6. Kapitel
Leya stand am Bug des Bootes und schaute auf das Land vor ihr, dass nun bald ihre neue Heimat sein sollte. Die Männer saßen an den Rudern und sie bemerkte, dass sie es sehr eilig hatten wieder nach Hause zu kommen. Keiner sprach ein Wort und es war nur das angestrengte Keuchen zu hören. Nur ab und zu schaute einer zum Steg, um zu sehen, ob schon jemand aus seiner Familie auf ihn dort wartete.
Sie seufzte leise und hielt sich an der Reling fest.
Am frühen Morgen hatten sie den Fjord erreicht und nun ruderten sie dem Dorf entgegen. Schon vor einiger Zeit hatte sie den Gong gehört, der ihre Ankunft ankündigte. Erst war es noch sehr ruhig in dem Dorf geblieben, aber nun sah sie die Menschen an den Strand strömen. Sie hoben ihre Arme und winkten den Männern zu, die sich noch mehr ins Zeug legten.
Wie auch in ihrer alten Heimat, waren schon zwei Boote an den Stegen befestigt. Eines davon musste auch erst vor kurzer Zeit angekommen sein, denn Leya sah, wie man es entlud. Sie zitterte leicht, als sie Menschen bemerkte, die man in Ketten aus dem Boot heraus schleifte.
Sie wusste genau, wer diese Menschen waren, denn sie erinnerte sich daran, dass auch ihre Eltern einmal so von einem Boot gezerrt wurden. Nur sie war damals von einem Nordmann in die Arme genommen worden und vom Boot getragen worden. Er hatte mit ihr in seiner Sprache gesprochen. Leya hatte ihn natürlich damals noch nicht verstanden, aber sie hatte ihn mit großen Augen angesehen und auch den Apfel angenommen, den er ihr gereicht hatte. Noch auf seinen Armen hatte sie die Frucht herunter geschlungen, denn auf dem Boot hatten die Sklaven kaum etwas zu essen bekommen. Der Mann hatte nur gelacht, sie am Bauch gekitzelt und sie bei ihrer Mutter abgesetzt, die sie schnell in ihre Arme genommen hatte und den Mann voller Misstrauen und Angst angesehen hatte. Doch Leya hatte den Mann angelacht. Er hatte sie traurig angesehen und etwas vor sich hin gemurmelt.
Ihr Vater war schnell von ihnen getrennt worden und Leya wusste nicht, wohin man ihn gebracht hatte. Auch den Nordmann hatte sie nie wiedergesehen.
Später hatte sie erfahren, dass er ein anderer Jarl gewesen war, der sich mit dem alten Jarl zusammengetan hatte. Er war es auch gewesen, der ihren Vater mit sich genommen hatte. Sie wusste nur einen Namen, den man immer spöttisch ausgesprochen hatte. Sven, der Gutherzige! Damals war er noch sehr jung gewesen, doch Leya hatte später immer wieder von ihm gehört. Aber sie war ihm nicht mehr begegnet.
Wieder atmete sie tief ein.
Jülf hatte ihr damals alle Hoffnungen genommen. Selbst, wenn ihr Vater noch leben würde, glaubte er nicht, dass er noch bei Sven war.
Leya glaubte das auch. Ihr Vater war zwar noch jung als er zum Sklaven wurde, aber nun würde er auch schon über vierzig Winter überlebt haben. Das war unrealistisch, dass er ein so langes Leben als Sklave unbeschadet führen konnte.
Sie kamen immer näher und Leya schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen aus ihrem Kopf zu bekommen. Doch das war leider nicht immer möglich. Sie konnte sich nur an die schlimmen Sachen erinnern und es wurde nach dem Tod ihrer Mutter noch schlimmer. Besonders, nachdem sie „erwählt" worden war, den toten Jarl in das Totenreich zu folgen. Die Flucht mit Jülf hatte sie erst erleichtert, aber diese Angst, dass man sie erkennen und ihren Tribut fordern konnte, war immer allgegenwärtig.
