Kapitel 35


Kapitel 35

"Es ist fast so weit." Helen ist schon den ganzen Tag aufgeregt. Sie hüpft durchs Zimmer, singt und kann keine Minute ruhig sitzen.

Ich hingegen bin merkwürdigerweise ziemlich ruhig. Es ist irgendwie nichts Besonderes. Zwar war ich noch nie auf so einer Party, aber ich weiß ziemlich genau wie es da abläuft und die Leute kenne ich wahrscheinlich auch.

Am Anfang kam mir der Gedanke ob es wohl so eine gute Idee war, denn die Gäste sind hauptsächlich in meinem Alter, aber dann wurde mir klar, dass ich nicht sonderlich bekannt war in der Schule und dass ich mich stark verändert hatte in letzter Zeit.

"Können wir nicht schon jetzt zu Pia gehen?" Helen sieht mich ungeduldig an. Seufzend nicke ich und erfreut läuft sie in Richtung Tür.

Lächelnd folge ich ihr. Es ist irgendwie süß, wie sehr sie sich darauf freut auf eine Party zu dürfen.

"Sind das hübsche Kleider die wir tragen werden?", fragt sie mich.

"Ja, aber sie sind nicht so wie Ballkleider, sondern viel moderner."

Der Weg zu Pia's Atelier ist nicht lang, weshalb wir schon nach kurzer Zeit dort sind. Als wir eintreten, steht Pia vor einer Puppe mit einem Kleid und arbeitet daran.

Es kann keines von unseren sein, denn dafür ist es viel zu lang und pompös. Gerade will ich etwas sagen damit sie uns bemerkt, da dreht sie sich auch schon zu uns um.

"Was macht ihr denn schon so früh hier? Ihr solltet doch erst in einer halben Stunde kommen."

Sie legt ihr Nähzeug zur Seite und kommt zu uns rüber. "Ja, ich weiß aber ich konnte einfach nicht mehr warten", erklärt Helen.

Pia nickt, scheint aber dennoch in Gedanken woanders zu sein. Ich habe die BVermutung, dass sie in den Momenten in denen sie arbeitet vollkommen auf ihre Arbeit konzentriert ist und über nichts Anderes nachdenkt und sie es deshalb auf die wenigen Momente ohne Arbeit verschiebt.

Zielstrebig geht sie in eine Ecke ihres Ateliers und holt zwei Kleider. Ich könnte mich hier nicht zurechtfinden, weil es auf mich wie ein einziges Chaos wirkt, aber Pia scheint ihr System zu haben.

"Hier sind eure Kleider. Das schwarze für dich Keira, so wie du es wolltest, und das dunkelrote für dich Helen."

Wir nehmen unsere Kleider entgegen und ziehen uns dann um. Helen sieht wunderschön aus mit ihrem Kleid.

Es geht ihr bis zur Hälfte des Oberschenkels und ist langärmlig. Ihr Kleid ist komplett mit Spitze verziert und ab dem Dekolleté bis zum Ende des Kleides noch mit einem Unterkleid verstärkt.

Bis zur Taille liegt es eng an, danach fällt es locker. Obwohl sie sich noch nicht geschminkt oder die Haare gemacht hat, sieht sie wunderschön aus.

"Du siehst toll aus", sage ich ihr, als sie sich im Spiegel betrachtet und sich einmal dreht, sodass ihr Kleid hochgeht.

"Danke, aber du siehst auch nicht schlecht aus", erwidert sie und macht Platz vor dem Spiegel, sodass ich mich auch betrachten kann.

Mein Kleid war komplett schwarz und auch sonst ziemlich schlicht. Es war genauso lang wie Helens Kleid, lag aber im Gegensatz zu ihrem komplett eng an. Die Träger waren schulterbreit und der Ausschnitt war wie bei Helens Kleid ziemlich hoch, beim Schlüsselbein.

Aber Helen hatte recht, das Kleid steht mir wirklich. In der Zeit hier bin ich dünner und schmaler geworden, sodass ich kaum Kurven habe.

