klappt und bei den Wassermenschen, weil es einfach so ist. Für sie gibt es keine Regeln, sonst müsste man hier alles hinterfragen. Es ist eben ihr Reich, ihr Element.

»Wie bitte?«, frage ich um Fassung ringend.

Die Miene der Frau verdüstert sich. »Du dummes Ding. Hör besser zu!«, ruft sie wütend.

Ich nicke schnell. Ich sollte lieber keinen Streit provozieren. »Das Öl. Aus was wurde es hergestellt, woher kommt es?«, wiederholt sie und schaut mich finster an.

»Ach so, das Öl. Es kommt aus unserem Dorf, ist selbst gemacht, Oliven-«

»Wo ist denn euer Dorf? Weißt du wie viele Landtrottel aus irgendwelchen Dörfern hier täglich herkommen?«, unterbricht sie mich.

Ich schlucke.

Ruhe bewahren.

Unter dem Tisch drückt Jack beruhigend meine Hand. Ich bin so froh, dass er da ist. Alleine würde ich das alles niemals durchstehen.

»Greenforest, an der Küste. Es besteht aus Oliven und verschiedenen Gewürzen. Selbst angebaut in unserem Gewächshaus. Die Oliven sind nicht genverändert und wurden auch nicht chemisch gedüngt«, sage ich sachlich.

Die Frau nimmt die Flasche und wirft mir das Geld auf den Tisch. »Das nächste Mal, wenn du dich so benimmst, bin ich gezwungen das Wachpersonal zu holen«, droht sie. Ihre Augen leuchten gefährlich. Dann dreht sie sich um und läuft davon.

»Ein nächstes Mal, wird es hoffentlich nicht geben«, murmelt Jack und möchte mir seine Hand entziehen, um das Geld zu nehmen.

Doch ich halte sie fest und er lächelt schief. Das Geld nimmt er mit der anderen Hand und legt es in die luftgefüllte Kasse, berührt es kurz, damit es trocken wird. Seine Fingerkuppen glühen bei diesem Zauber hell auf.

»Wann geht es los?«, frage ich nervös.

»Bald.« Er grinst. »Sehr bald ...«

Wir verkaufen noch zwei Brotlaibe und etwas Milch, Butter und Käse, als plötzlich Tumult ausbricht.

Ein Stand wurde auf den Boden geworfen, die Ware liegt ringsherum verteilt. Ein Mann aus unserem Dorf hat Streit mit seinem Kunden angefangen, der daraufhin das Wachpersonal eingeschaltet hat, welches grob auf den Mann einredet.

Unser Zeichen. Die perfekte Ablenkung.

Wir stehlen uns davon. Immer mehr unserer Leute weichen unauffällig zurück, laufen in verschiedene Richtungen.

Ich renne mit Jack in eine ruhige Gasse, wo wir uns auf den Boden knien und Linien auf den massiven Untergrund malen. Unsere Fingerkuppen glühen, während wir die Worte bilden.

Schließt euch uns an, für Gerechtigkeit. Wir waren hier. Verbreitet die Nachricht. Macht mit.

-Greenforest

Das wiederholen wir in verscheiden Gassen, immer vorbereitet, erwischt zu werden. Diese Botschaften können nur Landmenschen sehen, egal wie oft Wassermenschen über den Boden laufen, da die Nachricht von einem Zauber beschützt wird.

Die Menschen aus den anderen Dörfern werden sie sehen, wenn sie herkommen. Es gibt unzählige verschiedene Portale und jedes Dorf kann durch ein anderes kommen.

Allerdings kommen nicht alle Menschen vom Festland hierher, viele wohnen im Landesinneren und somit zu weit weg. Sie müssen ihre Ware schicken und die Bewohner der umliegenden Orte nehmen sie mit.

Oceans ist die einzige richtige Stadt unter Wasser. Es gibt zwar an der Küste entlang noch weitere, kleinere Unterwasserorte, wo Fürsten und Grafen ihre Sitze und ihr Land haben, doch hier wohnt der König, hier ist die Hauptstadt, das Herz des Ozeans vom Nordkontinent.

Es gibt auch einen Südkontinent, dort herrscht jedoch ein anderer König. Ich war noch nie dort, aber man erzählt sich, dass er fast genauso unbarmherzig regiert.

Erbarmungslos und kalt. Die Herrscher des Meeres unterdrücken uns Landmenschen, wo es nur geht.

Auf einmal ertönt ein Schuss, worauf panische Schreie folgen.

Die Geräusche scheinen vom Marktplatz zu kommen. Erschrocken hebe ich den Kopf.

Mein Dad ist noch dort. Ohne nachzudenken renne ich los.

»Warte!« Jack versucht mich aufzuhalten, doch es ist zu spät.

Ich laufe, ohne über die Folgen nachzudenken. Die Angst treibt mich, lässt die schrecklichsten Szenarien in meinem Kopf entstehen.

Was, wenn meinem Dad etwas zugestoßen ist?

Als ich atemlos auf dem Platz ankomme, sehe ich Tom, unsere Ablenkung. Er ist ein Nachbar. Ein Freund meines Vaters. Seine Augen sind nach hinten verdreht und das Blut vermischt sich mit dem Wasser, die Sicht um seinen leblosen Körper wird trüb.

