22. Kapitel

Raik bemerkte, dass Arian den Leichnam seines Bruders anstarrte. Die Frauen und Kinder waren eigentlich schon im Wagen, doch die Männer hatten sich noch einmal vergewissert, dass sie auch wirklich nichts übersehen hatten. Dann war Arian verschwunden und Raik fand ihn bei den Klippen.

Er stand vor seinem Bruder und seine Hand öffnete und schloss sich immer wieder.

„Arian!" Raiks Stimme war leise und ruhig. 

Langsam drehte sich Arian zu Raik. Er war kalkweiß im Gesicht.

Raik hob vorsichtig eine Hand, als ob er den jungen Mann beruhigen wollte.

„Du weißt, dass es notwendig war."

Arian pumpte Luft in seine Lungen.

„Er war nur ein verfluchter Bauer! Du bist ein Krieger!"

Raik hörte den Vorwurf in seiner Stimme.

„Ich weiß es! Ich habe es wirklich versucht, ihn zur Einsicht zu bekommen. Verdammt, so nachsichtig war ich noch bei keinem Mann gewesen, wie ich es bei deinem Bruder war."

Arian kniff die Augen zusammen.

„Er war nur ein Bauer und du bist ein Krieger! Mehr noch! Du bist ein Drachenträger!", wiederholte Arian.

Raik hob wieder die Hand.

„Ich bin auch ein Bauer! Das weißt du genau! Schiebe mir nun nicht die Schuld für die Untaten deines Bruders zu! Ich habe damit nicht angefangen."

Arian sah noch einmal auf den Leichnam, dann stürmte er auf Raik zu. Er hatte kein Schwert in der Hand, aber er drosch mit der Faust blindlings drauf los.

Raik wehrte den Schlag ab und brachte Arian zu Fall. Der rappelte sich wieder auf.

„Hör auf, Arian! Soll ich den Rest deiner Sippe etwa auch nach Walhalla schicken?"

Arian rammte Raik, so dass er zu Boden fiel.

Raik verstand, dass Arian wütend auf ihn war. Er hielt ihn fest, während Arian versuchte, auf ihn ein zu prügeln.

„Er war mein Bruder!"

Ein gezielter Faustschlag und Arian lag auf den Boden.

„Das war nicht mehr dein Bruder! Das war ein Mann, der die Frau meines Vetters für Ingrud hielt! Er war der Meinung, seine Kinder wären die seinen! Ingrud hat ihn über Jahre Gift in sein Ohr geträufelt! Und er kann froh sein, dass ich ihn nicht das Schwert abgenommen habe, bevor er starb!"

Arian schnaubte.

„Das hättest du auch noch gemacht!"

Raik schnaubte.

„Ich bin nicht so ehrlos wie er immer behauptet hat! War er es nicht, der mich mit meinem Weib betrogen hat? Obwohl ich Ingrud nicht liebte, hatte er gewusst, dass sie einem anderen gehörte. Nämlich mir! Doch es interessierte ihn nicht. Hast du nicht selbst erzählt, dass er sich selbst verletzte, nur damit er mit Ingrud den Sommer verbringen konnte?"

Arian setzte sich auf und wischte sich den Dreck aus dem Gesicht.

„Ich hätte ihn zur Vernunft gebracht!", behauptete er fest.

Raik schüttelte den Kopf.

„Nein! Das hättest nicht einmal du geschafft! Kurz vor seinem Tod war er klar bei Verstand. Aber er war so von seiner angeblichen Rache besessen! Er wollte mich töten, weil er den Lügen Ingruds immer noch glaubte."

Arian schloss die Augen.

„Er war ein guter Bruder. Er war pflichtbewusst und loyal zu seiner Familie und seinem Jarl. Bis dieses Weib auftauchte. Erst dann wurde er anders."

Raik nickte.

„Das mag sein. Aber er wäre nie wieder so wie vorher geworden! Und er wäre bis zu seinem Tod eine Bedrohung für meine Familie gewesen."

Arian drehte sich von Raik weg, aber er hatte gesehen, dass der junge Kerl Tränen in den Augen hatte.

Raik stand auf.

„Was willst du nun tun? Willst du dich auch rächen? Oder wirst du dich besinnen?"

Arian wischte sich über das Gesicht.

„Besinnen?"

Raik nickte.

„Ja! Du hast nun einen Hof zu verwalten. So wie ich es verstanden habe, hast du viel Arbeit vor dir!"

Arian senkte den Kopf.

„Nicht nur das. Ich muss meinem Jarl berichten. Und ich muss nur hoffen, dass dein Jarl mich nicht zur Verantwortung zieht."

