Kapitel 3
Am darauffolgenden Tag erwachte ich früher als erwartet. Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen woraus ich schloss, dass es etwa fünf Uhr sein müsste. Und tatsächlich: ein Blick auf mein Handy bewies, dass meine innere Uhr richtig lag. Blöd nur, dass die Schule erst um acht Uhr begann und mein Wecker erst in einer Stunde klingeln würde. Da auch das Frühstück erst später begann beschloss ich etwas zu lesen um meiner Nervosität keine Chance zu geben.
Lesen hatte mir schon immer dabei geholfen die Welt auszublenden. Ich konnte mich stundenlang in einer Welt verlieren und in die Geschichten anderer Figuren eintauchen. Es kam vor, dass ich den ganzen Tag damit verbrachte ein Buch nach dem anderen zu verschlingen.
Diesmal hatte ich mich für einen Klassiker entschieden: Harry Potter und der Stein der Weisen. Auch wenn ich fünf Jahre älter war als Harry in seinen ersten Schuljahr an der Zauberschule Hogwarts fühlte ich mich ein wenig wie er. Auch ich war plötzlich an einer Zauberschule und war nervös. Auch wenn ich fand, dass diese Nervosität bei Harry nicht so herauskam war es doch recht offensichtlich. Deshalb las ich in solchen Momenten meistens die Harry Potter Bücher. Irgendwie waren diese über die Jahre zu meiner seelischen Zuflucht geworden. Drohten die Emotionen mich zu übermannen stürzte ich mich in die Geschichte des Jungen, der mir eigentlich garnicht ähnelte dem es aber ähnlich gehen musste.
Als mein Wecker beschloss zu klingeln machte ich mich mit zittrigen Fingern fertig. Die Schuluniform der Acadia hing bereits säuberlich in meinem Schrank. Die schneeweiße Bluse und der schwarze Rock passten wie angegossen. Da ich bisher nur mit Männern zusammengelebt hatte bereitete mit auch das Binden der königsblauen Krawatte keine Probleme. Ich schlüpfe in das maßgeschneiderte, schwarze Jacket. Auf Höhe der linken Brust war das Schulemblem eingestickt worden: Ein Fuchs, der auf einen schlafenden Luchs acht gab war vor einem weißem A auch königsblauem Grund dargestellt.
Auf dem Weg zur Tür unseres Appartements traf ich erneut auf Cadence. Sie war in ihr Handy vertieft, weshalb sie mich zuerst nicht wahrnahm. Ich stolperte über meine eigenen Füße und erregte so ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie streckte die Hand nach mir aus, vermutlich um mich vom Fallen abzuhalten doch ich hatte mich wieder gesammelt.
„Hallo, Sambarita", sprach sie, „Geht es dir gut?"
Ich versicherte, dass mit mir alles in Ordnung sei. Plötzlich bückte sich Cadence und hob etwas hoch was ich als meinen Absatz erkannte.
„Verdammt das war's mit dem Schuh." Ich hob lachend den abgefallenen Absatz in die Höhe. Die kaputten Schuhe lagerte ich vorerst in meinem Kleiderschrank. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam stand ein schlichtes Paar schwarzer Ballerinas neben Cadence.
„Ich dachte ich leihe dir vorerst ein Paar meiner Schuhe", Cadence hielt mir die Schuhe entgegen, „Glaub mir, ich hab genug."
„Ich kann das nicht annehmen"
„Komm schon. Oder willst du mit kaputten Schuhen los?"
Da hatte sie recht. Aber ich konnte das Angebot einfach nicht annehmen. Ich wollte sie schließlich nicht ausnutzen. Cadence versuchte mich weiterhin zu überreden und irgendwann gab ich nach. Da nur wir zwei zu diesem Zeitpunkt wach waren beschlossen wir frühstücken zu gehen. Das Problem an der Sache war allerdings, dass eine Begrüßungsveranstaltung erst nach dem Frühstück stattfinden sollte, sodass ich noch nicht wusste wo ich eigentlich hin musste.
Cadence allerdings schien einen Plan zu haben. Sie nahm meine Hand und führte mich schnurstracks zu einer riesigen Speisehalle in dem selben Trakt, in dem sich auch das Sekretariat befand. Unzählige kleine Tische standen in dieser verteilt, an denen bereits einige Schüler saßen und ihr Frühstück verzehrten. An der Wand gegenüber der Tür stand eine lange Tafel den ich als Lehrertisch identifizierte.