Das Kleid zaubert mir eine etwas kurvigere Figur, aber ich sehe dennoch sehr dünn aus. Meine Haare und das Kleid stehen im Kontrast zu meiner hellen Haut und lassen sie umso bleicher wirken. Meine Augen stechen als einzige Farbtupfer hervor und dass, obwohl sie nicht einmal geschminkt sind.

Ich bin nicht arrogant oder so, aber ich, wenn ich mich so im Spiegel sehe, finde ich mich wirklich hübsch.

Niemals würde ich behaupten ich sei eine Schönheit wie zum Beispiel Helen, aber dennoch bin ich auch nicht hässlich.

"Ihr seht beide wunderbar aus. Aber kommen wir jetzt zur Schminke. Setzt euch", dirigierte Pia uns auf zwei Stühle und holte einen Make-up Koffer.

Sie beginnt Helen zu Schminken und ich sitze rum und schaue ihr dabei zu. Helens Augen schminkt sie in einem dunklen Braunton, der sehr gut zu ihrem Kleid passt.

Ihre Lippen werden knallig rot und ihre Wangen schminkt Pia mit ein wenig Rouge. Durch das Make-up sieht Helen noch schöner aus.

Als sie sich gerade mir zuwenden will, öffnet sich die Tür. Ich kann nicht sehen wer gekommen ist, aber es sind sicher Louis und Mino.

Pia geht weg, kommt aber nach kurzer Zeit wieder. "Gut, kommen wir nun zu dir, Keira. Schwarz, nicht wahr?"

Lächelnd nicke ich. Sie nickt und macht sich an die Arbeit. Nach einer gefühlten Ewigkeit bin ich dann auch mal fertig und kann das Ergebnis im Spiegel betrachten.

Meine Augen sind mit einem Eyeliner nachgezogen worden und ich trage schwarzgrauen Lidschatten.

Meine Lippen hat sich blassrosa nachgezogen und mit ein wenig Lipgloss zum glitzern gebracht.

Ein wenig Rouge betont meine Wangenknochen und lässt mein Gesicht frischer und lebendiger aussehen.

Ein bisschen Make-up verleiht meinem Gesicht ein wenig mehr Farbe, sodass ich nicht mehr ganz so blass wirke.

Durch die Schminke stechen meine Augen noch mehr raus wie vorher und ich bin zufrieden. Auch Pia scheint sichtlich zufrieden mit ihrem Werk, als sie uns betrachtet.

"Fehlen nur noch die Schuhe und deine Jacke, Keira", meint Pia und verschwindet irgendwo hinter einem Regal.

Als sie zurückkommt, hält sie eine Lederjacke und zwei Paar Schuhe in ihren Händen. Sie überreicht jeweils eines mir und Helen und mir gibt sie noch die Jacke.

"Ich kann dich nicht überzeugen eine andersfarbige anzuziehen oder?", seufzt Pia, als ich die Jacke überstreife.

Kopfschüttelnd lächle ich sie an. Ich mag schwarz, es hat etwas gefährliches und Geheimnisvolles. Außerdem stehe ich nicht so auf bunte Sachen.

Helen trägt keine Jacke, da ihr Kleid sowieso langärmlig ist und man im Juni dann auch ohne Jacke rumlaufen kann.

Dann ziehe ich mir noch die Schuhe an und bin fertig. Ich trage, wie sollte es auh anders sein, schwarze Stiefeletten, während Helen offene High Heels trägt, ebenfalls in schwarz.

"Oh warte, eure Frisuren fehlen ja noch", bemerkt Pia und schlägt sich mit der Hand vorm Kopf.

"Denk dran, nichts Aufwendiges", erinnere ich sie, denn die meisten Leute auf solchen Partys machen ihre Frisuren selbst.

Pia nickt und holt einen Lockenstab. Sowohl Helen als auch ich, haben von Natur aus Locken, aber mithilfe des Lockenstabes lässt Pia sie definierter und auch hübscher aussehen.

