9| misfortune isn't forever


„Ein Arzt! Ruft einen Arzt!"

„Los, mach schon!"

Von lauten, hektischen Rufen geweckt fuhr Saya in die Höhe und zischte auf, als einige der kaum verheilten Wunden auf ihrem Rücken wieder aufrissen. Mühsam kämpfte das Mädchen sich hoch und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Von draußen schallten weiter viele panische Stimmen zu ihr. Nun wurde auch Saya hektisch und wickelte sich schnell das graue Tuch um den Körper, bevor sie die Schnalle befestigte, die es an Ort und Stelle hielt.

Dann trat sie in den Flur und wurde prompt von jemandem umgerannt. Taumelnd stützte sie sich an der Wand ab, doch die Person, die sie angerempelt hatte, war bereits wieder verschwunden. Überall liefen Menschen herum, die Saya noch nie gesehen hatte. Daher war sie froh, als sie Tayo in der Menge ausmachen konnte. Schnell spurtete sie auf den dunkelhäutigen Jungen zu und erkundigte sich danach, was passiert sei.

„Etwas mit dem Herrn. Ich weiß nicht", antwortete der Sklave, bevor er weiterhastete. Ziellos ging Saya im Haus herum und wich den fremden Menschen so gut es ging aus. Das Mädchen erschrak, als plötzlich ein lauter Gesang einsetzte. Ängstlich blickte sie sich um, denn dieser Gesang war nicht jener, den sie mehrmals am Tag aus der Stadt vernahm.

„Tayo!", rief sie erleichtert, als der Sklave das Aufenthaltszimmer betrat. „Was war das für ein Gesang?" Doch der Junge schüttelte nur den Kopf, bevor er sie anblickte. Saya staunte. Es war das erste Mal, dass sie den Afrikaner lächeln sah. „Es ist vorbei. Der Herr ist tot!"

Sayas Atem stockte. „Ich verstehe nicht...", murmelte sie verwirrt. „Frei, Saya! Ich bin frei!" Langsam hoben sich auch ihre Mundwinkel. Sie wurde erlöst, ihr Peiniger war tot. Sie war frei. Sicherlich würde sie auch irgendwie nach Hause kommen. Plötzlich schöpfte das Mädchen wieder neue Hoffnung und der kleine Hoffnungsfunke, der in ihr geglimmt hatte, wurde zu einer großen Flamme, als sie begann, sich ihre Zukunft auszumalen.

Sie würde wieder zurückkehren und das alles hier verdrängen. Es würde wieder fast so werden, wie vorher. „Ich wünsche dir Glück für deine Zukunft!", sagte Saya zu Tayo, als dieser den Beutel mit seinen wenigen Habseligkeiten anhob. Sie umarmten sich kurz. „Ich wünsche es dir auch. Gib nie auf!" Der ehemalige Sklave winkte ihr zu und verließ das Zimmer. Saya konnte immer noch nicht glauben, dass alles vorbei war.

Ein Glücksgefühl durchströmte sie, etwas, was sie schon ewig nicht mehr gespürt hatte. Sie huschte in ihr ehemaliges Zimmer und faltete das zweite Tuch, das sie besaß, zu einem Beutel. In diesen legte sie all ihre wenigen Besitztümer, bevor sie ihn anhob und sich nach einem letzten Blick in Richtung Tür drehte.

Sie verließ die Eingangstüre und schritt hinaus in die glühende Hitze. Ihre nackten Füße brannten nach kurzer Zeit, der ausgetrocknete Boden fühlte sich an, als würde sie auf heißen Kohlen laufen. Saya biss die Zähne zusammen und versuchte sich darauf zu konzentrieren, wo sie hintrat und nicht auf die Schmerzen. Mittlerweile sollte sie diese eigentlich gewöhnt sein.

„Halt an!" Erschrocken erstarrte das Mädchen auf der Stelle und drehte sich um. „Wo willst du hin?" Die Stimme stammte von einem Mann etwa im Alter ihres Herrn, mit fülligem Leib. Reste seiner letzten Mahlzeit klebten in seinem mit grauen Strähnen durchzogenen Bart, doch entweder bemerkte er es nicht, oder es war ihm egal.

„Ich...mein Herr ist seiner Krankheit erlegen und nun bin ich frei", stammelte sie und erholte sich nur langsam von dem Schreck, den der plötzliche Ruf ihr zugefügt hatte.  „Nummer 271, Saya, richtig?"

