Kapitel 28
Kapitel 28 – Von Ruhe und Vertrauen
Narie sitzt mit dem Rücken an einen Baum gelehnt und sieht mit halb geöffneten Augen zu der Gruppe vor sich. Das, was ihr momentan wahrscheinlich am meisten zu schaffen macht, sind die ungewohnten Wetterverhältnisse. Sie hatte noch nie in einer Umgebung aushalten müssen, in der die Luftfeuchtigkeit so hoch war. Zudem ist es unglaublich heiß und Narie spürt, dass die Feuchtigkeit in ihr drinnen immer weniger wird. Sie hat das Bedürfnis sich den Anzug vom Leib zu reißen, um das ekelhafte Gefühl in ihr drinnen zu verdrängen, das sie verspürt. Sie war niemals jemand, der klaustrophobisch reagiert, doch diese Enge, das Gefühl des Anzuges, wie er an ihrer Haut klebt, macht ihr gerade mehr zu schaffen, als sie es sich vorstellen konnte.
»Gehts dir gut?«, Marvel lässt sich neben sie fallen und sieht sie besorgt an. Narie wendet den Blick von ihrem Bogen ab, den sie eben gedankenverloren angestarrt hatte und sieht ihn an. Die Haare hängen ihm nass ins Gesicht und obwohl die beiden in dieser blöden Situation sind, realisiert Narie in diesem Moment, dass Marvel um einiges attraktiver aussieht, als in seinen ersten Spielen. Seine Haare sind ein ganzes Stück länger und verleihen ihm dadurch etwas jüngeres und vor allem lassen sie ihn unschuldiger aussehen.
»Ging mir schon mal besser. Ging mir aber auch schon schlechter.«, gibt sie ehrlich zurück und öffnet ihren Zopf, den ihr Sunny geflochten hatte, da er sich halb aufgelöst hatte und ihr die Haare im Gesicht kleben. Schnell bindet sie sich die Haare in einen lockeren Dutt, damit sie so wenig Kontakt mit ihrer Stirn haben, wie nur irgendwie möglich.
»Du siehst nicht aus, als würde es dir gut gehen.«, kommentiert Marvel ihr Aussehen ehrlich. Spöttisch schnaubt Narie.
»Nun, ich bin jetzt gerade auch nicht Optimismus und Freude in Person.«, spottet sie und erhebt sich.
»Bist du wieder zu Kräften gekommen, Finnick?«, wendet sie sich an den Tribut aus Distrikt 4 und als er seinen Blick hebt, treffen seine Augen direkt in ihre.
»Ja. Wir sollten weiter gehen.«, stimmt er ihr zu und hält seinen Blick einen Moment länger mit ihr, als es eigentlich nötig wäre, dann steht er auf und hebt Mags sanft wieder auf seinen Rücken.
»Marvel, du gehst vor!« Es war irgendwie ohne Absprache dazu gekommen, dass Finnick der Anführer der Gruppe ist und alle anderen akzeptieren das. Narie ist sich sicher, dass Finnick am meisten Ahnung hat, was er hier tut. Nicht nur, dass er ein atemberaubender Kämpfer ist, aber er scheint auch immer den Überblick über die jeweilige Situation zu haben. Seine jahrelangen Tätigkeiten als Mentor mögen diese Gabe nur noch verstärkt haben, sodass Narie weiß, dass sie selbst keinerlei Chance hätte.
In der Zeit, in der sie Finnick nun schon kennt, hatte sie festgestellt, dass er ein wahnsinnig intelligenter Mensch war, der dies immer gerne mit sarkastischen Sprüchen zu verstecken versuchte.
Weitere drei Stunden später wird es langsam dunkel und die Gruppe beschließt, dass sie sich einen Platz zum Schlafen suchen sollten. Gerade, als Narie den Vorschlag machen wollte, dass sie sich einen Platz suchen, an dem sie zumindest nicht von hinten angegriffen werden können, wirft Marvel den nächsten Ast, der dieses Mal nicht, wie die anderen einfach so auf den Boden fällt. Es blitzt kurz vor ihnen und der Ast liegt verkohlt vor ihnen.
»Ich glaube wir haben das Kraftfeld gefunden.«, kommentiert Finnick das Offensichtliche und setzt Mags ab. Er schnappt sich ebenfalls einen Ast und wirft ihn, sodass er gemeinsam mit Marvel nachschauen kann, wie das Kraftfeld verläuft. Narie beobachtet die Umgebung aufmerksam, als Marvel und Finnick darauf konzentriert sind, den Verlauf des Kraftfeldes herauszufinden. Sie weiß, dass das Geräusch, wenn einer der Äste auf das Kraftfeld trifft, nicht gerade leise ist und sie momentan ein leichtes Ziel abgeben.