"Jetzt seid ihr aber fertig", stellt sie zufrieden fest und mustert uns noch einmal. "Ich würde sagen mit denen können wir uns auf der Party sehen lassen, oder Louis?", höre ich Minos Stimme hinter mir und drehe mich um.

"Auf jeden Fall", stimmt Louis ihm grinsend zu. Die beiden tragen einfache, schlichte Kleidung. Beide eine Jeans mit einem passenden T-Shirt dazu und einem Paar Sneakers sowie eine Jacke.

Das heißt aber nicht, dass sie nicht gut aussehen würden. "Tja, dumm nur, dass wir nicht eure Begleitung sind, sondern lediglich zusammen zur Party gehen. Ohne Begleitung lässt es sich viel einfacher an Geld", zerstöre ich ihre Vorstellung und grinse.

"Dann müssen wir uns wohl da jemanden suchen", meint Mino.

"Wann fahren wir los?", will Helen wissen und schaut zu Pia. Diese zuckt mit den Schultern.

"Keine Ahnung, wann wollt ihr losfahren?" Alle Augen richten sich auf mich, da ich ja die Planung durchgeführt habe.

"Wie spät ist es denn?", frage ich an Pia gewandt. Sie blickt auf ihre Armbanduhr.

"Viertel nach neun." Bevor ich etwas sagen kann, meldet sich Helen bereits zu Wort.

"Viertel nach neun? Die Party hat doch schon um halb neun angefangen. Wir sind zu spät. Wir müssen jetzt los", ruft sie und will schon zum Ausgang, doch ich halte sie auf.

"Niemand der etwas von sich hält kommt zu solchen Partys pünktlich. Außerdem sind die meisten Leute am Anfang noch viel zu nüchtern um ihnen Geld zu stehlen. In einer Viertelstunde fahren wir los, dann sind wir ungefähr kurz vor zehn da, das sollte reichen."

Erleichtert atmet Helen aus. "Ich organisiere euch einen Fahrer", meint Pia. "Brauchst du nicht, ich kann fahren", antwortet Louis, doch ich schüttel den Kopf.

"Alle lassen sich bringen, weil sie dort was trinken und bei uns ist es eh zu gefährlich allein ohne Bedienstete zu fahren. Wir würden auffallen."

Louis nickt und Pia fischt ein Handy aus ihrer Hosentasche und ruft jemanden an. Kurze Zeit später ist sie wieder da.

"Jack wird euch fahren, Nathan hat keine Zeit." Bei der Erwähnung von Jacks Namen muss ich an unser Gespräch denken.

Louis sieht auch nicht gerade begeistert aus, aber sagt nichts. Ich frage mich, was ihn so Jack stört. Immerhin war er immer einer von Jacks Lieblingen.

Aber ich sollte mich nicht darauf konzentrieren, sondern auf unsere Mission. Apropos Mission, mir fällt etwas ein was noch fehlt.

"Pia, hast du zwei Handtaschen für mich und Helen? Da können wir dann das Geld reintun."

Pia nickt und verschwindet. Mit zwei schwarzen Taschen kommt sie zurück. "Sie sind eigentlich für Bälle gedacht, aber sie sollten reichen."

Ich nehme eine entgegen und nicke. Sie wirkt ein bisschen vornehmer und festlicher, aber es sollte keinem auffallen.

Während wir warten, überlege ich ob die Steinchen auf der Tasche echt sind oder nicht. Ich denke nicht, aber sie sehen doch ziemlich echt aus.

Beim Gedanken an die Steinchen fällt mir auf, dass wir gar keinen Schmuck tragen, aber das fällt hoffentlich keinem auf.

Am Ende des Abends laufen sicher mehr Mädchen ohne irgendwelchen Schmuck herum. Bei dem Gedanken muss ich leicht lächeln, doch ich unterdrücke es schnell, da es sicherlich dämlich aussieht, wenn ich einfach beginne zu lächeln ohne jeglichen Zusammenhang, zumindest für die anderen.

