50 - Nacer

Ich bin bereits seit zwei Tagen hier. Der Cop, welcher mich befragt hat, ist nicht wiedergekommen. Genau genommen, ist niemand hergekommen, außer diejenigen, welche mir mein Essen bringen. Es tut mir weh, dass Sicily ebenfalls zu den Menschen gehört, die nicht da sind. Gleichzeitig kann ich sie auch verstehen. Die Zeitungen prügeln sich vor ihrer Haustür vermutlich um eine Aussage...auch wenn ich nicht weiß, welche Haustür das momentan sein sollte. Sie wird kaum in unserer Wohnung geblieben sein, nachdem dort praktisch nichts überlebt hat. Es ist zwar möglich einfach danit abzuschließen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie freiwillig dortgeblieben wären. Niemand sieht sein Leben gerne in Ruinen und danach schreit unsere Wohnung förmlich.

Ein Schatten wirft sich über mich. Ich hebe mein Gesicht und erblicke durch die Gitter Braedins Statur. Ich stehe auf, auch wenn es ihm vermutlich egal ist. Der Mann, welcher sich über die Jahre zu einem engen Freund von mir entwickelt hat, sieht mich an, als wäre ich ein Fremder. Sein Kiefer arbeitet. Für einige Momente scheint er Schwierigkeiten zu haben, die richtigen Worte zu finden. Einmal mehr kann ich es niemandem verdenken, auch wenn es schmerzt. Es schmerzt so sehr, dass alle glauben, was eine Zeitung druckt. Ich habe nichts von all diesen Dingen getan und mir wird dennoch die Schuld für alles gegeben.

„Wieso hast du das alles getan?", bringt er schließlich hervor. Braedin reibt sich über die Augen und atmet einige Male tief ein und aus. Ich verstehe nicht, wieso er so emotional ist. Wieso er mir nicht einmal eine Chance gibt.

„Ich habe es nicht getan", entgegne ich ruhig. Innerlich blute ich. Aber ich kann nicht weinen. Ich vergieße keine Tränen, wenn sie unverdient sind. Die Wahrheit kann nicht versteckt werden. Sie wird ans Licht kommen, spätestens wenn nicht vorhandene Beweise fällig sind.

„Nacer, das habe ich nicht gefragt."

Ich benetze die Lippen und starre in seine Augen, welche mich unverwandt ansehen.

„Das ist mir klar. Aber ich verstehe nicht, was die Grundlage deiner Anschuldigungen ist. Eine Zeitung?"

Braedin fährt sich durch die Haare. Irgendetwas in ihm leuchtet auf, aber ich kann nicht entscheiden, ob es Wut oder vielleicht doch eher Hoffnung ist.

„Unter anderem. Willst du wissen, wieso? Weil es überzeugend ist. Es hat Argumente, welche stimmen. Fakten, die aufgehen. Ich kann gerne für die Hypothetik darüber hinwegsehen, aber dann habe ich trotzdem noch Fragen, die offen bleiben."

Braedin sieht mich mit einem harten Blick an, der mir versichert, dass er lieber alles andere machen würde. Aber das ist das Ding mit Braedin: Er ist meistens ein korrekter Typ. Er gibt Menschen lieber eine zweite Chance, als dass er später bereuen muss, es nicht getan zu haben. Ich weiß, dass ihm das schwerfällt, aber er lebt lieber mit einem reinen Gewissen. Außerdem ist mir auch klar, dass er gerne den Überblick hat, sonst wäre er gar nicht hier. Das ist möglicherweise meine letzte Chance, jemanden für mich zu gewinnen und von meiner Unschuld zu überzeugen.

„Gut, dann frag mich", fordere ich ihn auf und verschränke die Arme vor der Brust. Er kann so viel fragen, wie er möchte, aber er kann nichts fragen, was mich als einen Schuldigen darstellt, weil ich nicht für die Sabotagen und Unfälle unseres Teams verantwortlich bin.

„Wieso ist Sicily nicht zu Besuch gekommen?"

Braedin sieht so aus, als wäre das die einzige Frage, welche ihn interessiert, als hätte er nur darauf gewartet, sie endlich stellen zu können. Mein Atem bleibt weg und ich sehe ihn überrumpelt an.

„Was hat das mit den Unfällen zu tun?", knurre ich. Sicily und das Team sind zwei verschiedene Universen, das müsste ihm doch bewusst sein.

