46 - Nacer

Ich reibe mir über das Gesicht und habe Mühe, nicht auf der Rückbank des Taxis einzuschlafen. Ich habe den gefühlt längsten Flug meines Lebens hinter mir. Meine Flugangst und die Nervosität, weil ich nicht weiß, wie es Sicily geht, sind eine unangenehme Mischung gewesen. Das muss für Luciano unerträglich gewesen sein, aber er hat sich mit keinem Wort beklagt, sondern nur dafür gesorgt, dass ich nicht dehydriere und mir Süßigkeiten gegeben, damit mein Kreislauf nicht zusammenbricht.

„Wir sind da", informiert er mich mit einem auffordernden Blick. Er reicht der Taxifahrerin einige Scheine und scheucht mich dann aus dem Wagen. Meine Augen kleben am Krankenhaus und ich überprüfe nochmals, ob wir wirklich am richtigen Ort sind. Telese hat mir eine Adresse getextet und ich habe diese schon zehnmal überprüft, damit wir auf jeden Fall zu dem richtigen Krankenhaus fahren.

„Sie wird okay", holt mich Luciano aus meinen Gedanken, während wir zur Rezeption des Krankenhauses gehen. Telese wartet da schon auf uns und sieht erleichtert, aber auch sehr müde aus, als sie uns entdeckt. Sie hat den Brand auch erlebt.

„Alles okay bei dir?", fragt Luciano sie. Er hat wohl gemerkt, dass ich heute nicht brauchbar für irgendeine Art von Gesprächen bin, und nimmt diese daher selbst in die Hand. Ich könnte ihm dafür nicht dankbarer sein.

„Ja. Ich kann euch zeigen, wo Sicily ist. Die Ärztin hat mir das erlaubt. Sisi ist mittlerweile wieder wach, auch wenn sie sich ausruhen sollte."

Luciano nickt dankbar und ich kopiere seine Haltung. Telese führt unsere kleine Gruppe an und geht einige Schritte vor Luciano und mir.

„Ich meine es ernst, Nacer. Sie wird okay."

Mein Kiefer zuckt ein wenig und ich sehe Sicilys Bruder an. Die Ähnlichkeiten der beiden sind kaum wegzudenken. Seine eisblauen Augen wirken heute viel weicher als sonst. Sie haben beinahe schon eine tröstende Wirkung und ich finde in ihnen eine Ruhe, welche meinen Puls beruhigt.

„Wieso sagst du das?", frage ich leise.

„Weil du dir Sorgen machst. Du hast Angst sie zu verlieren, aber das musst du nicht. Sie wird das schaffen. Sicily ist eine starke Frau."

Ich nicke knapp, auch wenn mein Herz wie Blei in meiner Brust liegt. Es tut weh, dass ich nicht die Macht darüber habe, sie sofort aus diesem Krankenhaus und dieser Stadt zu befreien und an einen Ort zu bringen, wo sie sicher ist. Wo es keine Brände oder sonstige Gefahren gibt. Denn Luciano hat recht: Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal derartige Angst gehabt habe. Mein Inneres zieht sich zusammen, wenn ich daran denke, sie in diesem Krankenhausbett zu sehen. Ich werde sehen, dass es ihr nicht gut geht, und ich werde nichts daran ändern können. Ich kann mich um sie kümmern, aber ich kann den giftigen Rauch nicht aus ihren Lungen treiben oder sie auf irgendeine Art vor der Realität bewahren.

Sie hat ihr Restaurant verloren. Es gibt nicht viel, was man an diesem Fakt ändern könnte und das ist mir allzu schmerzhaft bewusst. Sie wird den Rauch oder zumindest den Gestank des Rauchs nicht aus der Küche befreien können oder den Raum retten können. Sie kann den Ort nicht vor einem Ruin bewahren und das macht mir ebenfalls Angst. Sie hat sich das alles aufgebaut – mit dem Geld, welches sie von ihrer Großmutter geerbt hat.

„Sie sollte nur einen Besucher aufs Mal haben", räuspert sich Telese und setzt sich auf einen der Stühle im Gang. Dabei deutet sie eine Tür, welche ihr Gegenüber mit einer 203 markiert ist. Telese überlässt Luciano und mir den Vortritt, vermutlich war sie schon bei Sicily. Ich wechsle einen Blick mit ihm und er setzt sich neben Telese. Ich denke, dass er Angst hat, Sicily allein gegenüberzustehen. Die beiden haben nicht unbedingt eine Zuckergeschichte und ich vermute, dass er ihr mit einem Besuch nicht zu nahetreten möchte, weshalb er mir den Vortritt lässt. Vielleicht macht er es auch einfach, weil ich ihr Freund bin, aber so genau kann ich das nicht einschätzen.

Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu und öffne dann vorsichtig die Tür, welche zwischen Sicily und mir steht. Ich werde von ihrem Herzschlag begrüßt, welcher sich gesund und kräftig anhört. Erleichterung macht sich in mir breit und ich schließe die Tür hinter mir wieder, damit wir unsere Ruhe haben.

„Hi", sage ich in einem sanften Ton. Ihre Augen, welche mich schon erfasst haben, funkeln leicht.

„Ich träume, nicht wahr?", entgegnet sie. Ein leichtes Lächeln zupft an meinen Mundwinkel. Ihr Herzschlag geht leicht in die Höhe. Wenn ich sie nicht sehe, vergesse ich immer, wie wundervoll sie eigentlich ist. Dabei denke ich ständig an sie. Vermutlich kann mein Hirn nicht nachvollziehen, wie es möglich ist, so atemberaubend zu sein, wie sie es ist.

„Nein." Ich ziehe den Stuhl, welcher im Zimmer steht, näher an ihr Bett heran und setze mich. Ich brauche einige Sekunden, um sie zu mustern. Ihre Haare liegen über ihrem Kopfkissen, ausgebreitet wie ein Fächer. Sie ist bleich im Gesicht, sieht ansonsten aber gut aus. Es fühlt sich falsch an, dass sie hier liegt. Vielleicht, weil ich über ihre Nase hinwegsehe, welche mit einem Sauerstoff-Schlauch verbunden ist. Vielleicht, weil ich nicht wahrhaben möchte, dass es ihr nicht so gut geht wie sonst und dass sie schwerwiegende Folgen von diesem Brand mit sich ziehen könnte. Ich habe Angst um ihr Wohlergehen, weil in Brandgeschichten immer ein immenses Risiko ist. Man kann nie genau einschätzen, was wie geschieht oder welche Folgen der Rauch oder die toxischen Gase, welche unsichtbar sind, haben.

„Du bist nicht hier, Nacer", murmelt sie und unterbricht meine Gedanken. Ich streiche ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und verschränke meine Finger dann mit ihren.

„Doch, ich bin hier, Sicily. Ich werde immer hier sein für dich. Wie hätte ich auch nicht kommen können, nachdem ich gehört habe, was geschehen ist?"

Sie blinzelt verwirrt und ich drücke ihr sanfte Küsse auf ihren Handrücken. Ich denke, dass sie die Nähe braucht. Eine Bestätigung, dass sie mich hat und dass ich hier bin, um mich um sie zu kümmern.

„Aber du bist in Singapur gewesen, Nace. Ich habe dein Qualifying gesehen", sagt sie, als würde das eine Begründung dafür sein, dass ich mich nicht hier befinden und auf sie aufpassen sollte. Dabei gibt es nichts, was ich eher tun würde. Ich hätte das Rennen beinahe aufgegeben, um zu ihr zu fliegen.

„Ich bin gefahren und dann hierhergeflogen."

Ihre Augen bohren sich wie meine. Ihr Herz schlägt nicht schneller, aber mein Puls schießt in die Höhe. Ihr Blick ist so intensiv und so bedeutungsvoll. Ich denke, dass das die Momente sind, welche uns definieren. Wenn wir nichts anderes brauchen als einen Augenblick. Einen Atemzug, welcher mit Liebe gefüllt ist und uns so viel Hoffnung und Licht innerhalb von einer Sekunde schenkt.

„Bist du nicht müde?"

Ich gluckse. Sie liegt im Krankenhaus und versucht dennoch, mich zu belehren. Ihr strenger Blick erwärmt mein Herz, auch wenn ich vermutlich das Letzte bin, worum sie sich im Moment Sorgen machen müsste.

„Doch."

„Wieso bist du dann hier?"

Sie hört sich so an, als könnte sie es sich tatsächlich nicht erklären. Als wäre es nicht offensichtlich. Als könnte man meine Emotionen nicht lesen, wie wenn ich ein offenes Buch wäre. Sogar ihr Bruder hat es kapiert und normalerweise scheint er nicht unbedingt ein Profi zu sein, was die Emotionen von anderen Menschen angeht. Vermutlich, weil er so lange mit mir unterwegs gewesen ist und erkannt hat, dass Emotionen und Erfolg oft nicht gemeinsam funktionieren. Dass wir als Fahrer nichts als Fokus entgegenbringen können. Er hätte heute gewonnen, wenn er nicht davon beeinflusst gewesen wäre, dass es Sicily nicht gut geht. Verdammt, dafür hat er sogar seinen Grand Slam geopfert, was ich echt bemerkenswert finde.

