12

Maxime

Ein greller Schrei weckt mich aus meinem tiefen Schlaf. Mit aufgerissenen Augen erhebe ich mich, starre in die leere meines Zimmers, während der Schrei weiterhin in meinem Kopf sitzt. Ein heller, schmerzhafter Schrei. Als würde dieser Jemand gefoltert werden.
So wie ich gestern, wenn nicht sogar schlimmer.

Ein Wimmern ist zu hören.
Sofort springe ich auf, ziehe den Vorhang meines Fensters zur Seite und erblicke tatsächlich zwei, fast gleichgroße, Menschen in der morgendlichen Dämmerung. Meine Augen bilden sich zu Schlitzen, sodass ich die zwei Personen besser erkennen kann. Und tatsächlich dreht sich der Junge kurz in Richtung meines Fensters, sodass ich das Gesicht von Miles erblicke. Erschrocken, als er mich durchdringend anstarrt, als hätte ich etwas gesehen, was ich nicht sehen sollte, zucke ich zurück, bevor ich ebenfalls das Gesicht des Mädchens erkennen kann.

Dunkle Haare, fast schwarz. Sie trägt eine schwarze Skinnyjeans und ein blauer Hoodie verdeckt ihren Oberkörper. Ihr Blick ist flehend ins Nirgendwo gerichtet, als suche sie Hilfe. Mein Kiefer spannt sich gefährlich an, als er sie mit sich in das Gebäude neben meinem zerrt. Haus sechs.

Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. Sie war unglücklich, hat geweint, oder gebettelt. Er hat sie mit genommen.
Er hat sie mitgenommen. Er hat sie mitgenommen. Er hat sie mitgenommen. Was macht er mit ihr?
Die Müdigkeit die ich kurz vorher verspürt habe, ist wie weggefegt.

Ohne länger zu warten, laufe ich durch mein Zimmer, greife nach meinen Schuhen und ziehe diese über meine nackten Füße. Meine Jacke, genau wie einen Pullover vergesse ich, durch die Angst, dem Mädchen passiert etwas. Mit zitternden Händen und schweren Atem, schließe ich die Tür auf, die Raven gestern Abend das letze mal berührt hat. Leise sprinte ich durch die leeren Flure, laufe durch die Tür von Haus sieben nach draußen, wo ich weiterhin durch die Kälte laufe. Die Gänsehaut die sich auf meinen Körper breit macht ist nichts im Gegensatz zu dem unguten Gefühl in mir, das meine Beine zum zittern bringt.

Nichts. Ich höre nichts, außer die ersten Vögel die leise vor sich her zwitschern und sehe nichts, außer Haus sechs und den zarten Nebel, der sich auf dem Gelände legt.
An der Tür endlich angekommen, drücke ich sie auf und lasse sie leise hinter mir ins Schloss fallen. Mein Herzschlag, welchen ich nun durch meine Brust hören kann, bringt mich dazu schwer zu schlucken und durch den dunklen Flur zu laufen.
Das erste Stockwerk scheint wie leer gefegt.
Ich gehe ins zweite. Hier scheinen ebenfalls noch alle am schlafen zu sein, doch das leise murmeln durch eine der Türen lässt mich still stehen.

Mit kleinen Schritten näher ich mir der Holztür, aus der die Stimmen kommen. Sie scheint nicht abgeschlossen zu sein, denn das Schloss wurde nicht umgedreht.

Ein Schluchzer. Ein Zischen. Ein Weinen. Das Weinen des Mädchens.
Ohne meinen Impuls kontrollieren zu können, drehe ich den Türknauf und öffne die Tür. Ich habe sie geöffnet. Einfach so. Es könnte sein, dass ich Miles gerade dabei störe mit einem der Mädchen an diesem Krampus zu schlafen. Es könnte aber auch etwas anderes sein. Etwas schlimmeres.

Mit zitternden Körper stehe ich nun im der Tür.
Wie das wohl aussehen mag. Ein Mädchen welches noch nie in diesem Haus war, öffnet die Tür zu einem fremden Zimmer früh am Morgen in Jogginghose, T-Shirt, mit verschlafenen Augen und nicht dazu passenden Schuhen.

Mein Blick landet direkt auf Miles. Er schaut nun zu mir und nicht mehr auf das Mädchen, welche mit entwichenem Gesichtsausdruck unter ihm liegt. Mit ungleichmäßig hebender Brust schaue ich zu der jungen Frau. Langsam wagt sie es zu mir zu blicken. Ihre Augen sind gerötet, ihre Lippen zusammen gepresst und ihre Fingernägel sind an Miles' Arme geklammert.

