1. Kapitel

Lucys POV
„Lucy? Lucy! Komm auf der Stelle runter! Die Gänse füttern sich nicht von alleine!", schallte die Stimme meiner Mutter durch's Haus.
Ich schlug die Augen auf und stöhnte leise. „Ich komme, Mom."
Seufzend schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf.
Schnell zog ich mir einen grauen Pullover, der schon von ein paar Flecken und Flicken übersät war, und eine ausgebleichte, ein wenig ausgefranste Latzhose an und lief nach unten in die Küche.
Meine ältere Schwester Grace saß am Tisch mit einem Glas Wasser in der Hand und sah starr vor sich ins Leere.
„Guten Morgen, Grace.", begrüßte ich die freundlich.
Ihr Blick schweifte zu mir. Ausdruckslos, vollkommen gefühlskalt. Eine Zeit lang starrte sie mich nur an und ich befürchtete schon, dass gar nichts mehr kommen würde. Schon wieder. Wie immer. „Guten Morgen, Lucy.", erwidere sie plötzlich doch noch leise.
Entgeistert sah ich sie an. Grace hatte schon so unglaublich lange nicht mehr gesprochen. Seit 5 Jahren nicht mehr. Exakt heute vor 5 Jahren hatte sie alles verloren. Heute war Tag der Ernte. Heute vor 5 Jahren war ihre große Liebe Zachary gezogen worden und wenige Tage später war er in den Hungerspielen gestorben. Grace hatte das nie verkraften können. Und gerade Tage wie heute machten es ihr besonders schwer.
Plötzlich griff Grace nach meiner Hand. Ihr Blick war voller Angst, fast schon panisch. „Du, Savannah und Ryan. Ihr dürft nicht gehen. Versprich es mir.", flüsterte sie.
Ich antwortete nicht. Ich konnte es nicht. Meine kleinen Geschwister und ich waren in dem Alter, um in die Hungerspiele gezogen zu werden. Als Tribute für Distrikt 11. Und wir würden es nicht verhindern können, wenn es so kam.
Und an den Tränen in Grace' Augen konnte ich sehen, dass sie das auch wusste.

Olivias POV
Mein Blick wanderte über die saftigen Wiesen vor mir. Eine Herde Kühe graste friedlich vor mir. Entspannt lehnte ich mich gegen das Gatter und sah ihnen zu.
„Olivia! Olivia!", hörte ich eine bekannte Stimme nach mir rufen.
Als ich mich umdrehte, erkannte ich meinen Bruder. Er rannte auf mich zu und bevor ich reagieren konnte, fiel er mir schon um den Hals.
Er zitterte.
Überrumpelt erwiderte ich die Umarmung erst ein wenig spät. „David? Was ist los?", fragte ich meinen Bruder, obwohl ich das schon ziemlich genau wusste. Heute war der Tag der Ernte. Und David hatte Angst. Es war sein erstes Jahr.
Schweigend drückte er sich nur noch fester an mich.
Ich sagte nichts. Nichts würde David beruhigen können und das wusste ich.
Weiter weg sah ich Alec stehen. Mein großer Bruder sah alles andere als ruhig und beherrscht aus, wie es sonst so war. Eine steile Falte auf seiner Stirn zeigte, dass er sich Gedanken machte, während er den Schweinen ihr Grünfutter in den Trog schaufelte. Und man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, worüber er sich Sorgen machte.
Es gab eine Chance, dass David und/oder ich als Tribute für Distrikt 10 ausgewählt werden würden.
Und er wusste, dass er machtlos war. Alec war zu alt. Er konnte uns nicht beschützen.

Caras POV
Gedankenverloren saß ich an der Werkbank und beobachtete eine Fliege, die in der Luft herumsauste.
„Reich mir mal bitte den Schraubenschlüssel.", bat plötzlich die tiefe Stimme meines Vaters.
Er lag auf einem Rollbrett unter einem alten Auto und sein Gesicht war bereits kohlrabenschwarz.
Wortlos stand ich auf und ging in die Hocke, um ihm den Schraubenschlüssel zu geben.
„Heute ist die Auswahl, Dad.", fing ich schließlich an.
„Was?", fragte er verwundert. „Was für 'ne Auswahl?"
Ich seufzte leise. „Heute ist Tag der Ernte, Dad."
„Ja und? Du bist bis jetzt jedes Mal zurückgekommen.", entgegnete mein Vater gelangweilt und schraubte weiter an dem Auto herum. „Und wenn du gehst, dann gewinnst du halt."
Krampfhaft versuchte ich nicht zu zeigen, wie sehr mir sein Desinteresse nahe ging.
Er meint es nicht so, Cara. Er sorgt sich um dich, er weiß nur nicht, wie er es zeigen soll. Du bist ihm nicht egal. Er hat viel Stress und Druck. Er meint es nicht so, Cara.
„Ich geh mich fertig machen, Dad. Denk dran, du musst auch auftauchen.", erinnerte ich meinen Vater noch.
„Hmm.", war seine gedämpfte Antwort.
Ich drehte mich um und flüchtete aus der Werkstatt.
Emilia, meine kleine Schwester, erwartete mich schon in meinem Zimmer und half mir, mich fertig zu machen.
Trotz der Jahre, in denen ich schon dabei gewesen war, war ich wie jedes Jahr nervös.
Emilia ergriff meine Hände und sah mich hoffnungsvoll an. „Du wirst nicht gezogen. Und das ist eigentlich schade, du wärst mit Sicherheit ein herausragender Tribut für Distrikt 6. Aber keine Sorge. Du wirst schon nicht gezogen." Hoffentlich.
Denn auch in Emilias Gesicht konnte ich sehen, dass sie verunsichert war. Ich konnte sie nicht allein mit Dad lassen.
Ich musste hier bleiben. Ich durfte auf gar keinen Fall gezogen werden.