Aber Sicily scheint nichts von all diesen Dingen sehen zu können. Sie sieht mich mit ihren wundervollen, silbrig schimmernden Augen an, als wäre ich ein Rätsel, welches sie nicht lösen kann. Ich würde sie gerne dafür küssen. Obwohl es eigentlich kein guter Grund ist, sie zu küssen. Gott, ich brauche auch keinen spezifischen Grund, dass ich sie küssen möchte. Sie ist der Grund.

„Weil ich dich liebe", bringe ich ein wenig atemlos hervor. Das ist ein pokerwürdiges All-In gewesen. Ich habe alles von mir offenbart, auch wenn mir nicht bewusst ist, ob ich mir dadurch selbst schade oder nicht. Aber ich habe es so satt zu spekulieren und nach Antworten zu suchen, wenn sie die einzig richtige Antwort für mich ist.

„Was?", fragt sie ein wenig schockiert. Ihr Herzschlag verschnellert sich, während ihre Augen sich ein wenig geweitet haben. Ich hoffe, dass diese Reaktion in einem positiven Sinne geschieht.

„Ich liebe dich", wiederhole ich. Es fühlt sich so einfach an, diese Worte auszusprechen. Ich muss gar nicht mehr tausendfach darüber nachdenken. Ich spüre, dass sie für mich der Wahrheit entsprechen. Ich habe so lange dagegen angekämpft, aber ich sehe einfach keinen Grund mehr dafür. Es ist anstrengend und das hier ist das Erste seit Ewigkeiten, das sich richtig anfühlt.

„Wieso?"

Ich lächle leicht und sehe auf unsere verschränkten Hände. Ihre Augen leuchten mittlerweile, was mir den Mut gibt, weiterzusprechen.

„Weil du mein Herz im Sturm erobert hast, Sicily. Du hast erkannt, dass es zu dir allein gehört. Ich denke ständig an dich. Ich vermisse dich jedes Mal, wenn ich in ein Flugzeug steige, welches mich aus England bringt. Ich mag London nicht, aber ich freue mich trotzdem jedes Mal, wenn ich nach Hause aufbreche. Meistens ist es unterbewusst geschehen, aber so ist es eben. Ich liebe es, mit dir golfen zu gehen. Ich liebe es, mit dir zu reden, zu schreiben oder zu kochen. Ich liebe all diese Dinge, weil ich sie mit dir tue. Sonst sind sie mir egal, aber du verleihst allem eine Bedeutung. Ich kann nicht mehr daran denken, ohne dich zu leben, Sicily. Ich brauche dich. Ich brauche unsere Küsse, unsere Berührungen. Ich brauche es, dass wir gemeinsam Zeit verbringen, auch wenn wir das eigentlich nicht so oft tun können."

Dafür habe ich nämlich nicht den richtigen Beruf. Sicily schluckt leicht und ihre Lippen sind geöffnet. Dann breitet sich auf ihren Lippen ein richtiges Lächeln aus.

„Gut", bringt sie schwer atmend hervor, während sie mit ihrer Hand sanft meine drückt. „Denn mir geht es genauso. Ich liebe dich, Nace."

Sie drückt mir einen zittrigen Kuss auf den Handrücken und sieht mich dann glücklich aus. In diesem Moment sehen unsere Seelen genau gleich aus. In ihren Augen ist spiegeln sich meine Gefühle und in ihren Gesichtsausdrücken erkenne ich dieselbe Erleichterung, dasselbe Gefühl, endlich an einem guten Punkt angekommen zu sein. An einem Punkt, wo wir beide dieselben Ansichten haben und dieselben Dinge denken können. Es gibt für einige Augenblicke nur uns beide und das sind die schönsten Momente meines Lebens.

Sooooo endlich haben sie es gesagt 😍

Mögen wir die beiden?

Wie hat euch das Kapitel gefallen?

[DOPPEL-UPDATE 1/2]

PS: Es tut mir leid, dass ich erst heute update, aber ich habe die Tage alle verwechselt und irgendwid vergessen, dass Wochenende war 🤦‍♀️ naja, wenigstens müsst ihr so weniger lange auf die nächsten warten 🤷‍♀️

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