Raik zuckte mit den Schultern.

„Das wird er nicht, wenn ich es nicht verlange."

Arian sah ihn ernst an.

„Das könntest du aber."

„Warum sollte ich das? Ich habe meine Familie wieder. Ich will die ganze Sache auf sich beruhen lassen. Es ist schon genug Blut geflossen und ich mache dich nicht für die Taten deines Bruders verantwortlich."

Er holte tief Luft.

„Wir begraben deinen Bruder. Das ist das einzige Privileg, dass ich ihm noch zugestehe. Aber ansonsten will ich ihn vergessen. Ihn und Ingrud! Selbst Leya will nichts mehr davon wissen!"

Er reichte Arian die Hand und zog ihn hoch.

„Du wirst selbst einsehen, dass das Vergessen besser ist, als die Rache. In manchen Fällen zumindest."

Arian holte tief Luft.

„Ich werde es wohl nicht so schnell vergessen. Es wird mich lange verfolgen."

Raik zuckte mit den Schultern.

„Wenn es dein Jarl ist, der dich es nicht vergessen lässt, dann suche dir einen anderen! Es gibt viele, die einen jungen Krieger schätzen würden."

Arian sah ihn erschrocken an.

„Einen Neuanfang?"

Raik nickte.

„Warum nicht? Und nun lass uns deinen Bruder begraben. Ich will nach Hause!"



Raik und Sjard wechselten sich ab. Jeweils einer fuhr im Wagen mit, während sie auf dem Weg zu Nils Hof waren. Arian fuhr den Wagen, während zwei immer den Wagen beschützten.

Raik konnte es immer noch nicht fassen, was Miron Leya angetan hatte.

Er hatte sie wieder ausgepeitscht und ihr ins Gesicht geschlagen. Das Eisenband, dass sie um den Hals getragen hatte, hinterließ seine Spuren und es würde lange dauern, bis sie richtig reden konnte. Das Schlucken war für sie immer noch schmerzhaft. Ihr wunderschönes schwarzes Haar hatte er abgeschnitten, doch sie verbarg ihren kahlen Kopf unter einem Tuch.

Doch trotz allem saß sie lächelnd im Wagen, in jedem Arm ein Kind. Immer wieder küsste sie die beiden und fragte, ob es ihnen wirklich gut ging.

Merle hatte ihren Vater gesehen und wenn Raik richtig verstanden hatte, zeigte sie bei seinem Anblick wieder eine Reaktion. Sie hatte geweint und ihm die Arme entgegengestreckt.

Auch Leya hatte sie weinend umarmt, als ob sie die ganze Zeit nicht bei ihr gewesen wäre.

Elsa lag im Wagen. Sie hatte immer noch etwas Fieber, aber seit sie Sjard gesehen hatte, ging es ihr immer besser.

Raik löste gerade seinen Vetter ab, der einen Finger vor den Mund hielt.

„Sie schlafen alle. Ich habe mich kaum getraut zu bewegen, weil Bjarne auf meinem Bauch eingeschlafen ist."

Er grinste.

„Dein Bengel hat mich Da genannt!Ich glaube, er hat mich im Schlaf für dich gehalten!"

Raik schlug ihm lachend auf den Hinterkopf.

„Wenn ich alles glaube, dann aber nicht, dass ein so guter Junge gerade von dir abstammen könnte!"

Sjard zuckte mit den Schultern.

„Ich hätte Ingrud auch nicht angefasst. Elsa hätte mir meinen Schwanz abgeschnitten!"

Raik lachte wieder und kletterte dann leise in den Wagen.

Wie Sjard schon gesagt hatte, schliefen Elsa und die Kinder. Nur Leya saß an der Wand des Wagens gelehnt und lächelte ihn wieder an. Sie hatte Merle auf ihren Schoß, die ihre Tunika in der Faust hielt, als ob sie Leya festhalten wollte.

Das Kleid, das Leya angehabt hatte, war zerrissen gewesen. Deswegen hatte Raik ihr seine Tunika gegeben, die ihr bis zu den Waden ging. Die Kleider, die Miron besorgt hatte, wollte sie nicht anrühren, was Raik auch verstehen konnte. Stattdessen hatte sie die Pelze um ihre Beine geschlungen.

„Willst du dich nicht ausruhen?", fragte Raik leise.

Sie lachte leise.

„Ich habe mich schon ausgeruht, Raik. Es geht mir gut. Wirklich!"

Raik sah das etwas anders.

„Leya, ich habe deinen Körper gesehen. Er hat dich verprügelt und ausgepeitscht. Dir kann es nicht gut gehen."