Es dauert nicht lang, da ist Jack auch schon da. Bevor wir gehen bekommen wir alle noch eine Waffe. Während Mino und Louis sich die Waffen in den Hosenbund stecken können, gibt Pia Helen ein Band.

Damit befestigt Helen die Waffe an ihrem Oberschenkel. Weil der Rock ihres Kleides weit ist, ist die Waffe dort gut versteckt. Leider kann ich meine Waffe so nicht verstecken, da mein Kleid eng anliegt. Also stecke ich die Waffe in meine Tasche. Das Gewicht der Waffe in der Tasche zu fühlen gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, obwohl mir nicht bewusst war, dass ich mich unsicher gefühlt habe.

Schweigend begeben wir uns zum Auto. Louis setzt sich vorne neben Jack, was mir auch ganz recht ist, da ich wenig Wert darauf lege ein Gespräch mit Jack zu führen.

Gut, wenn Louis nicht vorne sitzen würde, würde das nicht unbedingt heißen, dass ich vorne sitzen müsste, aber trotzdem.

Auch während der Fahrt sagt keiner von uns ein Wort, erst als wir dort ankommen, beginne ich zu reden.

"Denkt dran, nichts von anderen nehmen und auch nicht zu viel trinken." Mir fällt erst jetzt auf wie dämlich das klingt.

"Ja, Mami", lacht Mino und steigt aus. Ich und Helen folgen ihm und Louis ist ebenfalls ausgestiegen.

Schon hier draußen hört man den Bass der Musik. Zum Glück ist es nicht kalt, denn sonst wäre das kurze Kleid unpraktisch.

Überall um uns herum laufen mehr oder weniger betrunkene Teenager, lachen und tanzen. "Auf solche Partys bist du also gegangen?", fragt Mino skeptisch.

"Also eigentlich war ich noch nie auf so einer Party", korrigiere ich ihn und er verdreht die Augen.

"Ach kommt schon, das wird lustig", meint Helen, packt meine Hand und zieht mich zur Tür. Sofort hat sie zwei Shots in der Hand und reicht mir einen.

Wie war das noch mit dem nicht zu viel trinken. "Auf uns", prostet sie mir zu und ich stoße mit ihr an.

Auf meine erste Party, denke ich und trinke den bitter schmeckenden Shot. Im Gegensatz zu der Bowle und dem Champagner schmeckt er widerlich und ich habe nicht das Bedürfnis noch einen zu trinken.

Helen scheint es genauso zu gehen, denn sie verzieht das Gesicht. Bei ihrem Gesichtsausdruck muss ich anfangen zu lachen und sie boxt mir beleidigt gegen die Schulter.

Es dauert nicht mal lange, da kommt schon der erste Kerl auf Helen zu und quatscht sie an. Sie wirft einen Blick zu mir rüber und ich nicke kaum erkennbar.

Sofort packt sie die Hand des Jungen und zieht ihn auf die Tanzfläche. "Unhöflich von deiner Freundin dich hier alleine stehen zu lassen", höre ich eine tiefe Stimme hinter mir.

Unwillkürlich muss ich an Daniel denken, da er etwas Ähnliches zu mir gesagt hat bei unserem ersten Treffen.

Ich schlucke den Gedanken an ihn runter und drehe mich lächelnd um. Vor mir steht ein großer, blonder Junge und lächelt mich an.

"Warum leistest du mir dann nicht einfach Gesellschaft", lächle ich zurück und klimper ein bisschen mit den Wimpern.

Das Verhalten hatte ich schon oft bei Lucy beobachtet und bei ihr hat es immer geholfen. Gut, Lucy war um einiges hübscher als ich, aber ein Versuch war es wert.

"Nichts lieber als das", grinst er und will zu zwei Bechern greifen, die auf einem Tisch stehen. Oh oh, keine gute Idee.