„Anlegen!"
Finnjards Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Das Boot ruckelte kurz, als es den Steg leicht streifte und die Männer Taue an Land warfen, die geschickt von den Männern, die auf dem Steg auf sie warteten, aufgefangen wurden.
Leya setzte sich nun auf eine kleine Kiste, die am Bug stand, damit sie niemandem im Weg war. Die Männer wurden begrüßt und man fing sofort an, die Ware vom Boot zu holen. Leya wurde kaum beachtet, aber das war ihr auch Recht.
Irgendwann kam Sjard auf sie zu.
„Was machst du noch hier, Mädchen? Ich habe erwartet, dass du schon längst im Langhaus bist. Oder in der Schwitzhütte. Doch ich finde dich hier!"
Er grinste, als sie unsicher aufstand.
„Ich wollte niemanden im Weg stehen."
Er verdrehte seine Augen und gab mit der Zunge einen schnalzenden Laut von sich.
„Du bist niemanden im Weg." Er streckte seine Hand aus. „Jetzt komm! Du musst den Jarl begrüßen. Auch wenn es deiner Meinung nach nicht dein Jarl ist, solltest du höflich sein."
Leya atmete tief ein.
„Und wenn er mich nicht akzeptiert?"
Sjard hob eine Augenbraue.
„Warum sollte er das nicht?"
Sie machte eine fließende Handbewegung ihren Körper entlang.
„Ich habe dir schon einmal erklärt, dass ich nicht wie eine Frau aus dem Norden aussehe."
Er lachte lauthals los.
„Das ist richtig! Aber du bist Tjarks Gast. Zumindest hat dich Raik so angekündigt. Tjark und Thorvald sind zusammen aufgewachsen und Freunde. Thorvald wird sich nicht den Zorn von Tjark aufhalsen wollen. Denn das bedeutet, dass er auch Tildas Zorn zu spüren bekommt." Er beugte sich zu ihr und die nächsten Worte flüsterte er. „Thorvald hat eine Menge Respekt und Angst vor meiner Tante."
Leya riss die Augen auf.
Thorvald hatte Angst vor Tilda?
Leya kannte Raiks Mutter nur als gütige Frau, die sich aber auch durchsetzen konnte, wenn es notwendig sein sollte.
Sjard grinste sie nun an.
„Meine Tante hat ihm schon mehr als einmal ihre Meinung gesagt. Thorvald pflegt immer zu sagen, dass er sehr großen Respekt vor den Gunnarsson-Frauen hat. Egal, welche es ist. Aber alle hatten schon einmal ein Streitgespräch mit ihm, dass er immer verloren hat."
Er nahm Leyas Truhe und packte sie sich auf seine Schulter, als ob sie kaum Gewicht hätte.
„Nun komm. Sanne, die Frau des Jarl, will dich endlich sehen. Und du willst dich bestimmt ins Schwitzhaus begeben, um deinen Reiseschmutz loszuwerden!"
Leya seufzte leise.
Das wäre herrlich. In Björgvin hatte sie zwar ein Badehaus aufgesucht, aber das war auch schon lange her.
Sjard half ihr vom Boot und reichte einem Sklaven ihre Truhe.
„Bring sie ins Langhaus. Jarl Thorvald hat der Herrin einen Raum für die Nacht vorbereiten lassen."
Der Sklave starrte Leya mit großen Augen an, besonders da Sjard sie als Herrin betitelte.
Sjard bemerkte das und hob leicht die Hand.
„Unverschämter Kerl! Ich mache dir gleich Beine, wenn du die Herrin weiterhin so anstarrst!"
Der Sklave zog das Genick ein und schleifte die Truhe vom Steg.
Leya senkte den Kopf.
„Das hättest du nicht tun müssen. Ich habe dir gesagt, dass ich nun mal nicht wie eine Herrin aussehe! Ich werde wohl noch einige solcher Blicke ernten."
Sjard zuckte mit den Schultern.
„Dann werde ich eben jedem Kerl Prügel androhen, wenn er so unverschämt sein sollte."
