Belfast

Wenn Luke unsicher gewesen war was es mit dem Abstecher nach Leicester auf sich hatte, dann hatte er seine Antwort schließlich erhalten. Oscars Idee hatte ihnen einen unbeschwerten und wirklich schönen Zwischenstopp beschert und Gabriel schien danach viel gelöster und zuversichtlicher. Abgesehen davon, hatten sie auf der Weiterfahrt nach Liverpool ein Thema, über das sie noch eine ganze Weile redeten. Der Blonde bekam die einzelnen Gräueltaten des Shakespeare- Bösewichts nicht mehr alle auf eine Reihe und so las er gemeinsam mit seinem Freund auf dem Handy abwechselnd eine Zusammenfassung vor. Schließlich kamen sie so in Liverpool an.

Am Anleger im Hafen wurde die Stimmung mit einem Mal ernst. Beim Anblick der offenen See und der Fähre schien Gabriel nun zu realisieren, dass sie sich wirklich auf dem Weg in seine Heimat befanden. Er atmete Seeluft, wie damals, als er Belfast auf der Flucht verlassen musste. Wie damals sah er die Möwen kreisen und ihr Geschrei erinnerte ihn daran, dass er sich geschworen hatte, nicht zurückzublicken. Niemals wieder sollte ihn jemand anschreien, anbinden oder anfassen. Nicht ohne Gegenwehr, nicht ungestraft.

„Was hast du", fragte Luke, der neben Ginger auf der Rückbank saß, noch dichter zu ihm heranrückte und seinem Blick folgte.

„Nichts weiter. Nur böse Erinnerungen."

Allein die Vögel kamen in Frage, dort wo der Tänzer hinschaute und der Blonde überlegte, ob er nachfragen sollte, was es damit auf sich hatte, doch stattdessen fasste er ihn sanft am Kinn und drehte ihn zu sich, bis sie sich in die Augen sehen konnten.

„Wenn böse Erinnerungen kommen, dann schau auf mich, Gabriel. Versprichst du mir das?"

Natürlich tat der Engel das. Auch ohne ein Wort zu sagen erkannte Luke es in seinen Augen.

„Gut", flüsterte er und gab ihm einen Kuss ins Haar.

Oscar hatte sich inzwischen in die vorgezeichneten Fahrspuren eingereiht und vorn zur Fähre hin konnte man sehen, dass die ersten Autos hinauffuhren.

„Perfektes Timing", fand der Ex-Bouncer. „Wenn die den Fahrplan einhalten, dann sind wir zum Abendessen in Belfast."

Trotz der Bemühungen Lukes zog Gabriel bei dieser völlig harmlosen Bemerkung den Atem einmal tief und wie erschrocken ein.

Oscar warf den beiden einen alarmierten Blick zu. Er hatte keine Ahnung, was den jungen Mann so triggerte. „Ist alles okay bei euch?"

„Ja, ist okay", antwortete der Engel halbwegs mühelos. „Mir kommt's nur so völlig irreal vor. Als ich von da abgehauen bin, kam es mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich in London war. Und jetzt scheint es nur ein Katzensprung."

„Du hattest keinen Landrover", versuchte der Ältere einen Scherz und tatsächlich grinste Gabriel darüber.

„Das war's wohl. Trampen ist nicht gerade ein einziger Spaß."

In dem Augenblick setzten sich die Fahrzeuge vor ihnen in Bewegung. „Es geht los", bemerkte Luke und nahm die Hand seines Freundes.

Oscar ließ den Wagen an. „Na dann mal los!"

Die Überfahrt selbst war wesentlich problemloser als das Warten auf die Fähre und das Boarding. Nachdem der Landy eingewiesen war, gingen die drei zum Heck des Schiffes, um zu sehen, wie es ablegte und Liverpool hinter sich ließ. Sie machten ein paar Fotos, um sie Sean zu schicken und ein Telefonat mit ihm lenkte Gabriel genügend ab, sodass sich seine angespannte Stimmung deutlich hob. Später, nachdem sie allen Proviant vernichtet hatten, suchten sie sich eine ruhige Sitzecke am Fenster, wo die beiden jungen Männer ein Nickerchen machten, während Oscar sich einen Reiseführer für Belfast kaufte und darin las. Er war zu aufgeregt, um zu dösen und hatte auch nicht so viel Schlaf nachzuholen wie das junge Paar. Irgendwann entschied er allerdings, die zwei zu wecken und mit ihnen einen Film im Bord-Cinema zu schauen. Sie murrten ein wenig, sahen aber ein, dass es besser wäre, jetzt einen James Bond Film zu sehen und dann nachts zu schlafen. Für den letzten Teil der Überfahrt holte Oscar Spielkarten hervor und zeigte den Jungs ein paar Tricks. Luke kannte auch welche, zumindest hatte er Kollegen beim Yard, die ab und zu welche machten. Er selbst bekam aber keinen einzigen hin, was Gabriel nun wieder sehr süß fand.