"Wie wärs mit tanzen?", versuche ich die Situation zu retten und nehme seine andere Hand. Ich lasse ihm nicht wirklich eine Wahl, sondern ziehe ihn einfach mit mir.

Allerdings scheint ihn das nicht sonderlich zu stören. Durch den Platzmangel bleibt mir nichts Anderes übrig als sehr nah an ihm zu stehen.

Zwar hilft es mir, eher an sein Geld zu kommen, aber ich fühle mich nicht gerade wohl dabei. Der Typ legt seine Hand an meine Taille und zieht mich noch ein Stück näher zu sich.

Okay, wenn das Ganze nicht zu ernst werden soll, dann muss ich mir jetzt das Portemonnaie holen.

Ganz vorsichtig bewege ich meine Hand hinter ihn, immer darauf bedacht, dass er es nicht merkt.

Mit einer schnellen Bewegung ziehe ich ihm das Portemonnaie aus der Tasche und lasse es unauffällig in meine Clutch gleiten.

Geschafft, denke ich erleichtert und überlege mir einen Fluchtplan. Diese Überlegung nimmt mir Helen aber ab als sie zu uns kommt und fragt, ob wir uns nicht frisch machen wollen.

Ich verstehe sofort und entschuldige mich bei dem Jungen. Dieser sieht nicht gerade froh darüber aus, kann aber auch nichts daran ändern.

Helen zieht mich in Richtung der Toilette und als wir drin waren checken wir, ob wir wirklich allein sind.

"Gut, ich hab eins, was mache ich damit jetzt?", fragt sie und holt ein Portemonnaie aus ihre Tasche.

"Nimm das Geld raus und lasse es unauffällig irgendwo fallen", erkläre ich und mache dasselbe mit meinem.

Danach verlassen wir die Toilette wieder und bei der nächstbesten Gelegenheit lasse ich das Portemonnaie fallen.

"Kannst du ein bisschen Geld für mich aufbewahren?", höre ich eine vertraute Stimme hinter mir.

Erschrocken drehe ich mich um, doch es ist zum Glück nur Louis. Ich hatte damit gerechnet, dass es jemand aus meiner ehemaligen Klasse war.

"Klar", antworte ich und nehme ein Gelbündel an mich. "Du hast recht, ist viel lukrativer hier." Ich nicke nur und lasse das Geld in meiner Tasche verschwinden.

Dann mache ich mich auf die Suche nach dem nächsten Typen, achte aber auch immer darauf, dass der andere mich nicht wiederfindet.

Doch dann sehe ich ihn mit einer anderen rummachen und die Sache hat sich erledigt. Dennoch fühle ich mich ein wenig in meinem Selbstbewusstsein gekränkt, da ich so schnell ersetzt wurde.

Aber egal, dass macht es mir nur leichter. Mein Blick gleitet suchend über die Menge als ich einen mir sehr bekannten roten Haarschopf sehe.

Als sich diese Person auch noch umdreht, rutscht mir das Herz in die Hose. Scheiße, Lucy ist hier.

Sie steht dort mit einigen anderen Mädchen, die ich nicht kenne. Verdammt, wenn sie mich sieht bin ich am Arsch. Ich muss sofort hier weg.

Ich suche in der Menge nach Helen, Mino und Louis und diesmal ist das Glück mit mir, denn sie stehen zufällig alle relativ nah beieinander.

Ich laufe zu ihnen rüber. "Ich muss hier weg, meine Freundin ist hier und sie erkennt mich auf jeden Fall, wenn sie mich sieht. Ihr könnt ruhig noch hierbleiben, ich warte dann draußen auf euch."

Louis schüttelt den Kopf. "Ich geh mit dir. Du solltest nicht allein draußen rumlaufen, denn so siehst du aus, wie jemand, von der Oberschicht und allein wärst du ein leichtes Opfer für die Menschen in der Stadt, auch wenn du bewaffnet bist."

Ich will protestieren, aber seine Argumente sind absolut logisch und so fällt mir nichts ein was ich sagen könnte.