Er ging voran und Leya musste ihm folgen, wenn sie nicht alleine auf dem Steg stehen bleiben wollte. Er führte sie durch das kleine Dorf, das ihrer Heimat nicht ganz unähnlich war.
Sjard grinste, als er ihren verblüfften Blick bemerkte.
„Thorge hat sich sehr an diesem Dorf orientiert. Mehr noch an unserem Gut. Du wirst dich schnell zurechtfinden."
Das tat sie jetzt schon. Sjard hätte sie nicht mehr begleiten müssen. Sie wusste, dass das Schwitzhaus etwas außerhalb stehen würde. Wahrscheinlich an einem Bach oder Fluss, der in den Fjord münden würde. Das Langhaus war etwas größer als das bei Thorge, aber es war dieselbe Bauweise. Die Ställe standen in der Nähe und die Koppeln für das Vieh waren direkt dahinter. Der Dorfplatz bildete den Mittelpunkt und es herrschte dort geschäftiges Treiben. Einige Bauern hatten ihre Karren dort aufgestellt und boten ihre Ware an.
„Ist dein Vater auch hier?", fragte sie Sjard und zeigte auf die Bauern.
Der schüttelte den Kopf.
„Nein! Wir sind eher selten hier, da wir unsere Feldfrüchte und das Getreide für uns selbst benötigen. Mein Vater und mein Onkel sind auch älter und haben die Lust verloren auf dem Pferd zu sitzen, um eine Zwei-Tages-Reise zu unternehmen. Sie bleiben lieber bei sich und wärmen ihre Knochen am Herd."
Gegen ihren Willen musste sie lächeln, als sie an die zwei älteren Gunnarssons dachte, die ihr in guter Erinnerung geblieben waren.
„So alt sind sie doch nicht!"
Sjard grinste.
„Sie sind nicht hier. Du kannst dich erst zu Hause bei ihnen beliebt machen. Aber ich werde meinem Vater davon berichten! Du wirst sehen, dass er sich wie eine Tochter behandeln wird, wenn er das hört. Inder Beziehung ist mein Vater sehr eitel und zehrt sich nach Komplimenten."
Wie sie erwartet hatte, führte er sie zum Schwitzhaus.
„Du hast es nun für dich alleine. Alle sind noch beschäftigt. Sanne hat schon veranlasst, dass Kleidung für dich bereitliegt!"
Leya hob erschrocken eine Hand vor ihren Mund.
„Ich sollte sie und ihren Mann erst begrüßen! Und auch meine Kleidung benutzen."
Sjard lachte.
„Nein! Mach dir keine Sorgen. Sanne ist zwar die Frau des Jarl, aber sie hat ihre eigenen Traditionen eingeführt. Dazu gehört, dass ein Gast sich zuerst den Reiseschmutz abwaschen kann und neue Kleidung von ihr bekommt."
Er beugte sich zu ihr.
„Ich denke, das wird auch Selbstschutz sein. Ich weiß selbst, dass ich stinke!" Leya hob empört ihre Augenbrauen. Sjard hob beide Hände. „Nicht das du stinkst! Das meinte ich nicht damit."
Leya fing an zu lachen.
„Ich weiß selbst, dass ich nicht besonders gut rieche. Und ich will die Nase der Herrin nicht beleidigen und mich gründlich waschen!"
Im Augenwinkel sah sie Raik über den Dorfplatz gehen. Er sah zu ihnen hinüber und nickte kurz.
Sjard grinste.
„Ah, Raik wählt den harten Weg. Er wird im Fluss baden."
Sjard schüttelte sich.
„Ich habe nie verstanden, warum er das macht. Mir reicht die Abkühlung nach dem Schwitzen, doch Raik ist in der Hinsicht ein harter Hund!"
Leya sah dem Mann nachdenklich hinterher.
„Er macht das oft?"
Sjard zuckte mit den Schultern.
