47 - Sicily
Nach zwei Tagen werde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Insgesamt hätte die Rauchvergiftung schlimmer sein können. Ich kann froh sein, dass ich meine Lungen nicht längerfristig beschädigt habe. Die Ärztin hat mir gesagt, dass ich mich deswegen glücklich schätzen kann. Allerdings sollte ich auch darauf achten, den Abgasen des Verkehrs möglichst aus dem Weg zu gehen und stattdessen die Natur erkunden soll. Die frische Luft sollte meinen Lungen guttun.
„Wir könnten ein paar Tage auf irgendeinen Bauernhof ziehen", hat Nacer vorgeschlagen, als wir wieder allein gewesen sind. Zwischen uns fühlt sich alles viel besser an, seit wir uns die Gefühle gestanden haben. Es fühlt sich endlich nicht mehr an, als wäre da eine Barriere zwischen uns, sondern als wären wir auf einer Wellenlänge, als könnten wir gemeinsam bestreiten, was vor uns liegt. Das macht die Probleme zwar nicht weniger schlimm, aber das erzeugte Leid viel erträglicher. Zum ersten Mal fühlt es sich an, als wäre ich nicht allein. Als gäbe es jemanden, der mich auffängt, wenn ich es brauche.
„Meinst du das ernst? Ich habe Angst vor Kühen, Nace."
Er wirft mir einen schockierten Blick zu und bricht dann in Gelächter aus.
„Das meinst du nicht ernst", meint er ein wenig atemlos.
„Natürlich meine ich das ernst. Hast du denn noch nie in deinem Leben Kühe gesehen? Sie sind beängstigend. Genau wie auch Vögel. Echt unangenehme Tiere. Ich habe immer Angst, dass sie mir den Kopf aufpicken."
Ein Grinsen liegt auf seinen Lippen, doch er schüttelt nur leicht den Kopf und konzentriert sich auf die Straße. Nur dafür ist er kurz nach Hause gegangen, sonst ist er die letzten beiden Tage ausschließlich bei mir gewesen. Der Gedanke daran, dass er in einem Krankenhaus gewesen ist und dort Zeit verbracht hat, obwohl er es eigentlich nicht hätte tun müssen, macht mich glücklicher als es sollte. Aber ich schätze, dass das so ist, wenn die Liebe einen erwischt. Es geht alles so schnell wie in einer Achterbahn. Es gibt dabei keine Orientierung oder Vorwarnung, man muss sich einfach darauf einlassen.
„Wieso findest du das überhaupt so witzig?", möchte ich gespielt beleidigt wissen, während ich ihn fragend mustere. Nacer zuckt unschuldig mit den Schultern, auch wenn ich ihm diese Haltung nicht abnehme.
„Nacer...", sage ich warnend, doch er bricht nur wieder in Gelächter aus. Ich lasse mich davon Mitreißen. Es ist so einfach, glücklich zu sein, wenn er so gut gelaunt ist und das auf mich überträgt wie einen Virus.
„Okay, okay, ich werde es dir sagen."
Er klingt nicht so, als könnte er sich zusammenreißen und das schaffen. Dennoch nicke ich und lasse ihm genug Zeit, um sich wieder zu fangen.
„Weißt du noch am Anfang? Als...als wir uns nicht so gut verstanden haben?"
Ich nicke langsam, weil ich mich frage, was er mir jetzt erzählen möchte und ob ich mich davor fürchten sollte oder nicht. Es macht mich jedenfalls skeptisch, wenn Menschen mit Geschichten beginnen, welche schon sehr lange her sind.
„Da habe ich dir innerlich den Spitznamen Vogelscheuche gegeben."
Er bricht wieder in Gelächter aus, während mein Mund aufklappt.
„Das meinst du nicht ernst!", empöre ich mich. Ich hätte mit vielen Spitznamen gerechnet, aber Vogelscheuche passt da definitiv nicht zu meinen Ideen.
„Doch."
„Aber ich sehe doch gar nicht aus wie eine Vogelscheuche, Nace!"
Er zuckt mit den Schultern und wischt sich Lachtränen aus dem Gesicht, ehe er mir ein sanftes Lächeln zuwirft.