Das Mädchen nickte langsam. „Nun, dann bist du nicht frei. Dein neuer Besitzer ist der Neffe deines ehemaligen Herrn, Nael." Wie erstarrt starrte Saya ihn an. Ihre Hoffnung stürzte in sich zusammen wie ein Kartenhaus und der kleine Hoffnungsfunkte, der zuletzt in ihr geglimmt hatte, erlosch nach und nach, als sie dem Mann zu einem Auto folgte, welches sie in ihr neues Zuhause bringen sollte.

Es war protzig. Das Anwesen war zwar nicht besonders modern, doch die Größe und die aufwendigen Verzierungen und der prächtige Garten, der in hunderten verschiedenen, strahlenden Farben auffiel, vermittelten nichts anderes als die Botschaft: Hier wohnt jemand mit Geld. Viel Geld. Wir sind etwas besseres als ihr, kniet vor uns nieder!

Sayas gesunder Instinkt schrie sie an, sofort von hier zu verschwinden. Sie passte nicht in dieses Bild, sie war lediglich ein Straßenkind, aus ihrem Heimatland entführt und hier an den Meistbietenden verschachert worden. Sie war eine bloße Nummer, ein junges Mädchen, das nicht einmal mehr Tränen weinen konnte, keiner der Menschen, die hier herumliefen, Stoffe und Schmuck an ihren Körpern, deren Preis sicher höher gewesen war als jener, den man für sie bezahlt hatte.

Schwer schluckend folgte Saya dem älteren Mann, der ihr die neu gewonnene Freiheit geraubt hatte, in das Gebäude. Falsch, verbesserte sie sich selbst. Es war keine Freiheit, die hatte sie nie besessen. Es war lediglich ein kurzer Augenblick der Hoffnung, ein erleichtertes Aufatmen unter so vielen verzweifelten Schluchzern.

Der kalte Marmor, aus dem der Boden im Inneren des Hauses bestand, war eine Wohltat für ihre verbrannten, geschundenen Füße und das Mädchen konnte nur schwer einen Seufzer unterdrücken. Still folgte sie dem Mann und trat vor ihm in einen Raum, dessen Wände und Boden ebenfalls aus reinem, glattgeschliffenen Marmor bestanden, jedoch war dieser schwarz.

„Zieh ihr was anderes an und mach sie sauber." Die Tür fiel ins Schloss und Saya war mit einer in rote Gewänder gehüllten Frau alleine. Sie führte das Mädchen in eine große Kabine aus Glas, nachdem Saya ihre Kleider abgelegt hatte und als sie einen Schalter betätigte, kam aus der Decke erfrischend kühles Wasser und prasselte auf ihren überhitzten, dreckigen Körper hinab.

Diese Duschen kannte Saya nur aus Erzählungen und deshalb blieb sie stauend unter dem Wasser stehen, bis die Frau sie zu ihrem Leidwesen wieder aus der Kabine herausführte. Dann zeigte sie Saya zwei dunkelgrüne Tücher und erklärte ihr, wie man sie anlegte. Zunächst wurde das größere und aus schwererem Stoff bestehende um die Hüfte gewickelt und mit reich verzierten Broschen festgesteckt. Danach folgte das kleine Tuch, das um ihren Oberkörper geschlungen wurde und lediglich ihre Brüste und die rechte Schulter verdeckte. Auch dieses steckte die Frau ohne ein Wort zu sagen fest.

„Komm, setz dich dort, jetzt kümmern wir uns um deine Haare", wurde sie angewiesen und ließ sich auf einen aus dunklem Holz geschnitzten Hocker nieder. Die in rot gekleidete Frau bürstete ihre Haare aus, bis sie ihr seidig glänzend über die Schultern fielen, dann scheuchte sie Saya aus dem Raum, vor dem der alte Mann gewartet hatte.

Mit einem Kopfnicken bedeutete er ihr, ihm zu folgen und führte sie bis zu einer großen Flügeltür, die er aufstieß. Gepolsterte, prachtvolle Teppiche polsterten den Boden im Inneren des Saals, sie fanden sich auch an den Wänden neben zahlreichen Malereien. Drei Frauen, alle in ähnliche Gewänder gekleidet wie sie räkelten sich auf dem Boden und aßen Obst aus einer Schale.

Die kratzige Stimme des alten Mannes riss Saya aus ihren Betrachtungen: „Dein neuer Herr wird dich bald aufsuchen, halte dich bereit!" Und damit bestätigten sich ihre Befürchtungen.

Ich habe mir über die Weihnachtsferien eine kleine Auszeit vom Schreiben genommen, aber jetzt bin ich zurück mit einem neuen Kapitel^^
Ich hoffe, ihr seid mir nicht böse!

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