Kapitel 29

Kapitel 29 – Ein Opfer

Mit einem eigentlich zu lauten Schreien erwacht Narie aus ihrem Albtraum und fährt hoch. Hektisch sieht sie sich um und bemerkt dann den Arm, der immer noch um ihre Hüfte geschlungen ist. Sie braucht einen Moment, um zu realisieren, dass es Finnick ist. Als sie es allerdings bemerkt, atmet sie erleichtert aus.

»Wieder ein Albtraum?«, fragt er sie sanft und streicht ihr eine Strähne, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, aus dem Gesicht. Narie weiß nicht, weshalb Finnick die ganze Zeit so sanft zu ihr ist und ihren normalen Umgang miteinander nicht versteckt, doch es gefällt ihr.

»Ja. In den letzten Wochen hatte ich wieder häufiger Albträume.«, meint sie und setzt sich auf. So bequem es auch war, so an Finnick gelehnt zu sein, solange sie vollständig wach war, musste sie nicht das gebrechliche, ängstliche Mädchen spielen.

»Du hast sehr oft Albträume, oder? Auch als ich bei dir war, meine ich.«, stellt er fest und Narie weicht seinem Blick aus.

»Das hast du bemerkt?«, fragt sie und hofft inständig noch, dass die Antwort nein ist. Sie ist sich bewusst, dass er es mitbekommen hatte, dass sie nachts schreiend aus Albträumen aufgewacht ist. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass er es mitbekommen hatte, dass ihre Albträume auch nicht verschwunden sind, wenn er neben ihr geschlafen hatte.

In den drei Wochen, in denen Finnick bei Narie und ihren Eltern war, sind sie irgendwann dazu übergegangen, dass sie gemeinsam in einem Bett schlafen. Nachdem Narie drei Nächte am Stück schreiend aufgewacht ist und diese drei Nächte jedes Mal durch einen Schrei von Finnick ein zweites Mal geweckt wurde, hatte sie Finnick gebeten, bei ihr zu bleiben. Die ersten Tage lagen beide mit einem großen Abstand nebeneinander und hatten gehofft, dass das Wissen, dass der andere da ist, ihnen bei ihren Albträumen hilft. Ab der Mitte der zweiten Woche, hatte sich das noch geändert. Narie war in Finnicks Armen eingeschlafen, nachdem er sie getröstet hatte. Ab diesem Zeitpunkt war etwas zwischen den beiden anders und sie schliefen jede Nacht Arm in Arm im gleichen Bett. Dies gab beiden etwas Halt und die Träume, die sie jede Nacht heimsuchten, wurden schwächer, unklarer, verschwommener. Doch sie sind nie vollkommen verschwunden und Narie weiß, dass das wahrscheinlich auch niemals komplett der Fall sein wird.

»Du hast einen sehr unruhigen Schlaf gehabt.«, erläutert er die Tatsache, an der er ihr Verhalten bemerkt hat und Narie nickt wissend.

»Ich hatte zwischendurch Phasen, da wurden meine Albträume besser... aber ich denke, dass sie nie komplett verschwinden werden.«, gibt sie zu und bindet ihre Haare erneut hoch.

»Glaub mir, die Albträume werden nach einiger Zeit weniger.«, meint er und sieht nachdenklich in die Ferne.

»Deine Spiele sind jetzt genau zehn Jahre her, oder?«, fragt Narie ihn sanft und er wendet den Blick langsam zu ihr.

»Ja, damals war ich 14...«, murmelt er und lächelt leicht.

»Vor zehn Jahren an genau diesem Tag, habe ich mich vor den Karrieros versteckt und nur gebetet, dass sich die anderen alle gegenseitig umbringen, bevor ich selbst aktiv werden muss.«, lacht er leise. Narie sieht ihn von der Seite aus an und sieht, dass sich seine Lippen zu einem leichten Lächeln verziehen.

»Scheint ja nicht besonders geklappt zu haben, oder?«, kommentiert sie nur. Finnick lacht leise.

»Nein, nicht wirklich... erinnerst du dich an meine Spiele?«, fragt er interessiert und Narie nickt. Innerlich läuft sie rot an und hofft, dass Finnick keine weiteren Fragen stellt. Doch sie wird sofort eines besseren belehrt, immerhin redet sie von Finnick Odair höchstpersönlich.

»Du warst damals acht, oder?«, möchte er wissen.