»Okay, ich glaube hier sind wir so weit relativ sicher.«, kommentiert Finnick nach einiger Zeit und hilft Mags sich an einen Baum zu lehnen.
»Ich schaue mir das ganze mal von oben an!«, teilt Narie den anderen mit und ehe jemand antworten kann, klettert sie nach oben auf einen Baum. Innerlich freut sie sich, dass es erstaunlich einfach ist diesen Baum zu erklimmen und kommt schnell oben an. Sie will sich ein Bild von der gesamten Arena machen und vor allem wissen, wie weit sie vom Strand und vom Füllhorn entfernt sind.
Narie streckt ihren Kopf durch die Baumkrone durch und dreht sich vorsichtig, bis sie das Füllhorn erblicken kann. Es befindet sich ein ganzes Stückchen weg von ihnen und Narie entdeckt das erste Mal, dass es einen perfekten Kreis formt.
Aus Neugierde zieht sie einen Pfeil aus dem Köcher und schießt ihn in den Himmel. Als er auf das Kraftfeld trifft, löst sich der künstliche Himmel kurz auf und Narie kann den Verlauf des Kraftfeldes sehen. Mit der neu gefassten Erkenntnis klettert sie langsam wieder nach unten und trifft sofort auf die neugierigen Blicke von Finnick, Mags und Marvel.
»Das Kraftfeld ist 'ne Kuppel. Wir sind eine ganze Ecke weg vom Füllhorn, was ich persönlich ja gut finde.«, erzählt sie den anderen.
»Das stimmt. Das heißt wir sind wirklich am Ende der Arena?«, vergewissert sich Marvel noch mal und will eigentlich nur die Bestätigung dessen hören, was sie schon wissen.
»Ja, sind wir.«, bestätigt sie.
»Das heißt wir haben eine gute Stelle gefunden, um die Nacht zu überbrücken. Von hinten können wir schon mal nicht angegriffen werden.«, stellt Finnick fest.
»Ja, das stimmt. Aber wir haben nirgends Süßwasser gesehen und wenn wir nichts zu trinken finden, dann haben wir ein ordentliches Problem.«, wirft Narie in den Raum und dämpft damit die Freude, die in den Köpfen der anderen soeben entstanden ist.
»Wir können aber auch nicht weiter laufen, wir brauchen eine Pause.«, argumentiert Finnick. Narie seufzt.
»Ich weiß. Wir brauchen beides. Eine Pause und Trinkwasser. Ohne eine Pause können wir nicht weiter suchen, aber wir müssen trotzdem etwas trinken, da uns die Pause sonst nicht so viel bringt, da wir dehydriert sind.« Narie und Finnick brauchen nur einen Blick, um zu verstehen, dass der jeweils andere genau so ratlos ist, wie sie selbst. Keiner von beiden weiß, wie er sich in dieser Situation verhalten soll.
Diese Entscheidung wird ihnen allerdings abgenommen, als das vertraute Geräusch eines herannahenden Fallschirms zu hören ist. Alle Tribute wechseln einen Blick und sehen sich dann nach dem Fallschirm um. Mags ist die erste, die ihn entdeckt und deutet mit dem Finger in die Richtung, aus der das Sponsorengeschenk heranfliegt. Marvel, der der Größte aus der Gruppe ist, fängt den Fallschirm in der Luft auf und dreht sich mit ihm zu den anderen.
Gespannt sehen ihn alle an, als er ihn öffnet. Das erste, das ihnen auffällt, ist der weiße Zettel, der dort liegt.
»Trinkt aus.«, liest Marvel vor. Als nächstes holt er ein silbernes Stück Metall aus der Dose, die am Fallschirm befestigt war.
»Was ist das?«, fragt Marvel verwirrt und Narie nimmt ihm das Teil aus der Hand. Aufmerksam sieht sie es sich genau an. Es sieht ein wenig so aus wie der Buchstabe Y und Narie hätte beinahe erfreut aufgejubelt, als sie realisiert, was sie dort in den Händen hält.
»Das ist ein Zapfen!«, teilt sie den anderen dann mit und geht auf den nächstgelegenen Baum zu.
»Ein was?«, fragt Finnick verwirrt.
»Ein Zapfen! Blight, Johanna und ich hatten früher immer einen dabei, wenn wir im Wald waren, um etwas trinken zu können.«, erklärt sie und klopft den Zapfen mit einem großen Stein in den Baum. Gespannt sieht sie auf den Zapfen und befürchtet schon das schlimmste. Nichts tut sich und Narie geht fast schon davon aus, dass sie gerade das nutzloseste Sponsorengeschenk aller Zeiten erhalten hat (da die Bäume wahrscheinlich nicht mal so viel Wasser enthalten, als dass man es herausbekommen würde), als ein dünner Strahl Wasser aus dem Zapfen fließt.