Schließlich kam Land in Sicht, was die drei daran bemerkten, dass andere Passagiere an Deck oder zu den Fenstern gingen, um zu verfolgen, wie sich die Fähre dem Ziel der Reise näherte. Man konnte spüren, wie das Schiff die Fahrt verlangsamte, als es dem Hafen von Belfast immer näherkam. Gabriel stand nun auch auf und ging zu einem der Fenster, von wo aus er alles sehen konnte. Luke folgte ihm natürlich und schaute nicht weniger gebannt hinaus. Die Stadt rückte immer mehr heran und sah absolut friedlich aus, zumindest für den Blonden, der auch nicht gewusst hätte, woran er irgendwelche Anzeichen für den vergangenen Bürgerkrieg festmachen sollte. Es war der Engel, der dann ein paar Dinge erklärte, als sich auch Oscar zu ihnen gesellte.

„Da oben auf dem Hügel, seht ihr die Masten? Dort soll eine von den Anlagen gewesen, mit denen die Engländer die Iren abgehört haben."

Oscar und Luke folgten mit den Augen der Richtung, die Gabriel wies. Ja, da war etwas zu sehen.

„Und da sieht man schon die riesigen Kräne von Harland und Wolf", fuhr der Tänzer fort. „Sie gehören zur Werft, auf der mein Vater gearbeitet hat. Samson und Goliath werden sie genannt."

Diese beiden Giganten waren wirklich nicht zu übersehen. Riesig, wie es ihre Namen verrieten, ragten die gelben Stahlkonstruktionen mit einem schwarzen H und W in den Himmel. Sie waren zwei der bedeutendsten Wahrzeichen der Stadt, an der man sie unmissverständlich erkennen konnte. Ebenso deutlich sah man, dass das Hafengebiet in den letzten Jahren modernisiert und neu angelegt wurde.

„Das da", Gabriel zeigte auf ein imposantes Gebäude, das aussah, als habe man die riesigen Bugs von vier Schiffen mit einem hohen Gebäude aus Glas verschmolzen, „das muss das neue Titanic- Museum sein. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sehen werde."

„Da hat sich wohl einiges getan, seit du fort bist", bemerkte Luke.

Im nächsten Moment ertönte auch schon die Lautsprecherdurchsage, die alle Passagiere aufforderte, zu ihren Fahrzeugen zu gehen.

„Na kommt, Jungs. Wir sind so gut wie da."

Auf sein Zeichen hin folgten sie Oscar zum Wagen.

Auf der Fahrt in die Stadt zu ihrem Hotel sprachen alle kaum ein Wort. Gabriel war das ganz recht. Er schaute stumm aus dem Fenster und versuchte, sich damit in Einklang zu bringen, dass er morgen auf seine Eltern treffen würde. Oder auch nicht. Vielleicht wohnten sie gar nicht mehr in der Falls Road. Andererseits konnte er sie sich auch nirgendwo anders vorstellen und seine Mum war an dem Abend ans Telefon gegangen, als er den Vater von dem toten Jungen nachhause gebracht hatte. Ja, sie wären noch da. Aber sie würden nicht mit ihm rechnen. Luke und Oscar machten gelegentlich die eine oder andere Bemerkung. Man könne das Titanic Quarter sehen oder das Rathaus sei wirklich riesig, aber der Engel registrierte das nicht.

