Geschwister
Tara hatte Luke gesagt, dass sie am Nachmittag mit zwei Brüdern ins Hotel kommen würde, wenn es ihnen gelang, unbemerkt den Bus zu nehmen. Leider war diese Zeitangabe ungenau und keinem der beiden jungen Männer fiel das Warten leicht. Am wenigsten Gabriel. Erst ging er ins Bad, um sich frischzumachen. Immerhin hatte er auf dem ungepflegten Rasen vor seinem Elternhaus gelegen und so musste er Hände und Gesicht waschen, ein wenig Gras aus dem Haar kämmen und noch das T-Shirt wechseln. Irgendwie fühlte er sich besser, wenn er die Zähne putzte, auch wenn er das am Morgen schon getan hatte. Dabei fiel sein Blick immer wieder in den Spiegel. Schließlich betrachtete er sich genauer darin. Gabriel O'Reilly, zweitältester und verstoßener Sohn eines miesen irischen Arschlochs. Die Ähnlichkeit zu seinem Alten hatte ihn erschreckt. Das rote Haar, die hohen Wangenknochen, ja, er war ein O'Reilly, das war nicht zu übersehen. Aber da waren auch deutliche Unterschiede. Weder war sein Blick verhärmt und starr wie der seines Vaters, noch zeigte sich die geringste Spur von Falten um den Mund, die dem Gesicht des Älteren einen brutalen Zug verliehen hatten. Gabriels Blick war warm und klar und seine Lippen waren voller und weicher. Er würde niemals so aussehen wie dieses herzlose Monster. Und er war ein völlig anderer Mensch. Ginger, Tänzer, Überlebender, Kämpfer, Engel mit zwei Vätern und Verlobter des besten Typen von ganz London. So würde er seinen Geschwistern gegenübertreten. Dafür brauchte er nur sein Led Zeppelin T-Shirt ...
Auch Luke hatte sich in der Zwischenzeit ein sauberes Hemd angezogen und auf seinem Handy gecheckt, ob es Neuigkeiten gab. Oscar meldete, dass er unten in der Hotellobby saß und einen Tisch in der Bar organisiert hatte. Dort war tagsüber niemand und sie könnten dort vollkommen ungestört mit den Geschwistern zusammentreffen. Sobald es so weit wäre, würde ihnen jemand vom Service Tee und Gebäck bringen. Der Blonde meldete zurück, dass er die Idee super fand und bald mit Gabriel hinzukommen würde. Sean hatte ein Foto geschickt, auf dem er einen Kussmund und mit den Fingern ein Herz machte. Kit und Roger ließen ihren Sohn wissen, dass sie an den Erfolg der Reise glaubten und versprachen, weiterhin die Daumen zu drücken. Das alles fühlte sich gut an und gab Luke neuen Auftrieb. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn jetzt noch etwas zwischen das Wiedersehen der O'Reilly Geschwister käme.
Als Gabriel aus dem Bad kam, verstärkte sich Lukes positives Gefühl noch. Der Engel sah zuversichtlich aus und hatte den Schock des Vormittags scheinbar weggesteckt.
„Wie geht's dir nun? Du siehst viel besser aus", bemerkte der Blonde und lächelte seinen Liebsten an.
„Danke, ich fange an zu glauben, dass wir hier das Richtige tun, Officer Sherman", gab dieser zurück.
„Sehr schön. Geht mir genauso", freute sich Luke. „Und irgendwann erkläre ich dir mal die Dienstgrade vom Yard", fügte er grinsend hinzu und küsste den Feuerkopf spontan und zärtlich.
„Bin gespannt, ... was du dir davon versprichst, ... Officer", nuschelte dieser in den Kuss hinein.
„Kommt darauf an, ... ob das ein Kink von dir ist ...", neckte Luke weiter.
„Mmmh, ... noch nicht, ... aber es könnte einer werden ..." Wie um seine Worte zu betonen, griff Gabriel nun zum ersten Mal so richtig mit beiden Händen ins blonde Haar, das inzwischen lang genug dafür war. „Das hier ...", raunte er, „gefällt mir übrigens auch sehr gut."
Luke lachte, denn das konnte er sich nur zu gut vorstellen, liebte er Gingers Locken doch auch so sehr. Behutsam beendete er den Kuss und mit einem Blick in die Augen des jeweils anderen war beiden klar, dass sie nun bereit wären, mit Oscar auf Tara und die anderen O'Reillys zu warten.
Als Oscar seine beiden Jungs kommen sah, winkte er ihnen zu und kaum hatten sie sich zu ihm gesetzt, da informierte er sie über seine Beobachtungen. Von einem Fenster aus hatte er auf die Straße geschaut und dort fuhr alle paar Minuten ein Bus vorbei, doch ausgestiegen sei da bisher niemand, der eine Familienähnlichkeit mit dem Engel hätte.
Gabriel fand, es sei ihm egal. „Auch wenn wir hier bis morgen Früh sitzen, ist mir das völlig gleich. Schlimm wäre nur, wenn mein Vater sie erwischt und aufgehalten hat."
„Wenn sie nicht von eurem Haustelefon angerufen hätte, könnten wir sie anrufen, aber so bleibt nur warten", bemerkte Luke und versuchte, sich nicht vorzustellen, was das für das Mädchen bedeuten würde."
„Wenn sie bis zum Abend nicht auftaucht", fand Oscar, „sollten wir die Polizei informieren." Er sah mit ernster Miene zu Ginger, der nickte und verstand.
„Ja, das sollten wir dann ..."