»Ja, war ich.«, nickt sie.

»Du erinnerst dich trotzdem noch?«, erstaunt sieht er sie an. Narie weicht seinem Blick aus und sofort realisiert er, dass sie seine Spiele noch ein zweites Mal geschaut haben muss.

»Nicht dein Ernst! Wann?« Finnicks Stimme klingt gespielt geschockt und Narie schlägt ihm leicht auf den Arm.

»Als wir in Distrikt 10 waren.«, gibt sie dann allerdings kleinlaut zu und Finnick verkneift sich ein leichtes Grinsen. Gerade, als Finnick zu einer spöttischen Bemerkung ansetzen möchte, ertönt ein leises Knurren neben den beiden. Sofort greifen beide nach ihren Waffen und sehen sich aufmerksam um. Das Gespräch von eben ist völlig vergessen und die Aufmerksamkeit der beiden liegt auf ihrer Umgebung. Sämtliche Zuschauer werden merken, dass die beiden gerade in komplett andere Rollen geschlüpft sind. Während sie eben noch die beiden Freunde waren, die über etwas geredet haben, sind sie nun die eiskalten Tribute, die einfach nur überleben wollen.

Gerade, als Narie Marvel und Mags warnen will, springt etwas zwischen den Bäumen hervor und reißt Finnick zu Boden. Blitzschnell schießt Narie dem Etwas einen Pfeil durch den Schädel.

»Wacht auf! Rennt!«, brüllt sie dann und sofort schrecken Marvel und Mags aus ihrem Schlaf auf. Finnick ist sofort neben Mags und nimmt sie Huckepack, Marvel und Narie rennen zeitgleich los.

Hinter ihnen ertönt weiterhin ein lautes und vor allem beständiges Knurren und die Gruppe weiß, dass sie sich beeilen müssen. Narie ignoriert die Äste, die ihr das Gesicht aufschneiden, denn sie konzentriert sich nur darauf, auf dem feuchten Boden nicht auszurutschen.

Sie weiß nicht, wo Marvel und Finnick, der Mags auf dem Rücken trägt, sind, denn sie rennt um ihr Leben, ohne auf etwas anderes zu achten. Neben ihr ertönt ein Keuchen und sie sieht Finnick, wie er langsam wieder näher kommt.

In der Ferne sieht Narie eine Klippe, doch die Gruppe der Tribute rennt weiter. Etwas anderes bleibt ihnen von hier aus auch nicht übrig.

Narie hört erneut ein Knurren und in diesem Moment sieht sie aus dem Augenwinkel, wie die Kreaturen zum Sprung ansetzen.

»Runter!«, warnt sie die anderen und schmeißt sich noch rechtzeitig auf den Boden, um nicht direkt gebissen zu werden. Die Kreatur springt über sie und reißt sie mit den Hinterpfoten mit. Narie stößt einen Schrei aus und stürzt über die Klippe. Sie sieht, dass Mags ebenfalls mitgerissen wird.

Mit aller Kraft krallt Narie sich an das erste, das sie greifen kann. In diesem Fall ist es ein Ast, der nicht so aussieht, als ob er lange durchhalten könnte.

»Mags, halt dich fest!«, warnt sie die Frau, die sich an ihre Beine geklammert hat. Narie strengt sich besonders an und traut sich gar nicht, einen Blick nach unten zu werfen, wo die Kreaturen warten und mit hungrigen Mäulern nach oben gucken, als würden sie nur darauf warten, dass einer der beiden herunterstürzt.

»Narie! Mags! Haltet euch fest!«, ruft Marvel aus einiger Entfernung.

»Was glaubst du denn, was ich gerade mache?!«, ruft Narie nur genervt zurück. Plötzlich ertönt ein leiser Schrei von Mags und Naries Kopf schießt nach unten, während sie sich immer stärker an den Baumstamm krallt.

Eines der Monster hat sich soweit nach oben gereckt, dass es an Mags Fuß herankommt und sich in ihren Schuh gebissen hat. Mit aller Kraft krallt sich Narie an den rutschigen Baumstamm.

»Lass nicht los, Mags!«, warnt sie die Frau, die an ihr hängt. Narie wirft einen panischen Blick nach oben und sieht, dass Finnick und Marvel beinahe bei ihr angekommen sind. Sie muss nur noch ein bisschen durchhalten! Gerade, als sie dies denkt, geht ein weiterer Ruck durch Mags und sie, sodass Narie beinahe den Halt verliert. Sofort korrigiert sie ihre Haltung und kann sich ein Keuchen nicht verkneifen, als erneut gezogen wird.

