48 - Nacer

Ich versuche, zu Sicily durchzudringen. Mit ihr zu reden. Seit zwanzig Sekunden starrt sie mich unverwandt an. Ich trete einen Schritt auf sie zu, sie stolpert dieselbe Distanz zurück. Ich bleibe stehen, während ich realisiere, dass sie mir die Schuld gibt. Ich höre Polizeisirenen, aber nichts davon interessiert mich. Ich erkenne die Zweifel in ihren Augen und sie lähmen mich beinahe. Ich hätte diese Abmachung niemals veröffentlicht. Ich hätte sie niemals an die Medien verkauft oder ein derartiges Chaos angerichtet. Ich hätte ihren persönlichen Raum niemals in diesem Ausmaß verwüstet. Diese Wohnung ist alles, was sie besitzt. Verdammt, sie hat sogar geweint, als sie den demolierten Flügel gesehen hat. Wie kann sie nur glauben, dass das meine Schuld ist?

Nach allem, was wir erlebt haben, finde ich das beleidigend. Mit der Melodie, welche sie für mich gespielt hat, hat sie mich um ihren kleinen Finger gewickelt. Sie hat mein Herz damit erobert. Es hat mich genauso sehr getroffen wie sie, als ich das beschädigte Instrument gesehen habe. Die Tür wird aufgestoßen und Polizisten stürmen herein. Ich habe sie gerufen.

„Sicily, du musst mir glauben, das ist nicht mein Werk", bringe ich hervor. Sie reagiert nicht. Sie sieht mich nur an. In diesem Moment sieht sie so gebrochen aus, so am Boden zerstört, dass es mir selbst den Boden unter den Füssen wegreißt. Wie konnte das alles nur geschehen? Ich kann nicht reagieren, als mich die Polizisten packen und mir Handschellen anlegen. Ich kann nicht reagieren, als sie mich warnen, dass ich mich nicht wehren soll, da sie sonst Notfall-Maßnahmen ergreifen müssen. Ich kann nichts tun, weil sich alles um sie dreht und ich nicht glauben kann, dass sie mir nicht glaubt. Ich kann sie nur ansehen und mit meinen Blicken anflehen, dass sie endlich etwas tut, um mir zu zeigen, dass sie mir glaubt.

Aber sie rührt sich nicht. Sie wendet nicht einmal den Blick ab. Ich werde weggezogen, während sich ein Polizist zu ihr gesellt und mir den Blick auf sie versperrt, um ihr Fragen stellen zu können. Sie lässt alles über sich ergehen. Ich werde aus der Wohnung in ein Polizeiauto geschafft, während sie vermutlich immer noch an demselben Ort in der Wohnung steht und dort hinstarrt, wo ich gestanden bin.

Sie glaubt wirklich, dass das alles meine Schuld ist.

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„Guten Tag, Mr. Veenstra", begrüßt mich ein Officer. Ich entgegne nichts, weil ich nicht einsehe, was an diesem Tag gut sein sollte. Ich bin in eine Zelle gesteckt worden, weil es Menschen gibt, die spekulieren und mir die Schuld zuschieben. Offenbar hat es einen zweiten Artikel gegeben, der sogar noch formuliert hat, dass ich Pasquale sabotiert hätte. Ich kann nicht einschätzen, ob Sicily diesen auch gelesen hat oder nicht, aber ich finde es schon genug schlimm, wenn sie dem ersten Glauben schenkt.

„Sie sind vorläufig hier, bis entschieden wird, was man mit Ihnen macht."

Der Kerl sieht mich gut gelaunt an. Ich habe keine Anwälte hier, fällt mir auf.

„Beinhaltet diese Entscheidung, ob ich ins Gefängnis komme?", frage ich schließlich. Ich darf vielleicht nichts sagen, wenn ich mir selbst helfen möchte, aber ich darf Fragen stellen.

„Sie sind doch bereits im Gefängnis", scherzt der Cop. Er sieht nicht älter aus als ich. Vermutlich hätte ich diesen Kommentar sogar als witzig empfunden, wenn er nicht an mich gerichtet gewesen wäre.

„Für wie lange?"

„Bis handfeste Beweise und Zeugenaussagen für oder gegen Sie sprechen."

Er macht die Sache souverän, das muss man ihm lassen. Zumindest ist er kein Idiot, der sich auf eine falsche Spur bringen lässt.

„Aufgrund von momentan laufenden Untersuchungen kann ich Ihnen aber nicht sagen, wie lange das genau dauern wird. Im besten Fall einen Tag, im schlimmsten Fall eine Woche. Es ist abhängig von der Kooperation, welche wir erleben."

Ich nicke, auch wenn ich innerlich fluche.

„Ich muss aber bald wieder weg von England. Ich bin ein Sportler, kein wandelnder Skandal. Ich habe Rennen zu fahren."

Die Mundwinkel des Polizisten zucken nach oben, was in seinem kantigen Gesicht fehl am Platz wirkt. Er fährt sich durch seine honigblonden Haare und sieht dann auf die Papiere, welche vor ihm auf dem Tisch liegen. Ich hätte mir gerne eins genommen, um einen genaueren Blick zu werfen, aber ich bin in Handschellen an den Tisch gebunden. Es besteht keine Chance, mir ein Papier auslehnen zu können.