Nun schleicht sich ein leichtes Grinsen auf Miles Lippen, während er sich langsam erhebt und sich mit seiner Hand durch die Haare fährt. Mein Blick verdunkelt sich. Meine Augen ziehen sich enger zusammen. Meine Wut brennt in mir.

„Natürlich musst du stören, Nuevo", seufzend schüttelt er seinen Kopf, schaut ein letztes Mal auf das Mädchen hinab, welche sich nun auf ihre Unterarme geschützt hat. Doch anders als erwartet, fasst er ihr grob an den Kiefer, sodass sie ein gepressten Schrei von sich gibt.
Bereit etwas zu tun, mache ich einen Schritt auf sie zu, doch Miles streckt mir die Hand warnend entgegen, bevor er sich wieder der Schwarzhaarigen widmet.

Stärker presst er seine Hand nun um den Kiefer. „Du kannst froh sein, dass uns jemand gestört hat, hast du verstanden?!" Ein schnelles Nicken des Mädchens und er lässt sie auf das Bett fallen. Das Fragezeichen, welches zuvor in meinem Kopf gewütet hat, wird nur noch größer, als er sich der dunklen Ecke des Raumes zuwendet.

„Ich hab dir gesagt sie wird uns nur Ärger bringen!" Ein Lachen aus seinem Mund und er zeigt verächtlich auf mich. „Du wolltest ja nicht auf mich hören." Und als Miles diese Worte ausgesprochen hat, erhebt sich nun eine weitere männliche Person, welche soeben noch in der verdunkelten Ecke gelehnt hat. Raven.

Ein verwirrtes Keuchen kommt aus meiner Kehle, bevor ich nach hinten taumle. Sein Blick liegt starr auf mir, als wären wir Fremde. Als wären wir Feinde, spannt er seinen Kiefer an. Als hätte er mich gestern nicht gerettet, oder geküsst, steht er nun dort neben Miles. Neben dem ängstlichen Mädchen.
Das Mädchen. Raven. Er hätte ihr nichts getan, oder?

„Was-", versuche ich hervor zu bringen, doch der schwere Klos, der sich nun in meinem Hals bildet, hindert mich daran meine Gedanken auszusprechen. Aber es ist nicht Raven der redet. Nein, es ist Miles. Als hätte er Angst zu sprechen.

„Weißt du wer das ist?", fragt er an mich gerichtet und zeigt auf das Mädchen. Immer noch ängstlich starrt sie mich an. Als hätte ich etwas damit zu tun.
Doch ich kenne sie nicht. Vielleicht habe ich sie ein Mal oder so auf dem Campus gesehen, doch geredet habe ich noch nie mit ihr. Ich bezweifle, dass sie mir überhaupt schon mal eines Blickes gewürdigt hat.

„Sie ist schuld an dem, was dir gestern passiert ist." Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus, als Miles diese Worte ausspricht.
Sie ist schuld. Sie ist Schuld. Sie ist schuld.
Ein Schluchzer dringt aus ihrer Kehle, ehe sie sich ihren Mund mit ihrer Hand zuhält. Sie hat Angst. So unendliche Angst. So wie ich gestern.

„Woher willst du, oder ihr, das wissen!", frage ich irritiert und merke, wie sich meine Stimme unabsichtlich hebt. „Du glaubst uns nicht?" Ein verächtliches Lachen aus Miles Mund. Ich hasse dieses Lachen. Es lässt mich schwach, dumm und hilflos fühlen. „Euch? Der einzige der mit mir redet, bist du", mein Blick schweift zu Raven, doch sein Mund bleibt weiterhin geschlossen.

Ein genervtes Stöhnen, bevor Miles in den Nacken des Mädchen greift und sie vom Bett zwingt. Ihr leises betteln dringt schmerzhaft in mein Ohr, während ich sie dabei beobachte, wie sie aufhört gegen seine Griffe anzukämpfen. „Lass sie los!" „Ich soll sie loslassen?", kommt er mir entgegen, kommt mit dem Mädchen auf mich zu und reißt sie zwischen uns auf die Knie, worauf sie ein schmerzhaftes Wimmern von sich gibt. „Miles", zische ich warnend, „das ist nicht mehr witzig, sie hat Schmerzen!"