„Wenn er alleine sein will. Im Winter macht er es selten, aber ich habe schon gesehen, wie er ein Loch in das Eis eines Beckens schlug und dann hineingestiegen ist. Er meint, das würde ihn abhärten. Keine Ahnung, wie er darauf kommt."
Er öffnete nun die Tür und ließ Leya eintreten.
„Kommst du zurecht?"
Sie stieß ihn lachend an. Mittlerweile hatte sie vor Sjard keine Angst mehr. Er war eher wie ein Bruder für sie, der nur Flausen im Kopf hatte. Und sie wusste, dass er sehr verliebt in seine Frau war. Also stellte er keine Gefahr für sie dar.
„Ich schaffe es schon alleine, Sjard! Keine Sorge! Und nun verschwinde und nimm deine lüsternen Gedanken mit dir mit!"
Er grinste sie an.
„Du nimmst immer das Schlimmste von mir an. Die Frage war völlig harmlos gemeint!"
Sie lachte schallend. Einige Dorfbewohner warfen ihnen neugierige Blicke zu, doch niemand schien sich an ihr zu stören. Das war schon mal ein gutes Zeichen.
„Wahrscheinlich weil deine Worte voll Zweideutigkeiten sind, Sjard Stijnsson. Jetzt hau schon ab. Ich komme ins Langhaus, sobald ich fertig bin!"
Er grinste sie erneut an und stieß seinen Finger in ihre Schulter.
„Du bist genauso ungerecht wie Elsa. Meine Frau behauptet auch andauernd, dass meine Worte zweideutig sind!"
Er winkte ihr zu und verließ sie dann.
Leya ging in den schmalen Vorraum der Schwitzhütte und zog sich aus. Sie schlang ein Tuch um ihren Körper und nahm sich ein weiteres mit, um ihren Körper zu reinigen, bevor sie in den Bereich ging, der jetzt schon dampfte. Jemand hatte wohl schon alles vorbereitet und es roch angenehm nach Kräutern.
Leya setzte sich auf die Bank und schloss die Augen.
Auf einmal hörte sie ein Platschen und danach einen derben Fluch.
Sie lächelte leicht.
Raik war wohl wirklich in den Fluss gestiegen.
Wieder schloss sie die Augen und genoss die wohltuende Wärme.
Bis jetzt war alles angenehm. Hatte sie sich vielleicht umsonst so viele Sorgen gemacht? Vielleicht war es wirklich nur ein Traum, dass sie mit einem Gunnarsson zusammenkommen sollte. Sie sollte sich einfach nicht zu viele Gedanken machen und sich auf die Kinder konzentrieren.
Sie lächelte.
Hoffentlich würden die Kinder sie mögen. In ihrer Heimat hatten die Kinder sie geliebt, aber nun würde es anders sein. Sie würde ein Mutterersatz sein. Das war eine Herausforderung für sie. Bisher hatten die Kinder sie nach ein paar Stunden verlassen, oftmals schon früher. Sie hatten ihre Eltern und brauchten Leya eigentlich nicht. Nun würde es anders werden. Diese Kinder hatten zwar einen Vater, doch der würde oft unterwegs sein. Leya würde sie erziehen müssen und sie hoffte, dass sie es schaffte.
„Sie zweifelt immer noch? Die Kinder werden sie lieben!"
Odin schnaubte, während Freya beinahe liebevoll ihre Finger bewegte um den Dampf zu Leya zu führen.
„Sie weiß es nicht, Allvater! Sie kann nicht in die Zukunft sehen wie du."
Odin schnappte sich einen Krug und trank ihn geräuschvoll aus.
„Das mag richtig sein! Doch die Kinder haben keine Mutter. Sie machen die wenigsten Probleme."
Er sah stolz zu Raik, der nackt aus dem Fluss stieg und sich am gesamten Körper abschlug, um wieder ein Gefühl in seine Muskeln zu bekommen.
„Er wird das größere Problem sein. Er wird sich lange wehren! Auch wenn er sie schon bald begehren wird."
Freya lachte.
„Du wirst doch nun nicht in romantische Stimmung kommen?"
