36 - Sicily

Ich kann nicht schlafen. Nacer ist seinem Bett und schläft, aber er könnte genauso gut im Koma liegen. Die Angst um ihn ist groß, weil ich seine Diagnose nicht ernst nehmen kann. Ich glaube kaum, dass er nur eine Grippe hat, auch wenn der Arzt ihm das vorher so gesagt hat. Nacer hat grundsätzlich schon Grippen-Symptome, vor allem wenn man bedenkt, wie schlecht es ihm vorher gegangen ist und dass er sehr hohes Fieber gehabt hat, aber irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Also wandere ich unruhig durch seine Wohnung, während ich mich zwinge, nicht zu schnüffeln.

Die Wohnung ist ungefähr gleich strukturiert wie meine. Es hat einen Korridor, welcher zu einer Küche führt und an wessen Ende ein Badezimmer ist. Er hat am beim Eingang der Wohnung sein Zimmer und gegenüber von der Küche – was bei meiner Wohnung nicht so ist – ein Wohnzimmer. Ich habe währenddessen das Gästezimmer bezigen. Alles ist in einem angenehmen Zitronengelb gestrichen, welches das Licht von außen noch schöner in die Wohnung scheinen lässt. Allgemein ist sie beinahe leer, wenn man von ein paar Plastikpflanzen absieht. Alles ist topmodern und aus weißem Granit gebaut. Ich würde gerne etwas kochen, um mich selbst abzulenken, unterlasse es aber, weil ich Nacer auf keinen Fall wecken möchte. In zwanzig Minuten muss ich ohnehin zu ihm gehen und meine Halbe-Stunde-Kontrolle erledigen. Es ist vier Uhr morgens und ich ziehe es immer noch durch, dass ich jede halbe Stunde seinen Puls messe und ihm einen kalten, feuchten Lappen auf die Stirn lege, welcher sein Fieber senken sollte. Ich spüre zwar, wie die Müdigkeit durch meinen Körper fließt, aber ich erlaube ihr nicht, Besitz über mich zu ergreifen.

Ich setze mich auf das Sofa in seinem Wohnzimmer. Er hat keinen Fernseher in diesem Raum, dafür aber eine Regalwand, welche mit Büchern gefüllt ist, ähnlich wie auch in meinem Zimmer. Mein Herz bleibt beinahe stehen, als ich einen näheren Blick auf die Regale erblicke und entdecke, was für Schätze er hier stehen hat. Von Oscar Wilde und Hemingway sind hier beinahe alle Romane zu entdecken, ganz zu schweigen von dem separaten Regal, in welchem Edgar Allan Poes Werke stehen, zusammen mit einigen Tassen, auf welchen Zitate aufgedruckt sind. Ich frage mich, wie viele Ausgaben von diesen Büchern er hat, wenn er selbst bei uns zuhause ein Regal für diese Werke hat. Es bestehen absolut keine Zweifel, dass Nacer klassische Werke anhimmelt. Er hat sogar mehrere Ausgaben von „Little Women" hier, was mich zum Lächeln bringt. Ich frage mich, wieso ihn noch nie habe lesen sehen, wenn er offensichtlich so belesen ist. Selbst damals, vor fast zehn Jahren, hat er mir schon die Geschichte von dem Raben erzählt, welche nun zu meinen absoluten Favoriten zählt.

Das Licht im Gang geht an und ich zucke zusammen, während mein Herz für einige Sekunden stehen bleibt. Der Schreck legt sich allerdings wieder, als Nacer am Wohnzimmer vorbeischlurft, während er sich den Bauch hält. Er sieht aus, als wäre ihm schon wieder schlecht. Ich folge ihm und mein Verdacht bestätigt sich, als er wenige Sekunden später über der Kloschüssel hängt und sich die Seele aus dem Leib würgt. Ich verziehe das Gesicht, weil ich mich langsam frage, wie viel er denn noch aus sich herauswürgen kann. Damit ich mich nicht so nutzlos fühle, streiche ich ihm mit der Hand über den Rücken und flüstere ihm beruhigende Dinge zu, bis er irgendwann erschöpft an der kühlen Badezimmerwand lehnt und die Hände in den Haaren vergraben hat. Ich befeuchte einen Lappen und wische ihm den Mund schweigend ab. Dann helfe ich ihm, sein Gesicht zu waschen. Er sieht unglaublich verschwitzt aus, was nur auf sein hohes Fieber zurückzuführen ist. Seine Stirn brennt. Viel heißer, als eigentlich normal ist. Ich halte die Luft an und möchte gerade aufstehen, um ein Fiebermessgerät zu holen, als Nacer sanft nach meinem Handgelenk greift.

„Bleib", haucht er und sieht mich aus seinen glasigen, erschöpften Augen so kaputt an, dass ich sofort wieder auf die Knie zurücksinke.

