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• B R Y C E •

Es gehört zu meiner Routine, jeden Tag Sport zu machen. Das muss nicht immer das Fitnessstudio sein oder eine Joggingroute. Manchmal reicht auch ein gutes Partner-Workout.

Gestern habe ich nichts davon gemacht. Jayden und ich waren gerade erst beim Aufwärmen, da hat Lexi uns unterbrochen. Wir hatten uns weder gedehnt, noch waren wir ins schwitzen gekommen.

Auch heute sieht es vorerst nicht so aus, als könnte ich mich an meinen Tagesablauf, vor der Arbeit noch Sport zu machen, halten. In aller Frühe, noch bevor er Verkehr in der Stadt richtig aufleben kann, fahre ich zu Lexis Wohnung.

Sie hat Jayden letzte Nacht erzählt, dass Derek seit ein paar Wochen bei ihr wohnt, weil er sich ohne Jayden in ihrem Haus so alleine fühlt. Die meiste Zeit über sei es zwischen ihnen friedlich gewesen, aber gestern hätte Derek einen über den Durst getrunken und damit angefangen, ihre Einrichtung auseinanderzunehmen. Sie wollte ihn beruhigen und er hat angefangen, auf sie einzuschlagen.

Eigentlich wollte ich gestern schon los, als ich dieses Gespräch zwischen Lexi und Jayden belauscht habe. Aber Jayden hat mich davon abgehalten. Er meinte, Derek sei an diesem Tag des Jahres nie in guter Verfassung und man hätte damit rechnen müssen, dass er jeden Moment explodieren könnte.

„Ist jetzt Lexi Schuld daran, dass er sie verprügelt hat, oder was?", fragte ich Jayden empört.

Am liebsten hätte ich gepackt und kräftig durchgeschüttelt.

Es interessiert mich nicht, dass Derek Gründe für seine Aggressionen hat. Scheiß egal, was ihm passiert ist und was ihn so quält, dass er nur noch um sich schlagen kann. Er muss trotzdem zur Verantwortung gezogen werden. Er muss verstehen, was er anrichtet.

Jayden ist ihn vielleicht los, aber Lexi kann sich nicht von ihm trennen und sich einen anderen Bruder suchen. So funktioniert Familie nicht. Und ich weiß, dass sie später nachhause gehen wird und weitermachen wird zuvor. Sie würde Derek nicht verstoßen. Aber was da gestern passiert ist, beweist, dass selbst sie nicht vor ihm sicher ist. Und obwohl das mit mir an sich gar nichts zu tun hat, kann ich nicht einfach wegsehen und diese Dinge passieren lassen. Ich muss Derek klarmachen, dass seine Taten Konsequenzen haben.

Irgendetwas entwickelt sich gerade zwischen Jayden und mir. Nein, wahrscheinlich entwickelt sich das schon seit Monaten. Das heißt aber nicht, dass Lexi mir plötzlich egal ist. Ich halte sie dennoch für eine erstaunliche, schöne, junge Frau. Und ich will sie beschützen.

Ich fange die Tür hinter einem von Lexis Nachbarn auf und stelle mich in den Aufzug. Sport schön und gut, aber ich will nicht ins Penthouse laufen, wenn ich nicht weiß, war darin auf mich zukommt. Derek ausgepowert gegenüber zu treten, könnte ihm den entscheidenden Vorteil verschaffen. Das will ich nicht riskieren.

Innerlich verfluche ich jede Person, die den Aufzug ebenfalls nutzt und ihn somit immer wieder zum Anhalten bringt. Nach außen hin lächele ich nur und hoffe, dass ich diese Show bald beenden kann. Mir ist einfach nicht danach zu mute, jedem Fremden einen „Guten Morgen" zu wünschen. Mir doch egal, wie ihr morgen verläuft.

Als ich endlich oben ankomme, bin ich fast auf hundertachtzig. Als ich heute Morgen lange vor meinem Wecker wach wurde, nicht mehr schlafen konnte und spontan beschlossen habe, vor der Arbeit hierherzukommen, war ich noch sehr ruhig. Es ist fast so als sei ich schlafwandelnd durch die halbe Stadt getaumelt, und erst im Aufzug richtig wachgeworden.

Nun stehe ich vor Lexis Tür und fingere ihre Klingel bis zum Höhepunkt.

Von drinnen hört man das hohe Piepen und Poltern und Krachen, ein „Aua!" und schließlich, wie die Tür geöffnet wird.

Derek hat die Augen so stark zusammengekniffen, dass seine Augenbrauen sich über seine Lider geschoben haben. Seine Haare stehen wild zu allen Seiten ab und sein Geruch von Alkohol und Schweiß schlägt mir härter ins Gesicht als jeder Boxer es könnte.

