Berührungen
Kapitel 36
Winter
Das Pferd neben mir hatte immer mehr Schwierigkeiten dabei den nicht enden wollenden Schneefall zu trotzen und auch wenn ich die perfekte Schönheit der zarten Schneedecke auf Bäumen und Gräsern durchaus zu schätzen wusste, machte es mich dennoch nervös. Mehr als einmal hatte ich den Verdacht gehabt, wir wären vom Weg abgekommen, aber Lore führte uns mit eisernem Willen und ohne irgendein Zögern weiter voran. Als bräuchte er keinen Weg, um sein Zuhause zu finden. Wahrscheinlich war es auch so.
Vor wenigen Minuten hatte er mir geholfen abzusitzen, mit der Begründung, dass es nun nicht mehr weit wäre und ich hatte bemerkt wie auch die anderen Wechselhäuter ihre steife Mienen abgelegten und entspannter wirkten. Sie alle kannten diese Gegend, wussten, wo sie sich befanden und dass ihre Liebsten auf sie warteten. Sie verspüren dieselbe Erleichterung, die mich immer überkam, wenn ich mich zu weit von meinem Elternhaus hinausgewagt hatte und dann einen bekannten Ort wiederentdeckte.
"Zieh dir die Kapuze wieder übers Haar, sonst wirst du krank!", ermahnte Lore mich dennoch, als das helle Kaninchenfell, das meine Ohren geschützt hatte, erneut verrutschte und er es mit einer fürsorglichen Geste wieder richtete.
So ging das schon die ganze Zeit. Er berührte mich, zog Stoff und Felle auf mir zurecht, strich mir Haare aus dem Gesicht, bestand darauf, meine Taille zu umschließen und mich von meinem Sitz zu heben. Lore erfand tausende Gründe mich zu berühren.
Kein gutes Zeichen, besonders weil mein Magen begann zu kribbeln immer, wenn seine Haut die meine auch nur streifte. Vielleicht hatte ich es genau deswegen zugelassen, dass diese kalte Brise mir fast mein Kapuze vom Haar gewehrt hatte.
Einen Moment begegnete mein Blick den seinen und ich wusste, dass er es wusste. Er benutzte Ausreden, um mich zu berühren und ich gab ihm welche, weil wir beide mit den Gedanken noch an der letzten Nacht hingen. Es war seltsam. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals so sehr zu jemanden hingezogen gefühlt zu haben. Um so mehr ich darüber nachdachte, umso mehr wollte ich Lore. Meine Mutter hatte immer betont, dass die Natur keine Fehler machte und wenn das Schicksal bestimmt hatte, dass ich zu Lore gehörte, dann sollte ich trotzdem darauf vertrauen, oder nicht?
Konnte ich das? Obwohl er mich nur benutzte? Mich als Köder verwendete?
Lores Fingerspitzen strichen über meine Wange und ich erschauderte kurz, als sich ein Mann neben meinem Pferd räusperte, um die Aufmerksamkeit seines Alphas zu erlangen. Mittlerweile konnte ich die Wechselhäuter gut von den menschlichen Soldaten unterscheiden. Sie waren größer, breiter, ihre Gesichtszüge schärfer und sie bewegten sich anders als der Rest. Ganz subtil, aber es war da. Schnellere Reflexe, die ungewöhnlich leichte Gangart für Männer mit einem solchen Gewicht.
"Wir sind da. Mel entlässt gerade die Menschen aus unseren Reihen, einige werden nicht freiwillig gehen", erklärte dieser unaufgefordert. Lore, der seinen Blick nicht von mir genommen hatte, nahm mir vorsichtig die Zügel aus der Hand und übergab sie dem Mann.
"Wir machen es wie immer: gebt ihnen die Tiere, damit es ihnen leichter fällt."
Das war alles, was Lore dazu sagte, bevor er die Rucksäcke und andere Gepäckstücke von dem Pferd abschnallte und sie sich mit einer Leichtigkeit unter den Arm klemmte, dass es mich neidisch machte. Ich hatte schon vor weile aufgegeben, meinen Lederbeutel selbst tragen zu wollen.
Als der Wolf sich von uns, mit dem Pferd abwandte, entschlüpfte es mir dann aber doch:
"Glaubst du, sie gehen, wenn man sie besticht?" Ich verstand die Geste mit dem Pferd nicht wirklich. Ich wusste, dass die Menschen hier bleiben mussten, der Schar von Wolfswechselhäuter nicht weiter folgen konnten, aber warum ihnen die Pferde geben?
