Prolog

Manchmal frage ich mich, ob die Beamten wussten was auf mich zu kommen würde, als ich sie anrief. Ich war erst sieben Jahre alt und ganz alleine. Den halben Nachmittag hatte ich mich weinend in meinem Bett verkrochen und aus dem Wohnzimmer hörte ich immer und immer wieder wüste Beschimpfungen.

Ich hatte meinen Vater nie so sehr geliebt wie meine Mommy und als ich dann vorsichtig durch den Türspalt linste, sah ich zuerst meinen Vater. Er hatte sich drohend vor meiner Mommy aufgebaut und hatte die Hände in der Luft. In seinen Augen lag ein irres Funkeln. Ein ähnliches Funkeln lag in den Augen von Mommy. Nur liefen ihr Tränen über das Gesicht und sie hatte sich auf dem Boden zusammengekauert. Ich glaube, ihnen war nicht bewusst, dass ich im Haus war und zum aller ersten Mal in meinem Leben nicht einer meiner vier älteren Brüder da war um mich in den Arm zu nehmen und mich zu beruhigen. Ich konnte mich gestochen scharf daran erinnern, wie ich mit meinem Lieblingsteddy fest im Arm bis zum Telefon gelaufen war. Immer wieder hatte ich mich umgedreht und dann hatte ich es erreicht. Ich hatte es hart aus der Ladestation gerissen und mir hastig unter das rote Sommerkleid gesteckt. Dann hatte ich den Teddy so gehalten, dass man das Telefon nicht sehen konnte und war gerannt. Ich hatte die Tür panisch geschlossen und mich davor auf den Boden gesetzt. Ich hörte Mum erneut schreien. Dann hatte ich mit zitternden Fingern den Notruf gewählt.

›Mommy und Daddy hassen sich.‹ Das hatte ich weinend in den Telefonappart gewispert. Immer und immer wieder. Der Mann am Ende der Leitung entlockte mir nach einigen Minuten meinen Namen und meine Adresse und als es klingelte, riss ich die Tür auf. Davor standen zwei Polizisten. Ein Mann und eine Frau und in ihren Augen lag tiefes Mitleid. Ich frage mich, ob sie meine Zukunft vielleicht erahnt haben, als ich panisch zitternd vor ihnen stand, mit verheultem Gesicht und meinem Teddy im Arm, wie ich da einfach stand und wisperte: „Mommy und Daddy hassen sich." Der Rest des Tages verschwand im Rauschen das meinen Kopf erfüllte. Dunkel erinnerte ich mich, dass sich die Polizisten abgesprochen hatten und mich zu der Nachbarin brachten. Ich wusste, dass Mum von Dad nie geschlagen wurde oder anders herum, aber trotzdem zuckte ich ab diesem Tag jedes Mal zusammen wenn ich meinen Vater sah. Meine Brüder kamen zwei Stunden später, denke ich, es könnten auch drei sein. Von uns fünf ist Jacob der älteste und Valerian der mit dem schlimmsten Namen. Jacob hatte Vater immer mehr geliebt als Mum. Deshalb gingen meine Brüder nach der Scheidung mit meinem Vater nach Amerika zurück, dort wo er herkam. Es machte keine Probleme, denn wir wuchsen alle bilingual auf und ich war mir sicher, die Jungen würden zurecht kommen. Ich, die kleine, siebenjährige Raven Mcallister, deren Name so deutsch ausgesprochen wurde, blieb in Hamburg mit meiner Mutter.

Ich frag mich, ob Mum und Dad sich auch getrennt hätten, wenn die Jugendamtmitarbeiterin nicht erschienen wäre und mit ihnen ein ernstes Gespräch geführt hätte und ich frage mich, ob meine Brüder mir jemals so fremd geworden wären, wenn sie mir nicht die Schuld für die Scheidung gegeben hätten. Aber ich lebte damit. Ich hatte nicht zu klagen. Ich liebte meine Mum und sie liebte mich. Ich hatte alles was ich brauchte, bis auf Freunde vielleicht, aber das war kein Problem. Ich war eine Art Mitgängerin. Ich ging immer bei unterschiedlichen Cliquen rum und war mit einer besten Freundin voll auf zufrieden.