Doch er tut so, als hätte er mich nicht gehört. „Sag ihr das, was du mir gesagt hast", verlangt er nun von dem Mädchen, welche sich weinend dagegen sträubt. „Tue es!", brüllt er nun, fasst stärker um ihren Nacken, worauf ich erschrocken zusammen zucke. Wie angewurzelt stehe ich nun vor ihnen. Als hätte ich Angst, er würde auch mich auf die Knie zwingen, wenn ich etwas falsches mache.

Nun kniet er sich seufzend neben das Mädchen, fasst mit der anderen Hand um ihren Kiefer, worauf ihr wimmern zunimmt, genau wie das Zittern in meiner Unterlippe. „Du sagst ihr jetzt, dass du das warst, oder ich brech dir deinen schönen Kiefer. Verstanden?" Ängstlich kneift sie ihre Augen zusammen, versucht Miles Hände an ihrem Körper auszublenden, doch ich halte ihn nicht davon ab.

Ich will wissen, ob sie es war, die sich das ausgedacht hat. Ich will es nur wissen. Dann helfe ich ihr.
„Ich war's!", schreit sie nun, worauf Miles seine Hände fallen lässt und sich wieder auf die Füße stellt. Ungläubig presse ich meine Lippen zu einer geraden Linie. „Ich hab das organisiert", schluchzt sie nun, schaut zu mir hoch, als wäre sie das Opfer.

„Ich wollte dich nur kurz ins Wasser schubsen und dich dann gehen lassen, aber die anderen", sie macht eine Pause, „sie haben nicht mehr auf mich gehört."
Tränen brennen nun in meinen Augen. Wegen ihrer Idee musste ich eine meiner schlimmsten Ereignisse durchleben. „Es tut mir leid." Schwer atmend schaue ich von ihr weg zu Miles, welcher nun neben Raven steht und seine Hände in die Hosentasche gepackt hat.

„Deswegen wolltet ihr sie vergewaltigen?", frage ich ungläubig und mache einen schritt zurück, um so viel Platz wie möglich zwischen den drein und mir zu schaffen. Ein Augenrollen Miles' Seits und tatsächlich erhebt nun Raven seine Stimme. „Wir vergewaltigen niemanden" „Sah aber danach aus!-" „Maxime", nun kommt er mit schnellen Schritten an dem Mädchen, welches immer noch auf dem Boden hockt, vorbei, zu mir. „Wir wollten ihr nur Angst machen." „Na wenn das so ist", lache ich ironisch und trete weiter von ihm weg.
Ich kann ihm nicht in die Augen schauen.

„Wisst ihr was?" Ein letztes Mal drehe ich mich zu ihnen um, sehe Raven's Blick auf mir liegen, während das Mädchen nun wieder zum stehen kommt. „Ihr könnt mich alle mal! Diese scheiß Academy kann mich mal! Demütigt mich soviel ihr wollt! Ihr werdet mich niemals abreisen sehen." Als hätten diese Sätze schon Tage lang darauf gewartet ausgesprochen zu werden, schreie ich sie ihnen entgegen. Und es hilft. Als hätte ich genau das getan, was in dieser Situation das beste gewesen wäre, atme ich tief ein und aus und drehe mich um.
Mit bebender Brust verlasse ich nun den Raum und lasse einen ärgerlichen Raven, einen amüsierten Miles und ein weinendes Mädchen zurück.

„Maxime!" Raven. „Lass mich in Ruhe!", rufe ich, laufe schneller die Treppe hinunter, doch schon spüre ich seine Hand um meinen Arm. Schwer atmend und mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deutet kann, sieht er mir kurz in die Augen, bevor er wieder an mir vorbei, an die kahle Wand schaut. Ich verstehe nicht was er will. Was war das gerade? Was wollten er und Miles damit erreichen? Angst verbreiten?

„Wieso hast du mich geküsst?", kommt es nun über meine Lippen. „Wenn du mir dann nicht einmal mehr vernünftig in die Augen schauen kannst." Meine Stimme wird nun zu einem Hauchen, desto länger er auf meinen Mund starrt und seinen Arm nicht von mir lässt.

Ich will wissen wieso. Ich will wissen ob es ihm überhaupt etwas bedeutet hat. Denn für mich war es etwas, was ich schon immer gebraucht habe. Es hat sich so perfekt und sicher angefühlt. Doch was es für ihn war, werde ich wohl niemals erfahren. Wie ein verschlossenes Buch starrt er mich an. Doch den Schlüssel zu diesem Buch werde ich wohl niemals finden.

„Maxime?" Erschrocken fahre ich herum und treffe auf ein verwirrtes Augenpaar.

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