Sie lehnte sich gegen ihn.

„Doch. Noch besser ginge es mir allerdings, wenn ich wieder in unserer Hütte wäre und meine eigenen Kleider an  hätte."

Sie seufzte.

„Weißt du, es ist so selbstverständlich, was wir haben. Und doch auch wieder nicht. Ich freue mich, wenn ich wieder in der Hütte bin. Ich freue mich, wenn die Kinder herunterkommen und ihr Frühmahl verlangen. Ich vermisse den Schwatz mit deiner Mutter, Liv und Elsa."

Raik küsste sie auf die Stirn.

„Ich hoffe, du vermisst es auch in meinen Armen einzuschlafen. Das vermisse ich nämlich!"

Sie sah zu ihm hoch.

„Aber sicher vermisse ich das." Wieder seufzte sie. „Du hast mein Leben gerettet, Raik. Dafür habe ich dir noch nicht gedankt!"

Er schnalzte mit der Zunge.

„Was wäre ich für ein Mann, wenn ich nicht meine Braut gerettet hätte, mh?"

Ihre Augen wurden ernst.

„Willst du mich immer noch? Als Frau?"

Er runzelte die Stirn.

„Was ist denn das für eine Frage? Glaubst du, ich habe den weiten Weg gemacht, nur, weil ich gerade nichts anderes zu tun hatte?"

Sie grinste ihn an.

„Na ja, da waren ja noch die Kinder!"

Er lachte und küsste sie erneut sanft auf den Mund.

„Stimmt. Aber die hätten mich dem Jarl ausgeliefert, wenn ich ihre Mama nicht zurückgeholt hätte! Und Thorvald hätte mich verbannt!"

Er kramte das Stück Leder hervor und legte Leya den Bernstein um.

Sie keuchte leise und sah den Bernstein lange an.

Raik drückte sie wieder an sich.

„Damit du nicht mehr auf so dämliche Gedanken kommst! Ich will dich zur Frau. Und komm mir nicht damit, dass du einst eine Sklavin warst. Ich habe dich als freie Frau kennengelernt und als Weib von einem Krieger. Und Kinder haben wir schon! Also fällt das auch aus. Du wirst meine Frau und das ist mein letztes Wort!"

Sie lachte und kuschelte sich in seinen Arm, den er um ihre Schulter gelegt hatte.

„Was soll ich darauf noch erwidern?"

Raik schnaubte.

„Nichts!"

Sie hob einen Finger.

„Oh doch! Sag den Männern, sie sollen sich beeilen! Ich will so schnell wie möglich nach Hause!"

Raik lachte.

„Dein Wunsch ist mir Befehl, Herrin!"



Es dauerte noch einige Tage, bis sie sich endgültig auf den Heimweg machen konnten. Tia, Nils' Frau, gab Sjard den Rat, dass Elsa sich noch etwas ausruhen sollte, bevor sie weiter zogen. Elsa gab ihr Recht, auch wenn sie Lönne gerne wiedersehen wollte. Sie war noch zu schwach, um weitere fünf Tage zu reisen. Also blieben sie noch bei Nils. Nur Arian zog weiter, um ihre baldige Ankunft bei Tjark zu melden.

Obwohl er für alles nichts konnte, fühlte er sich schuldig. Auch ein erneutes Gespräch mit Raik und Sjard half ihm nicht. Er würde seinem Jarl alles erklären und erwartete schon, dass die Gunnarssons ihn für die Taten seines Bruders zur Verantwortung ziehen würden. Doch die beiden sahen davon ab, da Arian ihnen geholfen hatte.

So blieben sie also noch eine Woche bei Nils und dann traten sie endlich die Heimreise an.



„Noch ein paar Tage und wir können los segeln."

Bilal atmete erleichtert auf. Die Schmerzen hatten vor ein paar Tagen plötzlich aufgehört. Also war die Gefahr vorbei. Dennoch war er unruhig. Er hatte nun so lange gewartet, um diese Frau zu sehen. Er hatte es zwar im Gefühl, dass es sich wirklich um seine Tochter handeln könnte, doch er wusste es eben nicht genau.

Sven grinste ihn an.

„Was?", fragte Bilal ihn.

Sven sah auf das Boot, dass schon mit Ware beladen war.

„Du willst deine Tochter anscheinend freikaufen?"

Bilal zuckte mit den Schultern.

„Ich bin ihr Vater. Und ich weiß nicht, ob sie eine Sklavin der Drachenträger ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eine freie Frau ist."

Sven hob eine Augenbraue.

„Du bist auch ein freier Mann!"

