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• B R Y C E •

Als ich Miles und Logan zum Flughafen gebracht habe, mussten wir um drei Uhr morgens zuhause losfahren, damit sie halbwegs pünktlich einchecken können. Der Fahrservice für ihren Rückflug beläuft sich auf eine humane Zeit.
Es ist vier Uhr am Nachmittag und ich stehe auf dem Parkplatz zum Flughafen. Jayden sitzt neben mir und tippt auf seinem Handy herum, um Miles mitzuteilen, wo genau wir sind und ich beobachte ihn dabei.

„Hab ich irgendwas im Gesicht kleben?“, fragt er irgendwann verwirrt und sieht von seinem Bildschirm auf, um in den Spiegel zu schauen.

„Eine Riesenspinne“, antworte ich ihm verheißungsvoll.

Er wendet den Blick zu mir, seine Augenbrauen sind nach oben gezogen und seine Lippen zu einem Schmunzeln geformt. „Und wieso kann ich sie dann nicht sehen?“

„Sie ist unsichtbar.“

Er verdreht die Augen, klappt den Spiegel zu und widmet sich wieder seinem Handy. „Und wieso starrst du mich dann an?“

„Ich bin der einzige, der sie sehen kann. Ist meine Superkraft.“

Er schüttelt den Kopf, lacht dabei aber leicht. „Ich müsste sie zumindest spüren, meinst du nicht?“

„Tust du das etwa nicht?“, frage ich schockiert. Dabei bewege ich meine Hände zu ihm und beginne, mit den Fingerspitzen über seine Wange zu streichen.

Wieder lässt er sein Handy sinken, um mich anzusehen.

Ich erwidere seinen unbeeindruckten Ausdruck mit meinem süßesten Lächeln und streichele dabei mit den Fingerkuppen seine weiche Wange.

Heute hat er sich nicht die Mühe gemacht, die Tattoos in seinem Gesicht abzudecken und rasiert hat er sich auch nicht. Trotzdem finde ich ihn schön. Diese leichten Stoppeln stehen ihm. Sie lassen ihn etwas reifer aussehen. Und in Kombination mit den Tattoos auch ein wenig gefährlich. Sexy.

„Du warst schon mal witziger“, teilt er mir nach kurzer Zeit mit.

Beinahe im selben Moment klingelt sein Handy, er hüpft vor Schreck im Sitz hoch und ich lehne ich machend zurück, während er mir einen bösen Blick zuwirft und den Anruf annimmt.

Es stellt sich heraus, dass Miles, Jackson und Logan zu dämlich sind, den Parkplatz zu finden. Jay beschließt also auszusteigen ihnen entgegenzukommen. Ich bleibe im Auto, da ich in zweiter Reihe stehe. Muss nicht sein, dass ich abgeschleppt werde. Zumindest nicht von jemand anderem als Jayden.

Ich schaue ihm dabei zu, wie er sich von Auto entfernt. Ich weiß, dass er sich von mir beobachtet fühlt und drücke auf die Hupe, um es ihm zu bestätigen. Wieder schreckt er auf, dreht sich um und streckt mir den Mittelfinger hin, während er sich mit der anderen Hand die Brust hält. Ich werfe ihm einen Luftkuss zu und grinse zufrieden, ehe ich meinen Blick von ihm löse, bevor mich das Bedürfnis überkommt, ihn noch weiter zu ärgern.

Ich spiele eine Runde Karten auf meinem Handy und ignoriere Nicks Frage, wann genau Miles ankommt und ob ich glaube, dass es zu aufdringlich von ihm ist, sofort heute Abend bei uns vor der Tür zu stehen. Er soll ausnahmsweise selbst nachdenken und auf eine Antwort kommen. Kann doch nicht so schwer sein.

Auch Mums Frage, ob wir schon auf dem Weg nachhause sind, schenke ich keine Beachtung. Jaydens Nachricht, ist die einzige, die ich antippe, um zu antworten. Er meint, er hätte die drei Dummheiten gefunden und sei auf dem Weg zurück. Ich schicke ihm einen Daumen nach oben und halte Ausschau.

Eine halbe Stunde später haben wir alle Taschen im Kofferraum untergebracht, die Jungs haben sich auf eine Sitzordnung geeinigt und Logan erzählt mir von ihrem Trip. Miles sitzt auf der Rückbank in der Mitte und lehnt sich an Jayden, um möglichst viel Abstand zu Jackson zu halten. Er tut so als würde er schlafen und Jayden als Kissen benutzen, aber ich kenne meinen Bruder und seine Maschen nur allzu gut.

Jackson ist der Zeit am Handy und glänzt durch Unauffälligkeit. Vermutlich ahnt er, dass ich ihn sofort auf die Straße setzen und laufen lassen würde, wenn er mir auch nur die kleinste Rechtfertigung dafür liefert.