Madisons POV
„Madison, hast du schon die Klamotten angezogen, die ich dir rausgelegt habe?", hörte ich die Stimme meiner Mutter vor der Tür und im nächsten Moment kam sie ins Zimmer gerauscht.
Entsetzt sah sie mich an. „Was ist das denn?!"
Ich verdrehte die Augen. „Im Ernst, Mom, ich werde dieses Jahr, 17 Jahre alt. Ich kann mir meine Klamotten selbst aussuchen und ich werde definitiv kein violettes Kleid tragen!", entgegnete ich bestimmt und zeigte auf das Kleid, das meine Mutter herausgesucht hatte.
Beleidigt schnaubte sie. „Schön.", knurrte sie. Doch plötzlich hellte sich ihr Gesicht wieder auf und sie strahlte mich an. „Meine Madison. Du wirst uns mit Sicherheit stolz machen. Meine Tochter, freiwillige Tributin für Distrikt 4!", schwärmte sie. „Und du siehst sowieso immer super aus. Du hast schließlich meine Gene geerbt."
„Wenn dann kommt sie wohl nach mir.", mischte sich plötzlich mein Vater ein, der den Kopf durch die Tür steckte. „Nichts gegen dich, Schatz, du siehst gut aus, aber ich habe das Gesicht eines Gottes!", neckte er sie grinsend.
„Und die Arroganz.", ergänzte meine Mutter augenverdrehend, doch dann lächelte sie ihren Mann sanft an.
Mein Vater kam auf mich zu und legte seine Hände auf meine Schultern. „Mach uns stolz, Kleines. Du bist stark und mutig. Du kannst es schaffen."
Daran zweifelte ich nicht. Das würde lustig werden. Es war ja nur ein Spiel, bei dem ab und zu ein paar Menschen abkratzten. Keine große Sache. Ein Kinderspiel.

Rubys POV
„Kannst du dich noch daran erinnern, Schatz? Heute vor 5 Jahren hat Onyx sich freiwillig gemeldet und die Hungerspiele gewonnen! Hach, was war das für ein Triumph!", hörte ich meine Mutter schon von weitem schwärmen.
Mein großer Bruder Onyx lachte, doch es war ein selbstgefälliges Lachen. „Ein Klacks, Mom. Lauter Idioten und Schisser. Sie zu töten, war zu einfach!", meinte er nur.
„Das ist mein Sohn!", kommentierte mein Vater voller Stolz.
Als ich das Esszimmer betrat, wurde es augenblicklich still. Der Blick meiner Mutter war angewidert, der meines Vaters desinteressiert und der meines Bruders abfällig.
Ich wusste genau warum. Ich war der Versager der Familie. Onyx hatte Ehre und Stolz gebracht und ich war nur das tollpatschige nette Mädchen, das noch nie etwas erreicht hatte. In ihren Augen war ich schwach.
„Ruby.", murmelte meine Mutter knapp, von den anderen Beiden kam nichts.
„Guten Morgen.", flüsterte ich leise und setzte mich zu ihnen.
Das eisige Schweigen, während ich aß, war unerträglich. Meistens sagte Schweigen mehr als Wörter. Wenn man nicht mit dir redete, mochte man dich nicht. Vielleicht hasste man dich sogar. In meinem Fall definitiv.
Ich atmete tief durch und fasste einen Entschluss. „Ich werde mich freiwillig melden.", erklärte ich mit fester Stimme.
Eine Zeit lang war es still, dann brachen meine Eltern in Gelächter aus. „Du? Bei den Hungerspielen? Wenn du sterben willst, nimm doch einfach Tabletten, Kind.", meinte meine Mutter ungläubig und stand mit meinem Vater auf. „Aber versuch es ruhig. Uns ist es egal."
Damit verließen meine Mutter und mein Vater den Raum.
Mein Blick fiel auf Onyx. Er belächelte mich herablassend. „Eine Last weniger, wie schön. Du hast uns eh immer nur Ärger gebracht. Schade nur für Distrikt 2, so eine Schande wie dich in den Hungerspielen zu haben."
Dann ging auch er.
Ich saß da mit hängendem Kopf. Ich hatte gehofft, mein Entschluss würde sie stolz machen. Ich dachte, sie wären endlich zufrieden mit mir. Aber jetzt wurde mir klar, dass sie das nie wären. Weil Onyx immer besser war.
Diesmal nicht!
Entschlossen hob ich den Kopf.
Ich würde ihnen und allen beweisen, dass ich nicht schwach war. Ich konnte kämpfen, ich konnte töten.
Ich würde gewinnen.
Um jeden Preis.

Und so begann die Geschichte von 5 Mädchen. So unterschiedlich und doch ein ähnliches Schicksal. Doch jede von ihnen würde Pech haben. Früher oder später.

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