Andrew Teil17

Die Nacht war kurz. Viel zu kurz. Luke und Ginger hatten noch ein wenig geküsst und sich aneinander geschmiegt, aber dann hatte sie die Müdigkeit tief und fest einschlafen lassen und Luke war ziemlich sicher, dass zu dem Zeitpunkt die Sonne bereits hinter dem Horizont lauerte. Als er wieder erwachte, musste es bereits Mittag sein, denn sie stand hoch am Himmel und viel durch das Fenster herein und ließ den schlafenden, jungen Mann neben ihm aussehen, als wäre er aus Gold. Die Sonnenstrahlen fingen sich in seinen roten Locken und streichelten ihm über Schultern und Rücken bis hinunter zum Po, wo ihn die Bettdecke notdürftig bedeckte. Luke lag auf der Seite, Ginger zugewandt, hob lächelnd den Kopf und stützte ihn auf seinen Arm. So konnte er die Tätowierung aus der Nähe betrachten. Sie war wirklich sehr gut gemacht, fand Luke, denn mit jedem Atemzug von Ginger, der seinen Körper sanft hob und senkte, erweckte es den Eindruck, als seien die Flügel lebendig, sodass Luke dem Impuls widerstehen musste, darüber zu pusten, um zu sehen, ob sich die Federn bewegten. Gabriel, dachte Luke, das ist sein Name, mit Gabriel liege ich hier. Der nächste Gedanke war weniger schön, denn er hatte mit dem Engel gevögelt, obwohl er mit Blake zusammen war. Wie hatte er sowas tun können? Vielleicht war es bedeutungslos. Das musste es sein. Sie hatten es getan, weil sie zwei junge Typen waren, die auf Männer standen und weil sich die Situation ergeben hatte. Nichts weiter. Was hatte Ginger gesagt? Luke sei kein Heiliger und er wollte ein bisschen was von dem, was Blake gehörte. So hatte Luke sich noch nie gesehen. Ganz sicher gehörte er zu Blake, aber das war doch etwas anderes. Und jetzt gerade fühlte es sich überhaupt nicht so an. Gabriel, dachte Luke wieder, was hatte ihn wohl hierher geführt? Aus Nordirland. Sprach er wohl Gälisch? Gabriel war jedenfalls Hebräisch. Schöner Name, fast so schön, wie sein Träger. Und mit einem Mal schoss ihm etwas in den Kopf, was er bisher nicht bemerkt hatte: die Namen. Die Namen der Opfer: Da war Jamie aus Shoreditch. Das war die Kurzform von James. Ein Peter war dabei, das wusste Luke genau, ein Benjamin, das erste Opfer hieß John. Fuck! Luke warf den Kopf zurück ins Kissen und starrte an die Decke. Das war kein Zufall. Die hatten alle Namen aus der Bibel. Alle vier. Da war kein irischer Rory oder angelsächsischer Eric dabei. Aber was bedeutete das? Wohl immerhin, dass Jungs mit anderen Namen relativ sicher waren. Der Mörder suchte Blonde oder Rothaarige mit Bibel- Namen. Luke atmete einmal tief durch, dann rüttelte er an Gingers Schulter.

„Hey, Ginger, aufwachen!"

Der Angesprochene brummte tief und schüttelte den Kopf.

„Werd' wach, ich muss dir was sagen." Luke rüttelte nochmal. Jetzt hob Ginger den Kopf, drehte sich ihm zu und blinzelte.

„Was is'n los?"

„Mir ist was aufgefallen: Die Jungs, die der Täter aussucht, haben alle Namen aus der Bibel."

„Was?" Ginger runzelte die Stirn.

„Ja, James, Peter, Benjamin und John."

„Oh fuuuck, wie bist du denn jetzt darauf gekommen?" Ginger setzte sich auf und schüttelte den Kopf, wie um ihn klar zu kriegen.

„Zufällig. Ich habe über dich, über deinen Namen nachgedacht. Du bist auch in Gefahr, heißt das."

„Das weiß keiner, wie ich richtig heiße. Ginger klingt mehr wie Porno als wie Bibel."

„Red' keinen Unsinn..." Luke wollte noch mehr sagen, aber in dem Moment meldete sich sein Handy, das irgendwo in seiner Hose, halb unter dem Bett lag. Er beugte sich hinunter und angelte es hervor. Ganz sicher war das Blake oder der Yard. Die warteten auf seinen Bericht und Blake konnte vielleicht hellsehen und wollte ihm die Hölle heiß machen. Das Display zeigte Waterford.

„Hier ist Luke Sherman, guten Morgen..." Luke sah, wie Ginger mit den Augen rollte und er formte für ihn mit den Lippen stumm die Worte „der Yard", während er horchte.

„Hier ist Waterford. Sie sollten sich schnellstens auf den Weg machen, es gibt ein fünftes Opfer."

Luke erstarrte, ebenso Ginger. „Ein fünftes Opfer? Wo?"

Der Superintendant nannte eine Location unweit vom Elysium. Luke hatte Mühe, ruhig zu atmen, dann fragte er nach. „Weiß man den Namen?" Er horchte.

„Ja. Es ist wohl ein blonder Mann, vierundzwanzig, der Name ist Andrew Baker. Aus Southwark."

Luke holte schwer Luft. Andrew. Also hatte er sich mit den Namen nicht geirrt, wenn er das denn gehofft hatte. „Ich komme sofort. Sie haben alle Bibel- Namen, die Opfer."