Ich ertrug viele Menschen einfach nicht lange. Es machte mich absolut wahnsinnig, wenn Menschen mir Fragen stellten und auf die Nerven gingen und nicht wussten, wann Schluss war.

Eine Familienfeier mit meiner Mum, mir, meiner Tante mit Mann und deren zwei Töchtern hatte Mal dazu geführt, dass ich meine gleichaltrige Cousine so rüde angegangen war, dass sie sich nicht mehr mit mir unterhielt. Es war in dem Moment einfach zu viel auf einmal.

Zu meiner Mum konnten man sagen, was man wollte, aber sie hatte einiges im Leben erreicht. Das war ein Fakt. Meine Mutter war gebürtige Deutsche mit einem russischen Vater, der aber vor ihrer Geburt gestorben war. Meine Mum hieß Natalja James, aber auch nur, weil meine Oma ihren Mädchennamen nach dem Tod von meinem Großvater wieder angenommen hatte.

Meine Mutter hatte es von der ausgegrenzten Halbrussin und dem Mobbingopfer ihrer Schule zu einer höchst erfolgreichen Modedesignerin gebracht, was leider Gottes bedeutete, dass Mum von mir erwartete, mindestens genauso gut zu werden. Also modelte ich ab und zu für ganz kleine Boutiquen um mir ein wenig zusätzliches Geld zu verdienen und beantwortet meiner Mutter die Frage nach meinem Berufswunsch immer wage.

Ich konnte also mit Fug und Recht behaupten, eine tolle Mutter zu haben.
Jetzt kommt der Haken.

Im Juni 2018 war es dann so weit. Meine Mum eröffnete, dass sie den Auftrag hatte, für einige Filme und in Amerika ansässige Modemarken zu designen und wir umziehen würden.

Aber jetzt starten wir erst einmal am Anfang. Am Morgen des 25. Juni 2018.
Meinem letzten Schultag in Deutschland.

„Raven! Bist du wach!" Murrend drehte ich mich wieder um, verhedderte mich in meiner Decke und knallte auf den Boden.
„Raven!"
„Ja!"
Seufzend richtete ich mich auf und schmiss die Decke wieder aufs Bett.
„Denk dran, du hast noch zwanzig Minuten! Ich muss jetzt los. Hab dich lieb, bis später."
„Bis später!", rief ich noch, dann fiel die Tür ins Schloss. Müde kämpfte ich mich auf die Beine und schlurfte Richtung Bad. Mit einem Schwall kaltem Wasser war ich dann wach. Der Blick in den Spiegel ließ mich erneut aufseufzen. Kurz wanderte mein Blick zu dem Karton Schminksachen, der abfahrbereit neben der Badezimmertür stand, griff dann aber doch nur nach der Bürste.

Stumm bürstete ich mir mit der einen Hand die Haare und rieb mit der anderen Hand verzweifelt unter meinen Augen hin und her, in der Hoffnung, dass die Schatten zumindest ein halbwegs menschlich Aussehen annehmen und nicht mehr tief blaulila glänzend von meiner Handysucht zeugen würden.

Das wirkte nicht. War ja klar. Warum sollte es nach fünf Jahren auch plötzlich funktionieren!

Mit den Nerven am Ende, den Schultag jetzt schon verfluchend und sich das Bett sehnlichst zurück wünschend pfefferte ich die Bürste in die Schminkbox und beschloss, mich stattdessen meinen Klamotten zu widmen. Ich hasste mein Leben doch. Aber nur ein kleines bisschen.

Knappe zehn Minuten später hatte ich dann endlich den Ansatz eines Dutts und ließ mich auf den Stuhl im Esszimmer fallen um mir eine Schale Joghurt einzufüllen. Den Plan verwarf ich aber schnell als mein Blick auf die Uhr fiel.
„Scheiße!" Wie vom Blitz getroffen stürzte ich los Richtung Haustür.

Die Sache war die, mit Pünktlichkeit hatte ich es nicht so. Eigentlich gar nicht. Normalerweise machte es mir wenig aus zu spät zur Schule zu kommen, aber am letzten Schultag konnte ich ja zumindest probieren pünktlich zu sein.

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