Die Tische selbst waren aus dunklem Holz und mit weißen Tischdecken bedeckt. Hier und da sah man königsblaue Dekorationen und auch die Stühle waren mit einem gleichfarbigen Stoff überzogen. An der linken Wand befand sich eine lange Tafel auf der sich diverse Leckereien nur so stapelten. Die rechte Wand war mit deckenhohen Fenstern bedeckt.
Wir nahmen uns unser Frühstück und setzten uns an einen kleinen, runden Tisch an der Fensterwand. Auf meinem Tablett standen lediglich eine Schüssel mit Joghurt und eine riesige Tasse Kaffee während sich auf dem Tablett mein Mitbewohnerin diverse proteinreiche Speisen stapelten.
Nach einer Weile einvernehmlichen Schweigens fragte Cadence plötzlich: „Sag mal, warum isst du eigentlich so wenig? So hältst du doch nicht bis heute Abend durch."
Ich lachte nervös. Wie konnte sie es nur nicht sein? „Ich bin einfach nervös. Schließlich ist es mein erster Tag hier. Außerdem esse ich nicht gerne von anderen."
Das stimmte. Ich hasste es, vor anderen zu essen. Mein ganzes Leben über musste ich mir schon anhören, dass ich „zu dünn" sei. Besonders mein Vater bezeichnete ich immer als zu dünn. Ich solle mehr essen, meinte er. Er und Lucca waren leicht über dem Durchschnitt während ich, mit dem Immunsystem meiner Mutter, jegliche Nahrung direkt verbrannte . Ich konnte einfach nicht zunehmen. Selbst wenn ich noch so viel aß und Sport trieb.
„Du musst dich für nichts schämen", meinte Cadence, „du bist perfekt, so wie du bist." Sie drückte kurz mit ihrer kalten Hand die meine und zuckte zurück als hätte sie sich verbrannt. Mein Körper hingegen begann überall zu kribbeln. Ich war diese Art von Berührung nicht gewohnt. Besonders nicht von einer Frau.
Cadence stand ruckartig auf, wobei ihr Stuhl fast umfiel. „Ich muss los. Mein Unterricht beginnt früher. Man sieht sich, Sambarita." Mit diesen kurz angebundenen Worten verschwand sie.
Missmutig trank ich meinen Kaffee leer. Warum war sie plötzlich so seltsam? Hatte ich irgendwas verkehrt gemacht? Auf dem Weg zum Klassenraum hatte ich nichts anderes im Kopf. Vielleicht war sie auch einfach nur menschenscheu. Ich hoffte einfach das es nicht an mir lag.
Die erste Stunde, an der ich teilnahm, war die Informationsveranstaltung für alle neuen Schüler. So konnte ich direkt in der Speisehalle bleiben, wo das Event stattfinden sollte. Nach und nach widmeten sich auch die anderen Schüler ihrem Frühstück. Eine Viertelstunde vor geplantem Beginn rannte Fina in die Halle. Ihre Haare waren notdürftig gekämmt und die Krawatte ungebunden. Ich signalisierte ihr, wo ich mich befand und sie kam zu mir gelaufen.
„Hast du verschlafen?", fragte ich grinsend und band mit geübten Griffen ihre Krawatte.
„Ja, das habe ich", gab sie leicht bissig zurück, „Und jetzt hole ich mir was zu essen."
Nach kurzer Zeit kam sie allerdings noch mieser gelaunt zurück. Das Frühstück war bereits abgeräumt worden. Deprimiert ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen was dafür sorgte, dass ich mir ein Lachen nicht mehr verkneifen konnte.
„Ja, ja lach ruhig. Du hast wenigstens gefrühstückt", gab sie wieder und warf mich mit einer Serviette ab. Ich wollte schon zur Revanche ansetzen als ich im Augenwinkel wahrnahm, dass ein paar ältere Menschen die Halle betraten. Die Gruppe bestand aus drei Personen mit den selben, maßgeschneiderten Anzügen in denen auch einige Schüler*innen von uns befanden, nur waren die von zwei Personen aus silbergrauem Stoff. Die Frau in der Mitte trug den selben Anzug in Weinrot sowie eine Schriftrolle in der einen Hand. Die Gruppe stellte sich auf ein Podest in der Nähe.