„Ich muss dein Fieber messen, Nacer", entgegne ich genauso leise und lege meine Hände an seine Wangen. Mit dem Daumen streiche ich über sie, um ihm zu zeigen, dass ich trotzdem hier sein werde.

„Bleib, Sicily. Bitte."

Seine Stimme bricht und er schließt die Augen. Nicht schnell genug, denn eine Träne entweicht seinem Augenwinkel, ehe er sie vor mir verstecken kann. Ich küsse sie weg, während meine Augen ebenfalls feucht werden. Nacer hat seine Grippe vielleicht nicht auf mich übertragen, aber mein Immunsystem kann nichts gegen seine ansteckende Traurigkeit anrichten.

„Alle, die ich liebe, verlassen mich immer. Bleib, Sicily. Die letzten Tage tun mir so leid", bringt er hervor. Er kann das Zittern seiner Stimme nicht verstecken, genauso wenig wie seine bebenden Schultern und mein Herz bricht an Ort und Stelle, während ich mir wünsche, ihn nie mehr so sehen zu müssen. Ich habe nie geahnt, dass so eine fragile Seite an ihm steckt, aber dass sie sich genau jetzt zeigt, erschwert die Situation nur noch weiter.

„Oh, Nacer", murmle ich. Ich nehme ihn in die Arme und halte ihn fest. Ich tröste ihn, auch wenn ich nicht nachfrage, woher diese Emotionen rühren. Ich kann ihm den zusätzlichen Schmerz nicht antun, davon erzählen zu müssen. Ich verliere das Zeitgefühl, während ich ihn halte und er sich in meinen Armen beruhigt. Der ganze Ärger und die Wut der letzten Tage vergeht wie im Flug, während er mir diese gebrochene Seite von ihm zeigt, die sich hinter all seinen Handlungen versteckt hat. Irgendwann schaffe ich es, mit ihm zusammen aufzustehen und sein Fieber zu messen. 42 Grad. Ich ziehe scharf die Luft ein und bewege Nacer zu einem der Barhocker, welche in der Küche stehen.

„Wir müssen ins Krankenhaus", informiere ich ihn. Mein Kopf dreht sich, denn wenn das so weitergeht, versagt sein Körper bald. Ich wähle die Telefonnummer für das nächste Krankenhaus. Glücklicherweise schaffe ich es, ihm einen Krankenwagen auf Italienisch zu klären. Es ist zwar ein wenig eingerostet, weil ich es nur mit meiner Großmutter gesprochen habe und sie vor einigen Jahren gestorben ist, aber der Rezeptionist versteht mich trotzdem und das ist wohl das Wichtigste.

——

Eine Stunde später liegt Nacer mit einer neuen Diagnose im Krankenhausbett, während ich mich um all die Papiere kümmere. Dass man nun eine Lebensmittelvergiftung und nicht nur eine Grippe diagnostiziert hat, beunruhigt mich. Es ist kein Spaß, dass ihm nun der Magen ausgepumpt wird. Ich verstehe nicht, was auf der Krankenstation nach dem Qualifying nicht funktioniert hat.

„Das ist ziemlich merkwürdige", stimmt mir die Ärztin zu, lächelt dann aber knapp.

„Er kann froh sein, so eine gute Partnerin zu haben."

Ich nicke stumm und gebe mir Mühe, die Situation nicht peinlicher zu machen. Ich reibe mir über das Gesicht und versuche ein Gähnen zu unterdrücken, wobei mir ein wenig schwindlig wird. Ich bin definitiv schon zu lange wach, aber immerhin hat es sich gelohnt.

„Danke", sage ich zu ihr. Diesmal erreicht das Lächeln ihre Augen und sie drückt mir den Arm.

„Gerne. Das ist mein Job. Sie sollten sich vielleicht hinlegen, sobald die letzten Kontrollen gemacht sind. Sie sehen müde aus."

Ich bringe wieder nur ein Danke zustande. Sie nickt mir ein letztes Mal zu und überlässt mich dann dem Rezeptionisten. Sobald der Papierkram gelöst ist, setze ich mich auf einen Stuhl vor Nacers Zimmer. Ich lehne meinen Kopf gegen die Wand und versuche die Müdigkeit in mir zu vertreiben, habe in diesem Moment aber keine Chance. Denn nun hält mich nicht einmal mehr die Sorge um Nacer wach, weil ich weiß, dass er in guten Händen ist.

Lebensmittelvergiftungen sind echt kein Spaß 😬

Wie hat euch das Kapitel gefallen?

Tut mir übrigens leid, dass ich das Wochenende zum Updaten verpasst habe 😂🙈

[DOPPEL-UPDATE 1/2]

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