„Ich denke nicht, dass das nötig sein wird, wenn man den Gerüchten Glauben schenkt."

„Was sagen die Gerüchte?", will ich skeptisch wissen. Es ist beinahe schon lächerlich, dass ich mich überhaupt danach erkundige.

„Dass Sie gefeuert sind. Von dem her hätten Sie also genug Zeit, um sich vollends diesen Umständen zu widmen."

Er verzieht einen Mundwinkel, schüttelt diesen Gesichtsausdruck aber rasch wieder ab.

„Haben Sie ihren Teamkollegen sabotiert?"

„Nein", sage ich ruhig. Ich nehme an, dass die Befragung gerade erst angefangen hat, auch wenn ich mich schon länger mit ihm unterhalte.

„Aber Ihnen hat der Unfall im Bezug auf den eigenen Erfolg geholfen? Sie sind momentan der Tabellenführer."

Mein Kiefer zuckt. Nicht mehr lange, wenn ich glauben sollte, dass ich keinen Job mehr habe. Dabei stimmt das alles gar nicht.

„Ich bin nicht der Einzige, dessen Platz in der Rangliste sich nach der Sommerpause verändert hat. Luciano Vultaggio ist nun Zweiter, vorher war er Dritter."

Die Mundwinkel des Cops zucken in die Höhe.

„Haben Sie die Wohnung von Sicily Vultaggio verwüstet?"

„Nein", antworte ich. Nur schon diese Frage macht mich wütend. Sie hat keinerlei Grundlage. Niemand fragt Sicily, ob sie es getan hat, weil dieser Gedanke idiotisch wäre. Dabei sind unsere beiden Unterschriften auf dem Papier. Wir beide haben unterzeichnet. Sie hat diesen Text verfasst. Aber ich weiß, dass wir es beide nicht gewesen sind. Es gibt nichts, was wir aus der Veröffentlichung einer privaten Abmachung gewinnen können.

„Sie sind aber in den letzten Tagen in London gewesen?"

„Luciano ebenfalls", entgegne ich in einem ironischen Tonfall. Dann fällt mir allerdings auf, dass das alles gar keine Ironie sein muss. Es würde so viel Sinn machen, wenn Luciano dafür zuständig wäre.

Sein Verhältnis zu Sicily ist praktisch immer katastrophal gewesen. Er hätte ihr direkten Schaden anrichten können. Für den Sinneswandel, welchen er gehabt hat, gibt es eigentlich keine Begründung, außer wenn es alles eine Lüge gewesen ist. Zudem hat er mich auf unsere gespielte Beziehung angesprochen und dann stellt sich schon die Frage, wie viel er denn eigentlich gewusst hat. Er ist einmal mit mir im Krankenhaus gewesen, sonst aber in der Stadt untergetaucht. Er hätte genau genug Zeit gehabt, um den Schaden anzustellen, welcher angerichtet worden ist.

Außerdem sind sowohl Pasquales als auch mein Auto sabotiert worden, was nicht dafürspricht, dass ich es gewesen bin. Es hätte mir nichts genützt, mein eigenes Auto zu zerstören oder irgendwelche Kabel zu zerschneiden. Die Detektive haben zwar gemeint, es wäre jemand aus dem Team, aber eigentlich hätte Luciano auch Leute einschleusen können, dafür hat er nämlich definitiv genug Geld. Verdammt, dieser Kerl hat sogar einen Privatjet. Wenn er sowohl Pasquale als auch mir geschadet hätte, würde ihm das direkt in die Hände spielen. Den Einzelwettkampf hätte er gewonnen, weil ich genauso wie auch Pasquale vermutlich einen Rückschlag erlitten hätte, wenn es tatsächlich zu einem Unfall gekommen wäre. Die Konstrukteure hätten wir dann auch aus der Hand geben müssen und dann hätte Luciano mit seinem Team einen Doppelsieg erleben können. Aber dazu ist es nicht gekommen. Ich habe keinen Unfall gehabt.

„Mr. Veenstra, gibt es etwas, was Sie mir gerne sagen würden?", holt mich der Officer wieder aus meinen Gedanken. Ich nicke langsam, während sich zum ersten Mal seit vielen Stunden wieder ein Lächeln auf meinen Lippen ausbreitet.

„Ich denke, dass ich weiß, wer der eigentliche Schuldige ist", bringe ich hervor. Einmal mehr sollte ich damit eigentlich auf einen Anwalt warten, aber ich verzichte darauf, weil das hier gerade wichtiger ist. Stattdessen gebe ich meinem Gegenüber all meine Gedanken wieder, welche gegen Luciano und für mich sprechen. Denn es gibt momentan nur etwas, was ich weiß: Ich habe nicht getan, was mir unterstellt wird. Und egal wie gerne ich Luciano nach allem vertrauen würde, gibt es im Moment niemanden, dem ich vertrauen sollte.

Hat Nacer da mit seinen Vermutungen wohl recht?

[DOPPEL-UPDATE 1/2]

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