Odin zuckte mit den Schultern.
„Daran bist du nicht ganz unbeteiligt. Ich habe das Gefühl, je länger ich mit dir die beiden anschaue, desto mehr wünsche ich mir, dass die Nornen Unrecht haben."
Wieder bewegte sie ihre Finger und blies ihren Atem in die Hütte.
„Es war nie einfach, Odin. Nur einmal und Sjard wird seine Prüfung auch noch bekommen."
Odin setzte sich kerzengerade hin.
„Du hast mit den Nornen gesprochen?"
Sie seufzte.
„Leider! Ich konnte es nicht mehr aushalten und habe sie gefragt, ob man nicht alles abwenden könnte. Doch die Gunnarsson-Prophezeiung wird eintreten. Auch bei Sjard. Du weißt, was ich meine. Jeder Gunnarsson oder dessen Nachfahre wird eine Prüfung auferlegt bekommen. Dass es Raik härter trifft, steht schon geschrieben. Doch auch Sjard wird leiden."
Odin nickte langsam.
„Manchmal wünsche ich mir, dass wir nie damit angefangen hätten!"
Sie schüttelte leicht den Kopf und sah in die Ferne, wo sich Tjark Gunnarsson gerade von seiner Frau küssen ließ. Und sie sah Stijn Gunnarsson, der liebevoll den Arm um seine Frau legte. Sie sah Lasse Gunnarsson, der vor dem Kamin saß. Seine jüngeren Kinder spielten zu seinen Füßen und er warf seiner Jule einen liebevollen Blick zu. Thorge hielt stolz seinen jüngsten Spross in den Armen und lächelte seine Naya an. Und sie sah Einar, der mit seiner Frau...uhh, das war nun wirklich sehr persönlich und keiner sollte dabei zuschauen.
„Sie sind alle glücklich, Odin."
Er nickte.
„Das ist richtig. Aber nur wir haben diese verdammte Prophezeiung herauf beschwört."
Freya hob eine Hand.
„Es wird gut gehen. Raik hat den Fehler begangen, dass er diese Prophezeiung umgehen wollte. Das nehmen die Nornen sehr ernst. Und Sjard hatte bisher Glück. Wenn sie nicht daran zerbrechen, werden sie stärker werden. Das ist bei allen anderen auch so gewesen."
Wieder sah sie zu jeden einzelnen Gunnarsson.
Und sie lächelte.
Die Gunnarssons. Von den Göttern geliebt. Söhne Odins! Treue Ehemänner und liebende Väter! Starke Krieger!
Bisher hatte sie noch keiner enttäuscht.
Das würde auch so bleiben und die Prophezeiung würde sich zur Legende wenden. Noch in hunderten von Jahren würde man von ihnen erzählen!
„Da ist ja die Frau, die meinem Gefolgsmann helfen will! Ich heiße dich Willkommen!"
Leya fand sich in zwei starken Armen wieder, die sie umfassten und an einen harten Körper drückten. Erst als sie wieder losgelassen wurde, konnte sie den Jarl betrachten.
Wie Sjard es schon angedeutet hatte, war er in Tjarks Alter. Dennoch wirkte er älter als der älteste Gunnarsson. Das hatte bestimmt mit seiner Position als Jarl zu tun, die er schon in jungen Jahren bekommen hatte. In jeder Furche und Falte steckten wohl die Sorgen, die ihn seit Jahren begleiteten.
Er hatte langes Haar, das ordentlich gekämmt war. Sein Bart bedeckte beinahe sein ganzes Gesicht und war schon von weißen Strähnen durchzogen. Dennoch war er groß und stark. Leya konnte sich vorstellen, dass seine Gegner es mit der Angst zu tun bekamen, wenn so ein starker Mann auf sie zu gerannt kam und das Schwert schwang. Doch wenn man seine Augen betrachtete, konnte man Güte und eine gewisse Leichtigkeit erkennen, von der sie schon gehört hatte.
Thorge hatte ihr schon von Thorvald erzählt.