Helen und Mino nicken und wir verschwinden durch den Ausgang. "Du hättest nicht mitgehen müssen", sage ich zu Louis und gebe ihm die Chance umzudrehen und wieder reinzugehen.

"Doch", antwortet er kurz, aber dennoch so, dass es keine Widerrede erlaubt. Mittlerweile ist es etwas kühler und ich beginne leicht zu frösteln. Eine leichte Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und Beinen.

Ohne etwas zu sagen, gibt Louis mir seine Jacke. Ich will schon wieder protestieren, halte es dann aber doch für besser, es einfach sein zu lassen.

"Danke", sage ich stattdessen einfach und ziehe seine Jacke an. "Manche Dinge verlernt man eben nicht", meint er und grinst.

Ich weiß worauf er anspielt, auf das Leben der Oberschicht, dass man sich als Mann wie ein Gentleman zu verhalten hat.

Ich muss auch lächeln. Schweigend laufen wir weiter durch die Straßen Londons. Aber es ist keine unangenehme Stille, sie ist mir sogar ganz Recht, also laufen wir einfach so weiter.

"Wohin gehen wir?", frage ich nach einer Weile, weil ich die Musik nicht mehr hören kann und keine Ahnung hab wo wir sind.

"Ich will dir etwas zeigen", meint er, sagt aber nichts weiter. Ich nehme das einfach so hin und vertraue darauf, dass er sich hier besser auskennt als ich.

Kurz nachdem der Virus ausbrach, wurden viele Städte umgebaut, auch London. Der Kern der Stadt gleicht mittlerweile einem Hochsicherheitsgefängnis, aber nicht um jemanden drin zu halten, sondern um die anderen raus zu halten.

Jedes Gebäude ist mit meterhohen, topgesicherten Zäunen umringt und durch Alarmanlagen gesichert.

Die Straßen dort sind super gepflegt und alles ist sauber und schön, aber, wenn man dann an den Stadtrand kommt, zeigt London sein wahres Gesicht.

Die Gebäude dort sind von Verfall geprägt und sehen schäbig aus. Die Straßen sind überhäuft von Müll und Dreck, überall gibt es Ungeziefer und sterbende Menschen.

Die Welt hinter den Zäunen der Oberschicht ist grausam, aber diejenigen, die innerhalb des Zauns wohnen interessiert es nicht, denn ihnen geht es ja gut.

Mittlerweile sind wir schon eine ganze Zeit lang unterwegs und ich frage mich wie lange wir noch laufen, denn meine Füße tun langsam weh.

Auch wenn ich gerne auf Schuhen mit Absatz laufe, weil ich größer wirke, hasse ich es, dass meine Füße davon immer weh tun.

Doch dann bleibt Louis stehen und ich kann erleichtert ausatmen. Wir stehen vor dem hohen Schutzzaun einer großen Villa.

"Das war mal mein zuhause", erklärt er mir und schaut abwesend auf das Gebäude. Ich mustere es noch einmal.

"Es ist schön", sage ich, weil ich nicht weiß, was ich anderes sagen könnte.

"Wahrscheinlich. Für mich ist es aber eher ein Gefängnis", meint er. Ich kann nachvollziehen wieso, ich hatte ja gerade selber noch den Kern der Stadt mit einem Gefängnis verglichen.

"Jeden Tag hat mein Vater mir vorgehalten was für ein Versager ich doch bin, dass ich irgendwann sein ganzes Geld verlieren würde. Er hätte gerne einen besseren Sohn gehabt als mich, einen der so funktionierte wie er wollte, der mit großen Interesse den Börsenverlauf verfolgt. Nach dem Tod meiner Mutter wurde er noch schlimmer. Einmal hat er mir sogar Schläge angedroht, aber dazu ist es nie gekommen."

Es ist das erste Mal, dass Louis über seine Familie geredet hat, über seine Mutter. Ich wusste nicht, dass sie gestorben ist und genauso wenig weiß ich was ich jetzt sagen soll.