„Der Arzt vorhin meinte, du solltest auch zur Polizei gehen", erinnerte sich Luke und schaute seinen Liebsten fragend an.
„Ich weiß. Aber was, wenn er das an meinen Geschwistern auslässt?"
Oscar nickte nachdenklich. „Das wäre möglich. War dein Dad schon immer so ... gewaltbereit?"
„Schwer zu sagen", überlegte Gabriel laut. „Wir waren es als Kinder gewohnt, dass er der Herr im Haus war und ihm konnte die Hand ausrutschen. Aber seine Reaktion mir gegenüber war damals wie ein Erdbeben. Unerwartet und heftig. Er kannte seine Kinder und es kam vor, dass wir ungehorsam oder frech waren. Das war normal. Ich war mehr als das: ungehorsam und schwul. Das ist wohl ... unverzeihlich."
„Für einen katholischen Iren ganz offenbar", meinte Luke. „Es gibt mittlerweile Studien über die Zusammenhänge von häuslicher Gewalt in Irland als Folge des Bürgerkrieges. Niemand redet darüber offiziell, aber es ist ebenso wenig ein Geheimnis. Selbst bei den englischen Einsatzkräften setzen sich diese Traumata in der nächsten Generation fort."
„Redest du von Statistik der Polizei?", wollte Oscar wissen.
„Wir haben sowas, ja. Und auch die Amerikaner haben Studien über Kriegserlebnisse und deren Spätfolgen."
Gabriel wirkte nicht gerade begeistert und schwieg dazu. Er hatte von diesen Dingen gehört, empfand es aber keineswegs als tröstlich, dass seine Familie in Betrachtung statistischer Beobachtung kein untypischer Fall war. Es bedeutete schließlich nichts Gutes und entschuldigte nicht, was seine Eltern getan hatten oder noch taten. Während er nachdachte, war Oscar wieder zum Fenster getreten und schaute hinaus. Luke tat nichts weiter, außer sich vorzunehmen, dass er seine blonden Haare wieder dunkel färben würde, sobald sie wieder in London waren. Sein Haaransatz war mehr als deutlich. Gleichzeitig kam er sich blöd vor, ausgerechnet jetzt an so eine Nebensächlichkeit zu denken. Also beugte er sich zu Ginger herüber, um ihm etwas viel Wichtigeres ins Ohr zu flüstern.
„Egal was war und egal was kommt, ich liebe dich."
Gerade als der Engel erwidern wollte, regte sich Oscar. „Ha! Schaut her, da steigen ein zwei Mädchen und zwei Jungs aus dem Bus! Das müssen sie sein!"
Sofort war Gabriel bei ihm und starrte auf die Straße, wo der Bus wieder anfuhr. Ja, das waren sie. Eines der Mädchen war etwa sechzehn oder siebzehn mit rotblondem Haar. Sie erkannte er eindeutig als Tara.
„Sie kommen", sagte er nur und spürte, wie seine Stimme etwas nervös zitterte.
Die anderen, die da kamen mussten eine der tanzenden Schwestern und zwei jüngere Brüder sein. Dann konnten es nur Colleen, Ryan und Michael sein. Es fiel dem Tänzer schwer, ruhig zu bleiben, denn er hatte keine Ahnung, was er zu ihnen sagen sollte, jetzt wo sie kamen.
„Keine Sorge, du kriegst das hin", hörte er Luke sagen, als würde dieser seine Gedanken lesen.
„Ich geh sie reinholen", bot Oscar an und war gleich darauf zur Tür hinaus.
Luke und Gabriel sahen zu, wie er auf dem Gehsteig vor dem Hotel auf die vier Geschwister zuging. Sie lächelten etwas scheu, als sie ihn sahen, doch mindestens Tara musste den Typen in Schwarz vom Morgen wiedererkennen, denn sie trat nun vor und reichte sich mit Oscar die Hände. Nur wenige Augenblicke später kamen sie zusammen herein und sogleich kam ihnen der Engel mit schnellen Schritten entgegen. Doch er zögerte, als er sie erreicht hatte, vielleicht aus Unsicherheit, ob es in Ordnung sei, sie nach mehr als sechs Jahren einfach so in die Arme zu schließen, vielleicht, weil er nicht sicher war, wie sie auf ihren verstoßenen Bruder reagieren würden. Doch Tara überbrückte das letzte kleine Stück zu ihm als erste und warf sich ihm regelrecht entgegen.
„Gabriel, du bist es wirklich!", rief sie und begann im selben Moment zu weinen, weil die Anspannung bis zu diesem Punkt so groß gewesen war. Doch sie hatte sich nicht getäuscht. Der Rothaarige hier war ihr großer Bruder. Noch größer als in ihrer Erinnerung und erwachsener, aber sie erkannte ihn sofort.
„Tara, meine Süße", brachte dieser hervor und schloss sie fest in seine Arme. „Ich hab dich vermisst. Euch alle ... Michael? Ryan? Colleen." Er schaute zu den beiden Jungs und dem Mädchen, die nun nickten und ebenfalls zu ihm kamen. Etwas schüchterner als die erste Schwester umarmten sie ihren großen Bruder und ließen sich von ihm drücken. Nun schien es, als wolle er sie gar nicht wieder loslassen und so hielten sich die Geschwister endlich fest und genossen diesen Moment nach viel zu langer Zeit und Ungewissheit.
Luke und Oscar standen dabei und spürten, wie sich die Freude Gabriels und seiner wiedergewonnenen Brüder und Schwestern auch auf sie übertrug.
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