Im Hotel, das sich gegenüber dem riesigen Rathaus befand, bekamen sie zwei edel eingerichtete Zimmer nebeneinander und gingen bald darauf zum gemeinsamen Abendessen ins Restaurant. Gabriel und Luke staunten nicht schlecht über den Luxus, den sie sicherlich Seans Initiative verdankten. Der Kellner brachte sogar eine extra Weinkarte und zündete eine Kerze am Tisch an. Allen war natürlich bewusst, was sich der Clubbesitzer bei der ganzen Sache vorgestellt hatte: Seinen Babes sollte es an nichts fehlen. Wirklich waren das Essen und der Service ganz hervorragend, aber Luke hatte nicht den Eindruck, dass diese Dinge die Gemütslage seines Liebsten wirklich verbesserten. Er war nach wie vor angespannt, was auch kein Wunder war und so aß er deutlich weniger als die anderen beiden. Sie redeten ein wenig über Belfast, wie es sich verändert hatte und welche Veränderungen der Brexit mit sich bringen könnte. Gabriel fand es auffällig, wie viel Geld inzwischen vor allem in den Hafen gesteckt worden war. Als dann auch der Wein geleert war, zogen sie sich auf ihre Zimmer zurück, aber nicht, ohne dass die beiden jungen Männer noch eine gute Nacht wünschten und Oscar ihnen versicherte, dass morgen schon alles schiefgehen würde. Er zwinkerte den beiden noch zu, bevor er sie verließ.

Als die beiden allein in ihrer Suite waren, ging Gabriel, der eindeutig weinseelig war, zum Fenster und winkte Luke heran. Draußen sah man das mit Scheinwerfern taghell erleuchtete Rathaus und eine der Prachtstraßen der Stadt.

„Sieht schön aus, findest du nicht?", begann der Tänzer mit einer ausholenden Geste auf die Aussicht. „Ganz anders als ..."

„... ja, sieht schön aus", bestätigte Luke und ließ seinen Blick über das Gebäude und die Lichter der Stadt wandern. „Aber das ist mir völlig egal, wenn ich bei dir bin."

Sein Freund schenkte ihm ein Lächeln. „Ja, geht mir auch so. Was schert uns, was die hier aus dieser Stadt gemacht haben. Wir werden nicht bleiben."

„Trotzdem ist es besser, als wenn's hier hässlich wäre."

„Oh, das kommt morgen..."

Mit einem Kopfschütteln wehrte Luke die Worte ab. Er wollte nicht zulassen, dass Gabriel so trübsinnige Gedanken quälten und er hatte sich dagegen auch etwas überlegt, das er jetzt endlich tun wollte. Während der Engel wieder aus dem Fenster schaute, machte sich der Blonde bereit und legte ihm beide Arme von hinten um die Mitte und sein Kinn auf die Schulter.

„Du weißt, ich liebe dich", flüsterte Luke seinem Liebsten ins Ohr. Der reagierte, indem er sich dieser Umarmung hingab und den Kopf für einen liebevollen Kuss zu seinem Freund wandte.

„Ich weiß", hauchte er noch, als sich ihre Lippen fanden. Natürlich blieb es dabei nicht allein. Der Kuss wurde leidenschaftlicher, wie vorauszusehen war und Luke lauerte regelrecht auf den Moment wo ...

„Mmmh", brummte Gabriel überrascht und setzte den Kuss ab.

Der Blonde strahlte über das ganze Gesicht, weil es ihm gelungen war, dem Engel mit dem Kuss etwas zu überreichen, was der jetzt mit der Hand aus dem Mund nahm und irritiert ansah.

„Das ist einer von Oscars Silberringen?", staunte er. Das war an einem noch halbwegs dezenten Totenschädel klar zu erkennen.

Luke schüttelte den Kopf. „Nein, jetzt nicht mehr. Ich hab ihm den für ein symbolisches Pfund abgekauft und jetzt soll es ein Verlobungsring sein." Er lauerte auf die Reaktion.

„Ein ... was?" Gabriels Miene erhellte sich jetzt, als er begriff. „Du ..."

„Ja, ich." Mit diesen Worten drehte Luke den Engel herum und nahm den Ring von ihm in eine Hand, mit der anderen hielt er die von Gabriel. „Ich liebe dich und ich will mit dir zusammen sein. Immer. Lass uns heiraten, sag ja. Wir haben die schlechten Tage hinter uns, jetzt können nur noch gute kommen, also was ist?"

Gabriel hatte nichts mehr so recht mitbekommen nach „sag ja". Er nickte immer wieder, schenkte dem Blonden sein schönstes Lächeln und besann sich endlich auf den Text. „Ja, ja, ja!"


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