Kurz bin ich erleichtert, dass es nicht mein Dad ist, doch dann wird mir sofort übel. Er war ein Mensch, einer von uns. Geschockt starre ich auf das Szenario, kann den Blick kaum abwenden. Meine Hände zittern und es fühlt sich an, als würde die Zeit stehen bleiben.

Noch nie ist so etwas geschehen.

Noch nie wurde eine unserer Ablenkungen abgeführt oder gar umgebracht.

Was war heute anders? Was ist passiert?

Ich versuche, die Übelkeit loszuwerden und atme tief ein und aus.

Die meisten unserer Leute halten sich die Hände vor das Gesicht, um diese schreckliche Szene nicht ansehen zu müssen. Andere stellen sich langsam und unauffällig wieder an ihre Stände. Als wären sie nie weg gewesen. Als hätten sie keine Botschaften hinterlassen.

Mein Blick wandert zu Jack, der von der anderen Seite auf den Marktplatz kommt, die noch immer glühenden Fingerkuppen in seinen Hosentaschen versteckt. Er schaut vielsagend auf meine Hände. Hastig stecke ich sie ebenfalls in die Taschen.

Auch mein Vater steht ruhig am Rande des Geschehens.

Die Wachleute drehen sich um, überprüfen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Sie laufen zu den Verkäufern an den Ständen, halten sie fest, durchsuchen sie, fragen sie energisch aus.

Sie wissen etwas von den Botschaften. Sie sind misstrauisch. Irgendwie scheint die Nachricht, dass etwas nicht stimmt, nach oben in die höchsten Reihen des Palasts gekommen zu sein.

Und das heißt, dass wir erfolgreich sind. Dass vielleicht schon mehrere Dörfer sich unserem Plan angeschlossen haben. In meiner Brust wallt kurz ein Gefühl des Sieges auf, bis mein Blick wieder auf den toten Mann fällt.

Für welchen Preis? Welchen Preis werden wir zahlen müssen, wenn wir siegen wollen?

Ich schaue wieder zu Jack und da sehe ich sie.

Ein kleines Mädchen sitzt hinter dem toten Mann, ein Stück abseits auf dem Boden. Sie ist mit Tulpen geschmückt und schätzungsweise gerade mal sechs Jahre alt.

Wieso zum Teufel ist sie hier? Sie ist viel zu jung!

Hatten ihre Eltern keine Wahl, weil sie bei niemandem so lange bleiben kann? Ich weiß es nicht. Trotzdem sollte sie das nicht mitansehen müssen.

Nein.

Ich sehe, wie ihre glühenden Fingerkuppen über den Marmorboden gleiten und sie gedankenverloren irgendwelche Buchstaben formt. In diesem Moment lässt ein Wachmann von seiner Befragungsperson ab und ist im Begriff sich umzudrehen.

Wenn sie sehen, dass das kleine Mädchen eine Botschaft hinterlässt, ist alles aus für uns. Aber vor allem für sie.

Ich habe keine andere Wahl, ich muss ihr helfen. Kurz sehe ich in Jacks Gesicht. Weit aufgerissene Augen, offener Mund.

Ich ignoriere ihn und renne so schnell es geht, überquere den Marktplatz. Ihr darf nichts zustoßen.

Es darf nicht nochmal so etwas geschehen, wie mit Mike.

Als ich bei dem Mädchen ankomme, stoße ich sie schnell weg. Dabei knallt sie gegen einen Tisch, reißt Brot und Milch herunter.

Eine Frau aus unserer Reihe reagiert schnell, hebt sie hoch und schlingt sie um ihre Hüfte.

Ich habe keine Zeit mehr, zu flüchten.

Der Wachmann dreht sich um und starrt erst mich, dann den Boden und schließlich meine Hände an, die ich ausgebreitet habe.

Es sieht so aus, als hätte ich eine Botschaft hinterlassen und meine immer noch glühenden Fingerkuppen machen es nicht besser.

Mein gesamter Körper zittert und ich weiß nicht, ob mir heiß oder kalt ist.

Der uniformierte Wassermensch kommt auf mich zu, baut sich bedrohlich vor mir auf. »Na sieh mal einer an, da habe ich doch tatsächlich jemanden erwischt!« Er packt mich bei den Händen, zerrt mich auf die Füße und schubst mich heftig von sich.

Ich taumle, kippe leicht zur Seite, als mich ein gewaltiger Schmerz erfasst. Trotz der Luftblase hat er mir mitten ins Gesicht geschlagen und ich spüre, wie mir warmes Blut über das Gesicht läuft.

Keuchend versuche ich mich seinem Griff zu entziehen.

Dumpf höre ich Jack hinter mir schreien und Dad meinen Namen rufen.

Doch was können sie schon ausrichten?

Weitere Männer kommen auf mich zugestürmt, alle in blauen Uniformen, und zerren an mir.

Wildes Chaos bricht aus und ich sehe kaum noch etwas. Vor Schmerz krümme ich mich zusammen, versuche mich loszureißen. Doch meine Kraft lässt nach und ich spüre, wie mir raue Fesseln angelegt werden.

Ich werde mitgezogen, spüre starke Hände, die mich brutal wegschleppen. Weg von meinen Leuten, weg von den lauten Stimmen.

Als ich ein letztes Mal die Augen öffne, sehe ich Jack, der nach vorne springt, von Wachmännern festgehalten wird und verzweifelt ruft: »Sarah! Bleib bei mir ...« Seine Stimme bricht, er fällt wie in Zeitlupe vor mir auf die Knie und dann wird alles schwarz ...


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top