„Natürlich nicht. Du siehst immer wunderschön aus. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich auf diesen Namen gekommen bin, aber ich finde es jedenfalls witzig. Vor allem, weil du Angst vor Vögeln hast."
Ich seufze. Ich habe nicht gedacht, dass er mich immer für wunderschön hält. Aber es ist schön, dass es trotzdem so ist. Wir fahren in die Garage und erst da achte ich wieder auf meine Umgebung. Dass es hier nicht mehr natürliches, sondern nur künstliches Licht hat, holt mich ein wenig in die Realität zurück. Die Garage unterhalb des Restaurants sieht genau gleich aus. Vermutlich ist diese auch vom Rauch vergiftet. Vermutlich ist das ganze Silver Dreams vom Rauch vergiftet. Damit möchte ich noch gar nicht mit den Brandschäden beginnen, welche verursacht worden sind. Ich seufze wieder und Nacer legt beruhigend seine Hand auf meine.
„Wir werden eine Lösung finden. Versprochen."
Ich versuche mich zu einem dankbaren Lächeln zu zwingen, aber der unbeschwerte Moment ist schon wieder vorbei. Ich habe mich in den letzten beiden Tagen nicht mit der Realität, sondern mit meiner Gesundheit beschäftigt. Das ist auch gut so, aber irgendwann muss ich damit beginnen, mich den Tatsachen zu stellen. Dass das Silver Dreams in Flammen aufgegangen ist, entspricht einer Tatsache. Dass es als Restaurant unbrauchbar ist, ebenfalls. Kleine Brandschäden sind zu beheben, aber Dinge in derartigem Ausmaß sind fatal. Da gibt es keinen Ausweg. All die Angestellten werden sich eine neue Stelle suchen müssen. Auch diejenigen, welche den Job dort gerade erst angefangen haben.
„Gehen wir mal nach oben? Dann können wir uns dort etwas Gutes überlegen, ja?"
Ich nicke zustimmend und werfe Nacer einen dankbaren Blick zu. Die Stimmung ist offenbar gekippt, aber wir beide scheinen uns damit eher abfinden zu wollen, statt tatsächlich etwas daran zu ändern. Es macht keinen Sinn so zu tun, als wäre alles heile Welt, wenn dem nicht so ist. Ich bin dankbar, dass wir vorher ein wenig Normalität genießen konnten, aber das löst keine Probleme. Noch weniger löst es die schwierige Situation, in welcher ich mich gerade befinde.
Ich passe gar nicht erst auf und überlasse Nacer den Vortritt zur Wohnung. Die Schlüssel hat er. Er öffnet die Tür und bleibt sogleich stehen. Er macht sie wieder zu. Er hält keine Schlüssel in der Hand.
„Nacer, können wir nicht einfach reingehen? Ich habe echt keine Kraft für irgendwelche Kinderspielchen."
Nacer dreht sich zu mir um und sieht mich besorgt an.
„Sicily, das ist kein Kinderspiel. Ich denke nicht, dass wir da reingehen sollten."
Ich rolle nur mit den Augen und drücke mich an ihm vorbei. Die Tür gibt nach und lässt sich problemlos öffnen. Einige Sekunden lang bin ich verwirrt, dann erblicke ich das innere der Wohnung.
„Was ist hier geschehen?", flüstere ich zu mir selbst, als sich mir der Anblick dahinter offenbart. Komplette Verwüstung. Mehr gibt es nicht zu sagen. Unsere Schuhe stehen verteilt im Flur, gemeinsam mit weiteren Dingen, die sich in unseren Zimmern befinden sollten. Die Küchenschränke sind aufgerissen, das Geschirr liegt in Scherben auf dem Boden. Mein Gehirn kann die Details nicht alle aufsaugen, weil es überall nach Zerstörung und Unruhe aussieht. Von dem friedlichen Zuhause, welches das für uns gewesen ist, bleibt nicht mehr viel übrig. Die Wände sind so weit unversehrt. Nacers Zimmertür steht offen wie immer. Sein Boden ist allerdings bedeckt mit Büchern und die wenigen Möbel, die er in seinem Zimmer gehabt hat, sind verwüstet. Zerbrochen und zerscherbet. Mein Herz bricht, als ich die Trophäen erblicke, welche ebenfalls zerstört sind. Nichts hat in diesem Raum überlebt. Gott, sogar sein Kissen ist zerschnitten.