„Was ist?!"

Er schafft es gerade so, ein Auge halbwegs zu öffnen und fährt sich dann mit der Hand über sein müdes Gesicht, als er mich erkennt.

„Ich habe was mit dir zu klären."

Er verdreht die Augen. Zumindest glaube ich das. „Kein Interesse."

Ich schiebe meinen Fuß zwischen Tür und Rahmen, sodass Derek sie nicht schließen kann und drücke mich durch den schmalen Spalt in die Wohnung.

Das schöne Apartment scheint nicht nur seinen Gestank, sondern auch seinen gesamten Charakter angenommen zu haben. Es ist dunkel, kalt, verwüstet und einfach nur abstoßend.

„Alter! Was willst du?"

Derek fehlt die Kraft, sich gegen mein Eindringen zu wehren. Er schleppt sich mir hinterher in den Wohnraum und lässt sich dort zu den Pizzakartons, Chipstüten und Bierflaschen auf das Sofa fallen.

In der Zeit lasse ich die Rollos hochfahren und öffne alle Fenster.

„Was soll das denn jetzt?", beschwert er sich, während er sich eine Decke über den Kopf wirft und sich im Sofa vergräbt.

„Hier drinnen ist es widerlich", stelle ich klar.

Ich hätte die Rollos lieber unten lassen sollen. In der Dunkelheit hat man das Chaos nur erahnen können. Es so direkt vor Augen zu haben, ist nochmal eine ganz andere Hausnummer.

Nicht einmal die Theke in der Küche ist ganz geblieben. Derek muss mit einem Vorschlaghammer auf den Marmorstein eingeschlagen haben, damit er bricht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch überhaupt solch eine Kraft aufbringen kann.

Derek sagt dazu nichts. Er brummt nur, dass ich mich verpissen soll und versucht, die letzten Reste aus den Bierflaschen um sich herum in seinem Mund zu sammeln. Dazu schiebt er die Decke auch nur soweit zurück, dass mam seinen Mund unter seinem ungepflegten Bart erahnen kann.

„Keine Sorge, ich habe nicht vor, länger hierzubleiben als nötig." Als würde irgendjemand sich aus freien Stücken in dieser Müllhalde aufhalten wollen. „Ich dachte nur, es interessiert dich vielleicht, wie es Lexi geht?"

Die Decke fällt von seinem Gesicht und Derek versucht, mich anzusehen, scheitert aber wegen des Sonnlichts in meinem Rücken.

„Sie ist bei dir?"

Ich nicke. „Jetzt mal ehrlich, Derek. Erst dein Freund und jetzt deine Schwester? Wie tief kann man eigentlich sinken?"

Er schüttelt den Kopf, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen.

„Komm endlich mit dir selbst klar und hör auf, deine Probleme an allen anderen auszulassen. Such dir einen Therapeuten oder eine Selbsthilfegruppe oder was weiß ich... Krieg deinen Scheiß auf die Reihe."

„Was mischst du dich bitte in meine Angelegenheiten ein?"

„Wenn deine Angelegenheiten ständig schwer verletzt vor meiner Tür stehen, habe ich ja wohl kaum eine andere Wahl."

Er schnaubt. „Ja klar. Du liebst es doch, dich als Held aufzuspielen. Als wärst du so perfekt."

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und schüttele den Kopf. „Ich versuche nicht perfekt zu sein. Jeder hat seine Macken. Aber du verletzt Leute, die mir wichtig sind. Und das hört besser ein für alle Mal auf."

„Sonst was?", lacht er. „Es ist nicht so als könntest du mir noch mehr wegnehmen, Bryce."

„Ich nehme dir nichts weg. Du führst dich nur so auf, dass keiner es aushält, bei dir zu bleiben. Du hast Jayden manipuliert und verdroschen und weil du deine Wut jetzt nicht mehr an ihm auslassen kannst, soll jetzt Lexi dran sein? Sind andere Menschen für dich nichts anderes als Boxsäcke? Wer gibt dir das Recht zu glauben, das würde deine Konsequenzen nach sich ziehen, mh? Du bekommst, was du verdienst, so einfach ist das."

„Du hast keine Ahnung, wovon du redest", murmelt Derek. Er knüllt die Decke in seinem Schoß zusammen und drückt sie fest an sich, fast wie ein Kuscheltier.

„Es juckt mich einen Scheiß, was dir passiert ist. Du wirst von mir weder Mitleid bekommen, noch das geringste Bisschen Verständnis. Ich bin nur hier, um dir klarzumachen, dass du diesmal zu weit gegangen bist."

Er gibt keine Resonanz, starrt nur auf den zerbrochenen Glastisch vor sich und presst die Decke gegen seinen Bauch.

Ich gehe. Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Mehr interessiert mich nicht.

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