Die Frau in Rot stellte ich als Dr. Virginia White, die Schulleiterin, vor. Ihre dunkle Haut war mit zahlreichen schneeweißen Flecken bedeckt. Mich verwirrte, dass sie noch so jung war. Alle Schulleiter, die ich bisher kennengelernt hatte waren mindestens um die vierzig gewesen. Sie war höchstens dreißig.
Ihre Begleiter hatte sie als Mitglieder des Schulvorstandes vorgestellt. Dr. White erklärte uns die Schulregeln und wies uns auf die Gebäudepläne hin. Jedes der fünf identisch aussehenden Gebäude hatte seine Funktion: die beiden links vom Tor waren für die Schülerappartements, die beiden rechts für die Klassenräume und das, in dem wir uns gerade befanden, war für das Haupthaus. Hier fand man den Speisesaal, das Sekretariat und die Appartements der Lehrkräfte.
Wir erfuhren auch von der berüchtigten Geschichte Acadias: Im fünfzehnten Jahrhundert, in dem alle Hexen verbrannt werden sollten, hatte es einzig der Coven der Astrologie-Hexen geschafft zu entkommen. Der sogenannte Astro-Coven konnte sich durch die selben Schutzzauber, wie sie teilweise auch die Acadia heute noch nutze, erfolgreich tarnen. Allerdings waren die Vampire durch einen mächtigen Vampir-Hexen-Hybrid dazu in der Lage, die neun Schwestern des Zirkels ausfindig zu machen und ihre irdischen Körper zu töten. Ihre Magie haben sie jedoch auf den Boden des Waldes rund um die heutige Acadia übertragen um Vampire fernzuhalten. So wurde an diesem Ort eine renommierte Zauberschule gegründet um so vielen Generationen Hexen nach ihnen das Zaubern beizubringen.
Dieses Jahr gab es erstmalig Stipendiat*Innen. 50 Schüler*Innen aus der ganzen Welt hatten die Möglichkeit erhalten, an dieser Eliteschule zu studieren. Und ich war eine davon. Der Grund dafür war, dass auch Kinder mit ärmeren Familien die Chance auf Bildung haben sollten.
Die Ansprache der Schulleiterin endete und wir erhielten unsere individuellen Stundenpläne für das Semester. Ich verabschiedete mich von Fina und machte mich auf den Weg zu den Klassenräumen im Trakt D, wo mein erster Unterricht stattfinden sollte.
Die Außenfassade des Gebäudes war mit denen der anderen auf dem Campus identisch, allerdings war es innen deutlich moderner eingerichtet. Die Treppe, die direkt gegenüber von der Haupttür in die oberen Stockwerke führte war anthrazit-schwarz mit einem gleichfarbigen Geländer die Türen bestanden aus schwarz gefärbten Glas mit goldenen Türklingen. Die vier Toilettentüren, die in die Toiletten für Mädchen, Jungen, Diverse und Lehrer führten hatten die selbe Farbe wie die Treppenstufen und sie waren mit weißen Schildern mit goldener Schrift versehen.
Das Klassenzimmer, welches ich betrat, griff diese Ästhetik auf und so war auch dieses in schwarz-weiß gehalten. Mit Ausnahme von den schweren, dunkelblauen Vorhängen vor den deckenhohen Fenstern.
Ich suchte mir einen Platz in der vorderen Reihe um so gut wie möglich aufpassen zu können. Der Kurs, den ich jetzt besuchen sollte, behandelte die Kunst der Zaubertränke und -mixturen.
Kurz nach dem Gong, der die Stunde einleiten sollte, bemerkte ich wie sich jemand mit einem Seufzen auf den Platz neben mir fallen ließ. Ich drehte mich in seine Richtung und sah in eine Paar eisblaue Augen, die mich ebenfalls ansahen. Der Junge, der etwa so alt sein musste wie ich sah mich forschend an und ich erwiderte seinen Blick. Plötzlich, ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, sprach er:
„Hi sorry hab vergessen mich vorzustellen. Ich bin Rafael."
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