'Tut mir leid' kommt mir nicht richtig vor. Es hört sich so unpersönlich an, als ob mich seine Geschichte nicht interessiert. Dabei weiß ich genau, wie er sich gefühlt hat, mir erging es genauso, nur, dass mein Vater noch lebt und mich immer beschützt hat.

"Du hattest Recht, dein Vater ist ein Arsch. Er hätte sich keinen besseren Sohn wünschen können und wenn er nicht versteht, was er an dir hatte, dann hat er gar nicht verdient dein Vater zu sein. Du bist sicherlich kein Versager, denn du hast mehr erreicht als er jemals erreichen wird. Denn du kämpfst für deine Überzeugungen, egal ob es den anderen passt oder nicht. Und glaub mir, wenn dein Vater auch nur ein wenig Grips hätte, wäre er stolz auf dich."

Ich bin ziemlich stolz auf meine Rede, da sie ja spontan war. Louis lächelt mich an.

"Du bist süß, wenn du dich so aufregst", meint er. Na toll, dann halte ich eine, meiner Meinung nach ziemlich beeindruckende, Rede und er meint, ich bin süß, wenn ich mich aufrege.

Beleidigt verziehe ich mein Gesicht und boxe gegen seine Schulter. Er lacht nur und nimmt mich in den Arm.

"Danke, Keira." Die Tatsache, dass ich beleidigt war ist sofort wieder vergessen und ich lehne meinen Kopf gegen seine Brust.

Die Umarmung dauert nur Sekunden, doch mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Ohne Absprache, machen wir uns auf den Rückweg.

Ich ziehe seine Jacke enger um meinen Körper um mich zu wärmen. Irgendwie fühle ich mich schlecht, weil Louis nur ein T-Shirt trägt und sicher friert.

"Willst du deine Jacke wiederhaben?", frage ich deshalb. Er schüttelt mit dem Kopf. "Ich glaub du hast sie nötiger als ich."

Ich nicke nur und denke über das nach, was Louis mir über seine Familie erzählt hat. Es ist sicherlich nicht einfach gewesen für ihn als Kind.

Ein wenig mitleidig sehe ich ihn an, doch in genau dem Moment guckt er zu mir rüber und ich wende meinen Blick schnell ab, aber ich bezweifle, dass er es nicht gesehen hat.

"Jetzt hast du Mitleid mit mir oder?" Es klang mehr wie ein Vorwurf als eine Frage, also antworte ich: "Nein." Das war natürlich eine Lüge, aber ich wollte auch nicht Ja sagen.

"Du lügst, ich habe dir grad von meiner beschissenen Kindheit erzählt und du bist nicht kalt genug um kein Mitleid zu haben", lacht er und ich fühle mich ertappt.

"Das ist gemein, wie soll man auch kein Mitleid haben", verteidige ich mich.

"Indem man es positiv sieht. Ich bin meinem Vater mittlerweile sehr dankbar, dass er so ein Arsch ist, denn sonst wäre ich nie zu den Rebellen gegangen und hätte mein Leben genauso wie die anderen Snobs verbracht."

Darüber muss ich nachdenken. Es war schon irgendwie eine verdrehte Logik, aber er hatte auch recht.

Ich frage mich, wie mein Leben gelaufen wäre, wenn meine Mutter anders gewesen wäre. Vielleicht wäre ich dann gerne auf Bälle gegangen und wäre auf meinem ersten nicht vollkommen betrunken gewesen.

Ich wäre sicherlich nicht entführt worden, weil ich die Klappe gehalten hätte. Als ich so darüber nachdenke, stellt sich mir eine Frage.

Wären Louis und ich uns begegnet, wären unsere Elternteile fürsorglicher gewesen? Ich glaube, mein Vater hatte sogar mal Geschäfte mit seinem Vater.

"Lass mich raten, du denkst darüber nach, ob wir uns begegnet wären, wenn wir beide zuhause geblieben wären, nicht wahr?"