„Das ist hoch interessant. Kommen Sie und bringen Sie diesen O'Reilly mit. Wir müssen wissen, ob Andrew Baker gestern in dem Club war."

Luke nickte, was am Telefon keinen Sinn machte. „Ja, wir kommen. Ist er tot?"

„Ja leider. Kommen Sie und sehen Sie es sich an." 

Luke beendete das Gespräch und konnte merken, wie das Entsetzen in ihm hochstieg. Er hatte versagt. Obwohl er seit Tagen im Club ermittelte, war ein weiterer Junge tot und vermutlich gequält worden, während er und Ginger...

„Es ist meine Schuld", begann er.

Ginger schaute ihn entgeistert an. „Das ist nicht wahr. Du gibst dein Bestes."

„Tu ich nicht. Ich lass mich ablenken und pass nicht genug auf."

„Was meinst du? Du meinst, weil wir zusammen waren, ist dir der Typ durch die Lappen gegangen?"

„Ja."

„Das macht keinen Sinn. Als wir zwei hier hoch sind, waren unten alle weg und die Tür zu. Wenn der Typ jemanden hier weggeschleppt hat, dann, während unten noch was los war, nicht danach."

Das stimmte. Aber das bedeutete, dass der Mörder sein Opfer klargemacht hatte, ihm dieses verfluchte Zeug in den Drink gekippt hatte, während er und Ginger unten gearbeitet hatten und sie hatten nichts davon gemerkt. Verflucht. Ginger stand nun eilig auf. „Los, verlieren wir keine Zeit." Mit diesen Worten verschwand er im Bad, nur um gleich darauf wieder herauszukommen. Luke kramte in seinem Erker nach etwas zum Anziehen.

„Luke, komm mal her."

„Was ist denn?"

Ginger kam mit einem Handtuch. „Na was wohl. Du hast überall was von dir und mir, du weißt schon."

Oh boy, oh boy! Luke nahm das Handtuch, das Ginger wohl an einem Ende nass gemacht hatte und säuberte sich notdürftig. Dann sprang er in eine Jeans und zog einen Hoodie über. Seine Schuhe lagen noch bei Ginger. Der war inzwischen auch in Jeans und Sweater und hatte seine und Lukes Schuhe gefunden. „Bist du sicher, dass du das sehen willst?", fragte Luke, als sie die Schuhe anzogen.

„Nein, aber das macht wohl nicht den Unterschied."

Luke nickte. "Na, dann komm."


 Der Fundort der Leiche war tatsächlich nur zwanzig Gehminuten entfernt und während die beiden jungen Männer dorthin eilten, schrieb Luke eine Nachricht an Blake. Er wollte sicher gehen, dass der nicht zufällig von dem blonden Toten erfuhr und womöglich dachte, es sei sein Freund. Es gibt ein neues Opfer. Mir geht es gut. Luke. Ginger nutzte sein Elysium- Handy, um Sean zu informieren. Der war natürlich geschockt und bestand darauf, dass Ginger später zu ihm käme, um ihm alles zu erzählen. „Das kann so nicht weitergehen", jammerte er, „Oscar und ich haben schon darüber gesprochen, Babe, wir sollten den Club dicht machen, bis man diesen furchtbaren Menschen gefangen hat..." Ginger fand die Idee verständlich, aber nicht überzeugend. So ein Irrer würde seine Opfer dann woanders suchen, aber nicht aufhören zu tun, was er tat. Sonst schwiegen Luke und Ginger, vielleicht, weil sie versuchten, sich auf das vorzubereiten, was sie sehen würden, wenn sie den Fundort erreicht hatten. Dann sah man es schon von weitem, denn die Polizei war natürlich mit Wagen und Blaulicht angerückt und hatte bereits alles mit gelb-schwarzem Flatterband abgesperrt. „Police line, do not cross", war darauf zu lesen, aber Luke und Ginger gingen natürlich weiter, bis zu einem Abwassergraben, der hinter einem Häuserblock verlief. Dort, unten in dem Graben, am Ausgang eines großen Rohres, das Regenwasser aus den Rinnsteinen transportierte, sahen sie dann die Plane, die man inzwischen über den Toten gelegt hatte. Ein paar Typen von der Spurensicherung waren am Werk, wie auch ein Fotograf und Luke entdeckte Superintendant Waterford mit zwei anderen Sergeants, die sich aufgeregt unterhielten und immer wieder gestikulierten. Auf ein Zeichen von Waterford kamen Luke und Ginger zu ihm. „Da sind Sie ja."

„Ja, da sind wir." Luke war jetzt auf das Schlimmste gefasst und trat an die Plane heran. „Ist er überhaupt zu erkennen?", fragte er.

Ginger zog geschockt die Luft ein. Entweder weil er so etwas noch nie oder weil er so etwas in Nordirland durchaus schon gesehen hatte. Der Körper von Andrew war übersät mit blau-schwarzen Blutergüssen und Striemen, vor allem an den Handgelenken. Sein Fleisch war aufgeplatzt, da wo man ihn mit einem Riemen oder Ähnlichem geschlagen haben musste. Dreck und Blut klebten überall, vor allem da, wo der Täter ihn ganz eindeutig vergewaltigt hatte. Der Kopf war unnatürlich verdreht, was nur möglich war, wenn zuvor das Genick gebrochen wurde und sein Gesicht war fürchterlich zerschnitten. Der Mund war an den Mundwinkeln weit aufgeschlitzt und die Nase fehlte. Ginger drehte sich weg und musste sich übergeben.

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