»Mags, halt durch!«, ruft sie der Frau zu, als sie spürt, dass Mags ein Stückchen nach unten gezogen wird.

»Mags, bitte! Wir haben es gleich geschafft. Nur noch ein bisschen durchhalten!« Narie sieht nach unten und trifft auf Mags Blick. Sie sieht die jüngere Tributin mit einem entschuldigenden Lächeln an, als ein weiterer Ruck durch die beiden geht. Narie kann anhand dieses Blickes sehen, was in Mags Kopf hervorgeht und sieht die Frau warnend an.

»Mags!«, meint sie in einer warnenden und langgezogenen Tonlage.

»Es tut mir leid!«, formt Mags mit dem Mund und obwohl kein Ton aus ihrer Kehle kommt, hat Narie ihre Botschaft verstanden. In diesem Moment löst sich der Griff um Naries Beine und Mags stürzt in die Tiefe.

»NEIN!« Narie braucht einen Moment um zu realisieren, dass dieser markerschütternde Schrei von ihr selbst kommt. Sie sieht Mags, wie sie die bestimmt 3 Meter in die Tiefe stürzt und direkt auf den Mäulern der Kreaturen landet. Ruckartig sieht Narie nach oben, denn sie kann es nicht ertragen, zu sehen wie Mags bei lebendigem Leibe zerfleischt wird. Mit Tränen in den Augen sieht sie nach oben und begegnet Finnicks Blick. Weitere Sekunden vergehen, in denen nur das Knurren der Kreaturen zu hören ist, bis die Kanone ertönt. In dem Moment, in dem der Knall durch die Arena geht, ist Narie beinahe froh. Denn das bedeutet, dass sich die Frau nicht noch weiter quälen muss.

Finnick ist der erste, der bei Narie ankommt und greift sofort nach ihren Armen. Der Horror ist auch deutlich in seinem Gesicht zu sehen, doch er scheint seine Emotionen besser verstecken zu können, als Narie. Eilig zieht er sie hoch und Narie wirft einen weiteren geschockten Blick in die Richtung, in die Mags sich eben fallen lassen hat.

Eilig zieht Finnick sie hoch und zieht sie schnell von der Klippe weg. Marvel währenddessen hält Wache, da alle damit rechnen, dass gleich noch weitere Kreaturen auftauchen könnten. Geschockt sieht Narie in Finnicks meergrüne Augen und bemerkt gar nicht, wie sie zittert. Erst als Finnick seine Arme um sie schlingt, wird ihr dies bewusst.

»Es tut mir so leid.«, schluchzt Narie und weiß nicht, woher ihr plötzlicher Ausbruch kommt. Es war ihr egal die Karrieros sterben zu sehen, sie wollte es sogar. Und obwohl Mags um einiges älter war und ihr Leben gelebt hatte, tat es ihr viel mehr leid, dass die Frau gestorben ist.

»Es ist nicht deine Schuld.«, wispert Finnick zurück und Narie spürt eine Träne auf ihre Wange tropfen. Doch es ist nicht ihre eigene.

»Sie hat sich für mich geopfert... weil sie gespürt hat, dass ich uns beide nicht halten kann.«, meint Narie und augenblicklich versteht Finnick, weshalb sie sich die Schuld an der ganzen Sache gibt. Doch er sieht das nicht so.

»Es ist ihre Entscheidung gewesen, Narie.«, Finnick sieht sie sanft, aber dennoch eindringlich an und Narie kann ihren Blick nicht von ihm abwenden.

»Leute, wir müssen hier weg!«, mischt sich Marvel in das Gespräch ein und Narie sieht fragend zu ihm.

»Was ist los?«, fragt auch Finnick.

»Diese Affen da sehen nicht so aus, als würden sie uns wieder zurück in den Dschungel gehen lassen.«, Marvel deutet auf bestimmt ein dutzend Affen, die sich genau dort versammelt haben, wo die Gruppe eben noch her kam.

»Unser einziger Weg ist also zum Strand?«, stellt Finnick fragend fest. Marvel nickt.

»Naschön. Besser der Strand, als die Affen. Lasst uns gehen.«

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