Er war ein strenger Jarl, aber wenn er bei Tjark und Stijn war, vergaß er für einige Zeit seine Sorgen und man konnte meinen, man hätte drei Lausebengel vor sich und keine gestandenen Männer.
Insgeheim freut sie sich schon, wenn sie das einmal erleben durfte.
Sie verneigte sich tief vor ihm.
„Ich grüße euch, Jarl Thorvald und überbringe die besten Wünsche meines Jarl, Thorge Stijnsson!"
Thorvald lachte dröhnend.
„Der Junge ist so ernsthaft, dass ich mir manchmal unfähig vorkomme. Wahrscheinlich hat er auch wieder eine Kiste mit Gold schicken lassen!"
Leya nickte unsicher.
„Er meinte, dass wäre ein Teil seines Tributes, den er dir schulde!"
Thorvald schnalzte verärgert mit der Zunge.
„Seine Frau hat ihn wohl immer noch nicht davon überzeugen können, dass ich damals nur das Gesicht wahren wollte. Nun gut. Ich werde es ihm auf die ein oder andere Weise wieder zukommen lassen!"
Er zwinkerte Leya frech zu und blickte sich dann um.
„Sanne? Wo bist du, Frau?"
Eine große blonde Frau kam auf die beiden zu. Sie lächelte, aber man konnte auch ihre strengen Züge erahnen.
Sofort fiel Leya wieder auf die Knie und senkte ihren Kopf.
„Ich grüße die Herrin und danke für die Kleidung!"
Kaum hatten ihre Knie den Boden berührt, wurde sie schon wieder aufgehoben und umarmt.
„Lass dich anschauen, Mädchen!"
Sanne schnalzte mit der Zunge.
„Ich ziehe Sjard die Ohren lang, wenn ich ihn erwische. Er hat mir gesagt, dass du nur ganz hübsch bist."
Unwillkürlich begann Leya zu zittern.
Würde nun ihre Befürchtungen eintreten? Würde Sanne sie ablehnen?
„Aber schau sie dir an, Mann! Sie ist eine wahre Schönheit und das Kleid ist viel zu grob für sie. Hast du nicht auch das Bedürfnis, sie in Seide zu wickeln?"
Sanne nahm sanft eine Strähne von Leyas Haar, dass mittlerweile wieder etwas gewachsen war.
„Und diese Haare. So sanft."
Sie zwinkerte ihr zu.
„Tjark wird viel zu tun haben, um die Männer von dir fern zu halten!"
Leya spürte, dass ihr Gesicht rot anlief wegen diesem Kompliment.
„Ich werde dem Herrn in dieser Hinsicht keine Arbeit machen. Ich war glücklich verheiratet und halte meinen verstorbenen Mann in Ehren."
Traurigkeit schlich sich in Sannes Augen und sie drückte Leya noch einmal an sich.
„Dein Mann hatte großes Glück!", flüsterte sie.
Thorvald breitete seine Arme aus.
„Schluss mit Traurigkeit! Jetzt wird gefeiert. So wie ich Raik kenne, wird er morgen in aller Frühe aufbrechen wollen."
Er ging zu dem Podest, dass am Ende des Langhauses aufgebaut war. Sanne zog Leya mit sich.
„Du sitzt heute neben mir. Ich möchte, dass du mir vom Eisland erzählst. Und von deinem Jarl. Ich habe den Jungen schon immer gemocht und hoffe, er ist glücklich!"
Leya war es unangenehm, dass sie bei der Familie des Jarl sitzen sollte. Doch niemand schien sich daran zu stören. Sie hatte zwar einige verwunderte Blicke gesehen, doch niemand schien Anstoß an ihr zu nehmen.
Sie sah hinter sich und bemerkte Raik, der sie beobachtete. Er nickte ihr zu, als ob er ihr Mut zusprechen wollte.
Ihre Zweifel fielen von ihr ab.
Sie lächelte ihm zu und folgte dann Sanne.
Das Schwerste war wohl geschafft. Fürs Erste.
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