Mistkerl, kann er meine Gedanken lesen oder was? Trotzdem nicke ich und er grinst. "Darüber habe ich auch nachgedacht."

Das überrascht mich, weil ich dachte, dass es ihn sicher nicht interessiert. Mittlerweile sind wir wieder bei der Party angekommen und setzen uns auf die Bordsteinkante.

"Und?", frage ich. "Ich glaube schon. Mein Vater war immer der Meinung ich solle mir ein Mädchen suchen, dessen Vater einen sehr hohen Rang hat und du wärst definitiv unter diese Kategorie gefallen."

Ich merke wie ich leicht rot werde, aber die Dunkelheit kaschiert es. "Dann hättest du dich mit Daniel duellieren müssen, sein Vater ist nämlich auf die gleiche Idee gekommen", lache ich.

Und zum ersten Mal seitdem die Sache mit Daniel rausgekommen ist, tut es nicht weh darüber zu reden, sondern ich kann sogar darüber lachen.

"Du hättest dich sicher für mich entschieden", meint er überzeugt und lächelt gespielt arrogant.

"Was macht dich da so sicher?", frage ich und lache.

"Ich bin heiß."

"Daniel sieht auch gut aus", erwidere ich.

Louis grinst. "Du hast auch gesagt."

"Was?", verwirrt schaue ich ihn an.

"Du hast auch gesagt. Das heißt ich sehe deiner Meinung nach gut aus", grinst er und ich verfluche mich dafür.

"Hab ich das jemals geleugnet?", versuche ich lässig rüber zu kommen.

"Um genau zu sein, ja. Kurz nach deiner Entführung, als du mit deinem Vater reden solltest." Warum weiß er sowas noch? Aber jetzt wo er es sagt erinnere ich mich auch.

"Da warst du auch noch ein arrogantes Arschloch", grinse ich ihn an.

"Und das bin ich jetzt nicht mehr?" Fragend zieht er eine Augenbraue hoch.

"Nein, jetzt bist du nur noch arrogant", lache ich.

"Du bist noch genauso stur und schlagfertig wie damals", grinst er mich an und schüttelt den Kopf.

"Das nehme ich mal als Kompliment", antworte ich ein wenig beleidigt.

"So war es auch gemeint." Jetzt ist sein Lächeln nicht mehr spöttisch, sondern irgendwie sanft.

Ich lächle zurück und sehe ihm in die Augen. Er hatte wirklich schöne Augen. Wir sind während des Gesprächs immer näher aneinandergerückt und sitzen jetzt direkt nebeneinander gerückt, unsere Gesicht nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

"Und? Für wen hättest du dich jetzt entschieden?" Seine Stimme ist leise und dennoch kann ich seine Worte hören.

"Natürlich für dich", lächle ich ihn an und schon küsst er mich. Es ist sogar noch besser als beim letzten Mal.

Ich spüre ein Kribbeln in meinem Bauch und wünsche mir, dass dieser Moment nie vorübergeht.

So langsam wird mein Atem knapp, aber ich will dennoch nicht aufhören. Allerdings scheint Louis dasselbe Problem zu haben, denn er beendet den Kuss.

Er öffnet den Mund um etwas zu sagen, doch dann kann man Helens Stimme hören und er schließt ihn wieder.

Sofort steht er auf und hilft mir hoch. Ich bin immer noch überwältigt und ein wenig durcheinander, also sage ich gar nichts, sondern folge den anderen einfach zum Auto.

Während der ganze Fahrt muss ich darüber nachdenken was Louis wohl sagen wollte. Er sitzt wieder vorne.

Ich beobachte ihn und stelle fest, dass er lächelt. Trotzdem lassen sich daraus keine Schlüsse ziehen, was er sagen wollte.

Selbst als ich im Bett liege, denke ich darüber nach. Aber nach einer Weile übermannt mich der Schlaf und mit einem Lächeln auf den Lippen sinke ich ins Land der Träume.



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