„Sie ist nicht hier, Nacer. Wieso nicht?", beharrt er allerdings nur auf seiner Frage und sieht mich dabei durchdringend an. Er tut so, als bräuchte er nur diese Antwort, um sich den Fall zu beantworten. Als wäre das der ausschlaggebende Faktor für meine Schuld oder Unschuld.

„Ich habe keine Ahnung", gebe ich zu und reibe über mein Gesicht. Dieser Gedanke hat mich auch lange beschäftigt, aber ich nehme an, dass sie verletzt ist. Unsicher. Dinge über sich selbst im Internet zu lesen, ist keine einfache Nummer. Vor allem, wenn es vorher praktisch nur gute Dinge zu lesen gegeben hat. Es verändert das Vertrauen in die Vertrauenspersonen, wenn vertrauliche Informationen an die Oberfläche kommen. Dabei möchte ich gar nicht damit anfangen, wie zerstört ihre Wohnung nun ist. Das ist kein einfacher Happen, was mir bewusst ist. Dass sie auch an mir und meiner Vertrauenswürdigkeit zweifelt, ist demnach keine Überraschung.

„Bist du sicher? Ist es nicht möglich, dass das nicht in ihrem Interesse liegt, seit sie dich nicht liebt? Das manifestiert eure Abmachung doch, oder etwa nicht?"

Ich schlucke schwer. Es tut weh, dass er Salz in meine Wunden reiben muss.

„Ich befürchte nicht, dass das der Fall ist", gestehe ich nach einigen Momenten.

„Wieso nicht?", hakt Braedin nach.

„Wir haben die Abmachung im Sommer gemacht. Zusammen zu leben, hat viel für uns verändert. Ich liebe sie jetzt. Sie liebt mich auch. Die Umstände sind einfach kompliziert. Die Presse sitzt ihr vermutlich im Hals und sie hat ihr Zuhause verloren. Sie ist vermutlich reichlich damit beschäftigt, ihr Leben wieder unter Kontrolle zu bringen."

Braedin nickt. Er sieht ein wenig verwirrt aus, dann blickt er auf seine Hände. Er möchte vermutlich nicht, dass ich sehe, wie sich die Rädchen in seinem Kopf mir Zugunsten drehen. Aber nur schon der Gedanke, dass er es versteckt, beruhigt mich ein wenig. Ich kann nicht einschätzen, wie seine Theorie genau ausgesehen hat, aber er scheint viel auf dem Gedanken aufgebaut zu haben, dass zwischen Sicily und mir nichts Ernstes läuft.

„Du siehst sie so an. Als ich den Artikel gelesen habe, habe ich für einen kurzen Moment geglaubt, dass du ein verdammt guter Schauspieler bist. Aber du hast sie immer so angesehen, als wäre sie die einzige Frau, die für dich existiert. Du hast ihr mehr Aufmerksamkeit geschenkt als man sich vorstellen kann."

Braedins Lippen verziehen sich kurz zu einem Lächeln, dann wird sein Gesicht wieder ernst.

„Aber das bedeutet nichts, Nacer. Du könntest noch immer Lügen. Ich warte nur noch auf die Beweise. Dann entscheide ich. Dass ich zuvor auf meinen Instinkt vertraut habe, hat uns überhaupt in eine derartig komplizierte Situation manövriert. Ich beabsichtige nicht, wieder etwas in dieser Art zu riskieren. Ich vertraue nicht mehr auf meine Instinkte, sondern nur noch auf Beweise. Aber das bedeutet auch nicht, dass du schon hundertprozentig permanent im Gefängnis bist. Es bedeutet, dass wer auch immer all diese Dinge verrichtet hat, sich darauf gefasst machen kann, hinter Gittern zu landen. Ob das du oder sonst irgendwer gewesen bist, ist mir dabei egal."

Braedin sieht mich so streng an, dass mein Herz für einen kurzen Moment in meinem Hals stecken bleibt. Dann breitet sich Dankbarkeit in meinem Inneren aus, weil er mich noch nicht endgültig verurteilt hat, sondern auf eine feste Basis seiner Zweifel wartet.

„Danke", bringe ich hervor, doch er schüttelt nur den Kopf.

„Dank mir nicht, Nacer, denn die Lage spricht im Moment nicht für dich."


Wie wird sich die Lage wohl auflösen?

[DOPPEL-UPDATE 1/2]

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