Logan lässt in seinem Urlaubsbericht nichts aus. Weder die Panne mit der Fehlbuchung, noch Jacksons fast-Seitensprung oder Miles‘ Reaktion darauf. Als er damit fertig ist, habe ich das Gefühl, ich sei selbst dabei gewesen.

„Jedenfalls haben wir beschlossen, das nächste Mal Strandurlaub zu machen. Möglichst weit weg von Kanada und Schnee. Dann kommt Emma aber mit.“

„Dann wird das aber kein Kumpel-Urlaub.“

„War es diesmal auch nicht“, schnaubt Logan, halb abfällig, halb belustigt. „Die zwei Streitvögel hatten die ganze Zeit über so seine Spannung, dass ich keine Ahnung hatte, ob sie sich umbringen oder die Klamotten vom Leib reißen werden, wenn ich sie kurz alleine lasse.“

Selbst dazu sagt Jackson nichts. Er tippt wie wild mit seinen Daumen auf sein Handy ein. Ich weiß nicht einmal, ob er hört, was Logan mir alles erzählt.

„Das heißt, ich könnte eventuell auch mitkommen?“, wirft Jayden von der Rückbank ein.

Logan dreht sich zu ihm. „Klar. Am besten, wir zwei planen das Ganze. Miles und Jackson sind darin echt nicht gut.“

Jayden lacht leicht. „Okay, machen wir. Am besten im Sommer, oder? In Jacksons Semesterferien?“

Die beiden beginnen, einen groben Plan aufzustellen und ich warte darauf, dass mich jemand fragt, ob ich auch mitmöchte. Was keiner tut.
War ja klar.
Sie sind immerhin nicht meine Freunde, sondern Miles.
Ich habe keine Freunde. Die einzigen Leute, die mit mir in den Urlaub gehen würden, sind meine Eltern. Und sogar die würden versuchen, mich loszuwerden, um Zeit für sich zu haben.

Eine Stunde vergeht, in der Logan nun nicht mehr mich unterhält, sondern Jayden. Jedes Mal, wenn ich Jays Stimme höre, scheint meim Herz den Takt zu ändern. Und immer, wenn er lacht, setzt es einen Schlag aus, nur, um danach umso schneller weiterzuschlagen.
Alles, was er sagt, klingt in meinen Ohren richtig. Obwohl ich weiß, dass er, zumindest was das Thema Fitness angeht, fast nur Schwachsinn von sich gibt. Aber das spreche ich nicht aus. Nicht vor allen anderen. Belehren kann ich ihn später. Vielleicht bei einem schönen Glas Wein, nackter Haut und dem ein oder anderen Kuss.

Was ich nicht bedenke, ist, dass Jayden ab heute wieder bei Miles schlafen wird.
Er tut so, als hätte er die letzten Nächte nicht bei mir verbracht. Ja, so als hätte er keine Minute mit mir verschwendet.

Als Miles und Jayden mich abends dazu einladen, noch einen Film mit ihnen zu sehen, wirkt er beinahe so als würde er wollen, dass ich ablehne. Aber das tue ich nicht. Ganz im Gegenteil. Ich setze mich so nah neben ihn, dass ich genauso gut auf seinem Schoß platznehmen könnte und lege meinen Arm hinter ihm auf die Sofalehne.
Jayden lehnt sich immer wieder zu Miles, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Dass sie über den Film reden, ist mir klar. Warum sie mich daran nicht teilhaben lassen, jedoch nicht.

„Der Film ist langweilig“, stoße ich nach etwa einer Stunde aus und wünsche den beiden eine gute Nacht. Mir reicht es.
Ich wechsele die Gesellschaft von Jay und Miles zu Mum und Dad. Sie sitzen im Wohnzimmer auf dem Sofa und schauen eine Doku über Einzeller.

Meine Mutter starrt gebannt auf den Bildschirm, während mein Vater sie im Arm hält und unauffällig auf seinem Handy herumtippt. Er spielt ein Farm-Spiel, stellt sich heraus, als ich an ihm vorbeilaufe und mich so aufs Sofa werfe, dass meine Mutter keine andere Wahl hat, als mir den Kopf zu kraulen.

„Na, das hast du mich aber schon ewig nicht mehr machen lassen, mein Schatz“, flüstert sie. Sie glaubt wohl, sie würde meinen Vater stören, wenn sie lauter spricht. Dabei hat der wahrscheinlich schon beim Intro mental abgeschalten und erfüllt nur noch seine eheliche Pflicht als Kissen.