Bilal schlug ihm hart auf die Schulter.

„Ich hatte Glück, dass ich deinen Arsch retten konnte. Aber sie ist nur eine Frau!"

Sven hob einen Finger und sah sich vorsichtig um.

„Bist du von Sinnen, Mann? Lass das nur nicht meine Frauen hören. Sie werden dir dann zeigen, was Frauen alles zustande bringen!"

Er holte tief Luft.

„Ich habe einiges von dieser Frau gehört. Sie war auf der Eisinsel! Das überleben nicht viele. Schon allein deswegen verdient sie meinen Respekt. Wenn sie eine Sklavin sein sollte, dann werden wir sie abkaufen. Wenn nicht...nun, dass sehen wir dann."

Bilal nickte, aber er wirkte nicht überzeugt.

Sven schlug ihm die Faust leicht ins Gesicht! Es war nicht schmerzhaft, aber es riss Bilal aus den dunklen Gedanken.

„Wenn sie deine Tochter ist, ist sie Leya Bilalsdottir! Willst du etwa sagen, dass sie gar nichts von dir hat?"

Bilal senkte etwas den Kopf.

„Ihre Mutter war so ein zartes Geschöpf. Ich bewunderte schon in jungen Jahren ihre Anmut. Doch auch schon damals hatte ich Furcht, dass ich sie nur durch meine Berührung verletze."

Sven schnaubte.

„Ich weiß nicht, was euer Volk immer an diesen schwachen Weibern findet. Arbeiten die denn nicht?"

Bilal lachte.

Sven hatte das tatsächlich noch nie verstanden.

„Nein, sie webten feinstes Tuch und stickten, aber Arbeit, wie ihr es hier kennt, führten sie nicht aus. Auch meine Tochter sollte es nicht tun."

Sven verzog das Gesicht.

„Was willst du denn dagegen tun? Willst du einen Sklaven einstellen, der ihre Arbeit erledigt? Ich bin mir nicht so sicher, ob ihr das gefallen könnte."

Bilal machte sich darüber keine Sorgen.

Wenn seine mutmaßliche Tochter so zart wie ihre Mutter war, würde er sich um sie kümmern. Er würde sie die ganzen Jahre vergessen lassen, die sie hart arbeiten musste."

Er lächelte leicht, als er an die Stoffe dachte, die er einem Händler abgekauft hatte. Er würde seine Tochter in Seide hüllen und sie dann zurückschicken. In seine alte Heimat. Und sie würde den Platz einnehmen, der ihr zustand.

„Du willst zurück in deine alte Heimat, wenn sie wirklich deine Tochter ist?"

Bilal holte tief Atem. Sven schien seine Gedanken lesen zu können.

„Ich kann nicht mehr zurück. Nie mehr. Aber meine Tochter sollte ihre alte Heimat kennen lernen."

Sven sah ihn ernst an.

„Und wenn sie das nicht will?", fragte er leise.

Bilal machte sich da keine Sorgen.

„Ich bin ihr Vater. Sie wird mir gehorchen!"



Der Kerl ist nicht bei Sinnen! Leya kann nichts mehr mit ihrer alten Heimat anfangen! Sie glaubt nicht einmal mehr an seinen Gott!"

Wieder zerbrach eine Schüssel an der Wand.

Odin lehnte sich zurück und betrachtete Freya, die vor sich hin wütete.

Nun, er denkt wirklich, dass sie noch so ist, wie er es von den Frauen seiner Heimat gewöhnt ist."

Freya schnaubte.

Er ist doch mehr Wikinger als alles andere. Warum verwehrt er ihr dasselbe?"

Odin lächelte leicht.

Er weiß ja nicht, was wir wissen. Er kann nicht ahnen, dass sie ihr Glück bereits gefunden hat."

Freya setzte sich an den Tisch.

War denn alles umsonst?"

Odin zuckte mit den Schultern.

Nicht unbedingt. Auch sie weiß nicht, was wir wissen. Noch nicht."

Sie seufzte leise.

Ich habe es zu spät veranlasst. Wenn sie es jetzt schon wissen würde, dann würde es nicht geschehen!"

Odin zuckte erneut mit den Schultern.

Es liegt nicht nur an ihr. Auch Raik muss sich entscheiden."

Freya schnaubte.

Der Junge ist so unheimlich stur. Er wird verletzt sein und nicht klar denken können!"

Odin lachte laut auf.

Vielleicht. Aber du könntest ihn auch unterschätzen. Wer weiß, was er alles anstellen wird, um Leya bei sich zu behalten. Ich, für meinen Teil, bin sehr neugierig darauf."

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