»Es funktioniert!«, teilt sie den anderen erfreut mit und schiebt sich selbst sofort so unter den Zapfen, dass das Wasser geradewegs in ihren Mund läuft.
»Leute, kommt her und trinkt!«, fügt sie dann noch hinzu und gibt den Platz vor dem Zapfen frei. Marvel schiebt sich darunter und trinkt einen großen Schluck. Narie weicht einen Schritt zur Seite, als sie hört, dass Finnick ebenfalls auf sie zu kommt. In seinen Armen hält er Mags und setzt sie so ab, dass sie perfekt aus dem Zapfen trinken kann. Erst als Mags fertig ist, trinkt er selbst einen großzügigen Schluck und gibt dann sofort den Zapfen frei, obwohl er selbst noch durstig ist. Narie scheint das zu bemerken.
»Trink noch etwas, Finnick. Du hast heute von uns den anstrengendsten Tag gehabt.«, meint sie und sieht ihn nur aufmunternd an. Finnick, der den Zapfen eigentlich nicht zu lange blockieren wollte und nur deshalb einen Schritt von ihm weggetreten ist, trinkt sofort noch etwas und benutzt das Wasser dann noch dazu, sich den Schweiß aus den Haaren und dem Gesicht zu wischen.
»Ihr könnt euch schlafen legen, ich halte die erste Wache.«, bietet Narie dann noch an und hilft Mags, sich an einen bequemen Ort zu legen. Zumindest so bequem, wie es in der Arena eben sein kann.
»Bist du nicht müde?«, fragt Finnick besorgt, doch Narie winkt nur ab.
»Nein, ich fühle mich noch ziemlich wach. Von hinten können wir nicht angegriffen werden. Diese Chance sollten wir zum Schlafen ausnutzen.«, erklärt sie und setzt sich auf eine Erhöhung, von der sie einen guten Überblick über die gesamte Ebene vor ihr hat. Finnick und Marvel sehen sie zögerlich an, doch Marvel nickt ihr schließlich bestätigend zu und legt sich ein Stück neben Mags auf den Boden. Einzig Finnick steht noch vor ihr. Narie lächelt ihm leicht zu.
»Na los, schlaf eine Runde. Oder willst du ganz Panem die Illusion rauben, dass du perfekt bist, indem du morgen mit den schlimmsten Augenringen aller Zeiten herumrennst?«, neckt sie den Sieger aus Distrikt 4, der ihr als Antwort nur die Zunge herausstreckt. Dann sieht er sich einen kurzen Augenblick suchend um und scheint abzuwägen, wo er sich hinlegen soll. Seine Wahl fällt schließlich auf einen Platz nah an Narie.
Narie hält über eine Stunde Wache, als die Hymne dieses Tages ertönt. Sofort sieht sie in den Himmel und sieht aus dem Augenwinkel, dass auch Finnick, Marvel und Mags den Kopf gen Himmel recken.
Sie sieht sich die Bilder der Gefallenen Tribute an und sieht das Bild von Woof, an dessen Tod sie mehr oder weniger Schuld ist. Sollte sie in den ersten Spielen noch ein seltsames Gefühl verspürt haben, wenn sie an den Jungen gedacht hat, den sie direkt am Füllhorn getötet hatte, so verspürt sie dieses Gefühl nicht mehr. Es erschreckt sie beinahe, dass sie innerlich etwas von Stolz erfüllt ist, doch als sie sieht, dass über Finnicks Gesicht der gleiche Ausdruck huscht, als er das Bild des Tributes entdeckt, den er getötet hatte, mildert sich dieses Gefühl in ihr drinnen.
Ihr war bewusst, dass sie diese Spiele mit einer anderen Einstellung beginnt. Letztes Jahr hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie überleben würde. Sie hatte keine Ahnung, wie ihre Chancen standen. Dadurch, dass sie jetzt allerdings schon ein Mal gewonnen hatte, wusste, wozu sie fähig ist, merkte sie, dass sie offener ist, zu töten. Immerhin will sie Marvel oder Finnick hier herausbringen. Und wenn sie sich dafür selbst opfern muss.
»Möchtest du jetzt etwas schlafen?«, ertönt es plötzlich neben ihr und sie zuckt zusammen. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass sich Finnick hat neben sie fallen lassen.
»Nur ein paar Stunden.«, gibt sie zurück und sieht Finnick eindringlich an.
»In Ordnung. Ich wecke dich, versprochen.«, teilt er ihr mit, denn er weiß, was sie von ihm erwartet. Narie nickt dankbar und sieht sich nach einem geeigneten Schlafplatz um, doch zögert. Die Entscheidung, wo sie schläft, wird ihr allerdings abgenommen, als Finnick einen Arm um ihre Hüfte schlingt und sie an sich zieht.
»Ich passe auf, keineSorge.«
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