Ich sage nichts dazu, sondern lege meinen Kopf auf dem Polster neben ihrem Bauch zurecht und schließe genießend die Augen.
Als ich noch ein Kind war, hat es zu unserer Routine gehört, dass Mum mir abends den Kopf krault. Selbst, als Miles dann auf der Welt war. Jeden Abend lagen wir da und ich bekam die Zuwendung, die mir den gesamten Tag über gefehlt hat.
Irgendwann hat sie so viel gearbeitet, dass sie kaum mehr zuhause war, um mir den Kopf zu kraulen. Meine Großmutter hat versucht, diese Lücke zu füllen. Genauso wie mein Opa und mein Vater. Irgendwann sogar Miles. Aber es war einfach nicht dasselbe.

Als ich mich Stunden später bettfertig mache und meinem Spiegelbild begegne, schrecke ich kurz auf. Meine Mutter scheint meinen Locken auf magische Art und Weise Volumen verliehen zu haben. Dabei bemühe ich mich immer so sehr, sie so glatt wie möglich zu bekommen.

Grummelnd mache ich sie feucht und kämme sie durch, bevor ich sie zu einem Dutt zusammenbinde. Irgendwie bin ich gerade mit allem unzufrieden. Ich bilde mir ein, mein Körper würde verraten, dass ich in letzter Zeit nicht mehr zum Trainieren gekommen bin. Meine Haare gefallen mir nicht, meine Augen sehen traurig aus und allgemein passt mir im Moment gar nichts.

Die Badtür steht offen. Trotzdem klopft Jay an, bevor er reinkommt.

„Bin fertig“, meine ich bloß und will an ihm vorbei. Er aber hält meine Hand fest und schließt die Tür, bevor ich den Raum verlassen kann.
Verwundert sehe ich von der Stelle, an der er mich berührt, in sein Gesicht. Ich kann  darin nicht erkennen, was er von mir will. Selbst, als er mich zu sich zieht, so nah, dass er seine Hände auf meine Schultern legen kann, frage ich mich, was das hier werden soll.

Eine Sekunde später löst er durch einen simplen Griff den Haargummi und meine Locken fallen mir auf die Schultern. Er legt einzelne Strähnen davon zurecht und murmelt: „Sind ganz schon lang geworden deine Haare.“

Von mir kommt keine Antwort. Er schluckt und geht einen Schritt näher zu mir. Einen einzigen. Dann hebt er den Kopf und seine Lippen landen auf meinen, wie zwei Magnete, die, sobald sie in der Reichweite des anderen sind, nicht mehr anders können als zueinander zu finden.
Er schlingt die Arme um meinen Hals und presst sich an mich.
„Halt mich“, murmelt er zwischen unsere Küsse.

Erst dann wage ich es, ihn ebenfalls zu berühren und legte meine Hände an seine Hüften, die er an meine presst.
Er hat nicht damit gerechnet, dass ich ihn wegschieben würde.
Ich auch nicht.

Mit roten Wangen und verlegenem Blick schaut er mich an, als ich ihn nach unserem Kuss distanziert ansehe. Lange schafft er das nicht. Er reißt seinen Blick aus meinem und sieht überall hin, nur nicht zu mir, während er die Hand in den Nacken legt und zurückweicht.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht überfallen.“

Ich presse die Zähne zusammen. „Ich habe nichts dagegen, von dir überfallen zu werden. Wie du mich davor behandelt hast, stört mich.“

Er nickt, weiß also genau, was ich meine.
„Ich habe keine Lust, verstecken zu spielen, Jayden“, mache ich ihm klar. „Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich nachts heimlich mit dir rummache und tagsüber dann so tuen als wäre nichts gewesen. Ich will keine bedeutungslose Affäre mit dir und werde mich sicher auch nicht ausnutzen lassen-“

„Das... Ich... Shit.“ Er schüttelt den Kopf und nimmt all seinen Mut zusammen, um mir in die Augen zu sehen. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass das scheiße von mir ist. Aber... Ich kann nicht... Ich bin noch gar nicht so lange von Derek getrennt und ich... Ich weiß nicht, ob... Was werden deine Eltern bitte von mir denken?“
Ich sehe ihn verwirrt an. „Was haben meine Eltern damit zu tun?“
„Ich will nicht, dass sie mich über eine Schlampe halten oder so...“, murmelt er und sieht wieder zu Boden. „Ist doch scheiße, wenn du dich outest und ihnen einen Typen vor die Nase setzt, der kurz davor noch mit einem anderen zusammen war.“
Ich kneife die Augen zusammen. „Ich habe nicht vor, mich zu outen“

Als er aufsieht und den Mund öffnet, rede ich weiter, bevor er auf falsche Gedanken kommen kann.
„Ich brauche sowas nicht. Das ist dämlich. Ich halte meine Gefühle nicht geheim und ich muss kein großes Drama daraus machen, wenn sie für andere offensichtlich werden.“
Er nickt verstehend und murmelt: „Okay“, sagt aber sonst nichts weiter.
Ich muss seufzen. Es scheint als hätten wir alles gesagt. Geklärt hat sich allerdings nichts.