Lore beugte sich zu Grim und zog dem Drachentier eine Schnur aus dem Maul, mit dem die Felle für die Nacht verschnürt gewesen waren. Grim liebte es, Dinge, die sein Herr zusammengeräumt hatte, wieder auseinanderzuziehen. Jede Ecke, die er mit seinen spitzen Fängen erreichte, war quasi Freiwild. Ein Verhalten, das Lore gar nicht erst versuchte zu unterbinden.
Wahrscheinlich hatte er das ebenso aufgegeben, wie das mit den Schaben und Insekten die Grim so offensichtlich nicht vertrug.
Ich hatte in den letzten Tagen ab und an selbst versucht, Erziehungsarbeit bei dem Drachentier zu leisten, aber Grim war stur und hörte auf niemanden.
"Diejenigen, die uns bis hierher gefolgt sind, glauben keine Perspektive zu haben. Man muss sie zu einer Entscheidung zwingen. Wenn wir ihnen die Pferde geben, dann wird es leichter für sie. Wir können mit ihnen sowieso nicht viel anfangen, sie sind nicht wirklich an Wechselhäuter gewöhnt und könnten jederzeit durchgehen."
"Also gehören euch die Pferde nicht?"
"Wir haben sie von den Gefallenen oder sie blieben in den vernichteten Dörfern zurück."
Ich brachte nur ein bedauerndes "Oh" von mir. Es musste schrecklich sein, herumzuirren. Ohne Zuhause und ohne Hoffnung. Auch Tiere konnten trauern.
Ich warf dem Pferd, dass mich die letzten Tage so stolz getragen hatte, einen mitleidigen Blick hinterher und hoffte, dass es ihm bei seinen neuen Herren gut ergehen würde. Lore folgte meinen Blick.
"Du bekommst ein Pferd, wenn du eines willst, aber sie müssen von Anfang an Wölfe gewöhnt sein, sonst sind sie eher eine Gefahr als eine Hilfe. Ich werde Anguis sagen, dass das nächste Fohlen dir gehört."
Was?
"Nein Moment. Das ist nicht nötig, ich möchte nicht..."
"Du bist langsam und unser Dorf ist weitläufig, es wird eh notwendig sein, dass du eines bekommst" Ich wollte erneut widersprechen aber da stampfte Lore bereits weiter durch den Schnee und ich hatte zusehends damit zu tun, ihm zu folgen.
Die Kälte war beißend und die Wälder wurden immer lichter, während Lore das Ende erreichte und ich vor Erstaunen einfach stehen blieb.
Keine Lichtung.
Es war ein Graben.
Der Graben. Die Narbe dieses Kontinentes, der ihn zweigeteilte. Ich hatte davon gehört, Kohlezeichnungen davon gesehen, aber jetzt vor ihm zu stehen und die Ausmaße mit den eigenen Sinnen zu erfassen, war ein gewaltiger Unterschied. Ich starrte, starrte und starrte, versuchte das Ende, die andere Seite, auszumachen aber durch den kräftigen Schneefall und den grauen Nebel in der Ferne, war das Reich der Hexenkönigin nicht auszumachen.
Doch etwas entdeckte ich nicht. Ein weitläufiges Dorf der Wolf-Wechselhäuter. Lediglich der gigantische, steinerne Arm zu meiner linken.
Er ragte aus dem Abgrund des Grabens hinaus, wie ein gigantischer versteinerter Gefangener. Dazu verdammt auf ewig die Ketten zu halten und gespannt zu halten, dessen Glieder größer waren als jeder Mensch. Einer der zwei Brücken über den Abgrund. Einer der Zwillinge. Alt, verwittert und schon so lange auf diesen Kontinent, das niemand wusste, wer oder wie man diese architektonische Meisterleistung vollbracht hatte.
Ich war sprachlos.
"Wer..." begann ich aber ich konnte den Satz nicht zu Ende bringen. So unmöglich war es. Aber ich sah es vor mir. Architektur die kein Mensch, kein Wechselhäuter je zustande bringen könnte, eine Architektur die zu gigantisch war um...
"Willkommen am Abgrund und den letzten Überresten der Kultur der Riesen", erklärte mir Lore und strich mir ein weiteres Mal einen meiner entschlüpfen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Riesen.
Es hatte sie also wirklich gegeben. Keine Legenden, keine Mythen. Sie waren da gewesen und hatten das hier hinterlassen.
Die Zwillinge.
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bitte entschudligt den späten abload. ich hab heute den ganzen Tag Goodie-Bags für die weihnachtsaktion bei Patreon verpackt ^^
und heute kam dann auch die charakterkarte zu "Der zweite Weg".
ich hab mich so gefreut.
Die hier kam in gedruckter version ^^
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