Mein Zimmer sieht nicht besser auf. Ich stoße einen kleinen Aufschrei auf, als ich sehe, wie mein ganzes Leben zu Boden getrampelt worden ist. Am schlimmsten sind dabei nicht die Bücher oder andere Kleinigkeiten, welche ich geliebt habe. Welche dem Erdboden gleichgemacht worden sind.
Mein Herz bricht erst richtig, als ich sehe, was dem wertvollen Flügel angetan worden ist. Ich habe dieses Instrument mehr als alles andere geliebt. Diese Tasten haben mir so viel Trost geboten. Und nun liegen sie neben den Scherben einer Lampe auf meinem Boden, einzeln ausgerissen. Die Saiten sind getrennt. Dieses Instrument ist nicht mehr zu reparieren. Ein Schluchzen entweicht meinen Lippen. Ich lege die Hände über mein Gesicht, weil das hier zu viel ist. Das ist alles gewesen, was ich gehabt habe. Von dem Erbe meiner Großmutter ist praktisch nichts mehr übrig. Das Silver Dreams ist hin, meine Wohnung ist hin und der Flügel ist hin. Alles innerhalb von wenigen Tagen zerstört.
„Sicily", flüstert Nacer sanft und nimmt mir die Hände vom Gesicht. Sein Gesicht ist eine Maske aus Wut und Angst.
„Ich habe gerade mit Luciano telefoniert. Anscheinend sollen wir uns die Zeitungen ansehen."
Ich atme stockend, weil ich nicht glaube, dass ich im Moment noch mehr ertragen kann, aber es muss wichtig sein, wenn Luciano das so formuliert hat. Ich wische mir die Tränen aus den Augen und zwinge mich zur Ruhe, während ich den Schmerz in meiner Brust kaum zurückhalten kann.
„Die Polizei sollte jeden Moment da sein. Ich habe schon angerufen."
Ich nicke dankbar, auch wenn ich mir wünsche, dass das nie nötig gewesen wäre.
Nacer öffnet die Zeitung, welche ihm Luciano verlinkt hat. Es dauert nicht lange, bis ich mir der nächsten Katastrophe bewusstwerde.
Nacer Veenstra und Sicily Vultaggio – ein Traumpärchen? Eine Lüge!
Ich brauche gar nicht zu lesen, was in dem Artikel steht. In Trance sehe ich, wie unser Vertrag, mit welchem wir die Abmachung manifestiert haben, als Bild unter der Schlagzeile eingefügt ist. Nacer reicht mir das Telefon mit zitternden Händen. Ich sehe ihn an, doch er meidet meinen Blick. Ich scrolle weiter und entdecke die nächste Zeile.
Nacer Veenstra: Trägt er die Schuld am massiven Crash seines Teamkollegen?
Ich kann nicht viel aufnehmen, aber ich bekomme die Schlüsselwörter mit. Nacer hat Pasquale sabotiert. Er trägtdie Schuld an dem Unfall. Darunter steht auch, dass er die Information mit uns beiden zur Verfügung gestellt haben sollte. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Das kann nicht wahr sein. Es darf nicht wahr sein. Der Artikel ist vor fünf Minuten veröffentlicht worden. Genau genommen sind beide ungefähr so alt. Ich sehe Nacer an, als könnte ich das Gelesene ungelesen machen. Was nicht möglich ist.Verdammt, das wird niemals möglich sein. Er sieht aus, als wäre ihm schlecht. Wir stehen beide inmitten von einem Scherbenmeer, inmitten der Trümmer meines Lebens. Ich sehe ihn an und plötzlich habe ich das Gefühl den Mann, in welchen ich mich verliebt habe, gar nicht wirklich zu kennen.
Uiiiii das Drama ist hier schnell zurückgekehrt...😬
Was haltet ihr davon? Hat Nacer diese Dinge wirklich gemacht?
Ich hoffe, dass euch die Kapitel gefallen haben und dann lesen wir uns bald wieder 💓
[DOPPEL-UPDATE 2/2]
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