„Du hättest mir einfach sagen können, dass du noch Zeit brauchst“, meine ich nach einer kurzen Zeit der Stille.
„Ich wollte dich nicht enttäuschen“, murmelt er. „Oder wütend machen“
Ich schüttele den Kopf, was er aber nicht sehen kann. Also stelle ich mich näher zu ihm und drücke sein Gesicht mit dem Zeigefinger unter seinem Kinn so weit nach oben, dass er mich anschauen muss.
„In einer gesunden Beziehung, egal ob sexuell, romantisch oder platonisch, redet man miteinander, Jayden. Man zeigt Grenzen auf und kommuniziert seine Bedürfnisse. Und keiner macht dem anderen dafür einen Vorwurf oder ist wütend oder enttäuscht. Okay?“
Er schluckt wieder und nickt dann langsam. „Okay.“

Wieder ist es still. Diesmal sehen wir einander aber an. Mit jeder Sekunde, die so vergeht, scheint Jayden bewusster zu werden, dass ich meine, was ich gesagt habe. Er findet Sicherheit in dieser Ehrlichkeit.

„Ich habe dich unglaublich gern, Bryce“, sagt er schließlich leise.
Ich liebe es, wie mein Name aus seinem Mund klingt. Gleichzeitig fürchte ich mich davor, wie glücklich mich seine Worte machen.
„Ich dich auch“, flüstere ich zurück. Ich kann mich dabei selbst kaum verstehen. Nur, dass Jayden lächelt, beweist, dass er gehört hat, was ich gesagt habe. Und, dass er sich darüber freut.

„Können wir... Ist es für dich okay, wenn wir...“
Ich nehme seine Hand und drücke sie leicht. Er lächelt mich dankbar an und spricht ruhiger weiter.
„Ist es für dich okay, wenn wir einen Stopp einlegen?“
Diesmal bin ich es, der schluckt. Dennoch lasse ich seine Hand nicht los.
„Das Alles... Das ging so unglaublich schnell. Ich möchte, glaube ich, erstmal richtig über Derek hinwegkommen und einige Dinge mit mir selbst ausmachen, bevor ich mich beziehungstechnisch auf etwas Neues einlasse... Mir ein unabhängiges Leben aufbauen und Sachen verarbeiten und lernen.“

Ich nicke verstehend. Ich weiß, dass es Sinn macht. Und, dass es Jayden guttun wird. Seine Trennung von Derek hat ihm anfangs sehr zu schaffen gemacht, aber ich glaube, er begreift langsam, was sich ihm dadurch für Möglichkeiten eröffnen. Er ist frei. Er kann tun und lassen, was er möchte. Klar, dass er sich nicht sofort in meine Arme stürzt ohne nach links und rechts zu schauen.

„Heißt das, du willst Abstand zu mir? Stehe ich dem irgendwie im Weg?“

Es erleichtert mich ungemein, dass er den Kopf schüttelt. Zwar habe ich es geschafft, bei meiner Frage ruhig und sachlich zu klingen, aber innerlich sah es dabei ganz anders aus. Selbst jetzt, als ich lächele, will ich eigentlich nur weinen.
Nicht unbedingt, weil ich traurig bin. Es ist wohl eher Überforderung. Die Erkenntnis, dass ich noch nie für jemanden so gefühlt habe, wie ich für Jayden fühle. Dass ich noch nie jemanden wollte, den ich nicht haben konnte, fühlt sich beschissen an. Trotzdem hätte ich auf diese Erfahrung, auf alles mit ihm, um nichts in der Welt verzichten wollen.

„Willst du Abstand zu mir?“, hakt Jayden vorsichtig nach.
Auch ich schüttele den Kopf und erkenne, wie sich meine Erleichterung in seinen Augen widerspiegelt.

„Dann sind wir ab jetzt was genau?“
Er zuckt mit den Schultern. „Freunde, schätze ich?“
Interessant, dieser Rollentausch. Normalerweise bin ich die Person, die anderen eine Freundschaft anbietet, weil ich ihnen nicht wehtun will. Aber Jayden hat es selbst gesagt. Er hat mich gern. Andererseits habe ich das zu Eric damals auch gesagt...

„Okay. Freunde“, stimme ich zu und wir geben uns die Hand, so als seien wir wirklich nur das – Freunde.




•••
Das Ende hat noch ein wenig auf sich warten lassen. Dafür scheinen Bryce und Jayden damit ganz zufrieden zu sein. Und wer weiß, vielleicht war diese Geschichte erst der Anfang...

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