34 - Nacer
Ich merke erst, wie viel Spaß ich mit Sicily eigentlich hatte, als es überhaupt keinen Spaß mehr macht. Dass sie wütend auch mich ist, steht nicht in den Sternen geschrieben, sondern könnte genauso gut auch auf meine Netzhaut tätowiert sein. Ihr Ärger greift über den Tisch und verdeckt ihre verletzte Schicht. Ich bereue in diesem Moment so Einiges. Sie sitzt mir gegenüber und sieht auf ihre Menu-Karte, während ich mir wünsche, dass sie irgendetwas sagen würde. Es wäre mir auch egal, wenn sie mich beleidigt, aber ich kann es nicht ausstehen, dass sie mich anschweigt. Ich kann es nicht ausstehen, dass sie nichts sagt, während ihr Köpfchen so schnell zu arbeiten scheint, dass sich ihre Gedanken förmlich überschlagen.
„Sicily, ich denke, dass ich dir das erklären muss", räuspere ich mich. Mein Kopf schmerzt, weil ich viel zu langsam atme und daher auch nicht genug Sauerstoff habe, um mein Gehirn ausreichend zu versorgen. Es ist, als hätte sie mir diese Energie genommen, auch wenn es eigentlich gar nicht wirklich ihre, sondern meine Schuld ist.
„Ich denke nicht, dass es eine gute Erklärung dafür gibt."
Bedeutungsvoll legt sie die Karte zur Seite, während ihre Augen meine zum ersten Mal wieder meine finden. Mein Atem hadert, weil sie so wundervoll ist. Ihre Haare umrahmen ihr Gesicht wie ein seidiger Vorhang, während ihre Gesichtszüge eine Härte ausstrahlen, welche ich bei ihr noch nie gesehen habe und ich hasse es, dass ich das zu verantworten habe.
„Nein, aber ich kann dir sagen, wieso ich so gehandelt habe."
Sicily zieht fragend eine Augenbraue in die Höhe, äußert sich aber nicht weiter dazu. Ich interpretiere das als Aufforderung, weiterzusprechen.
„Ich denke, dass ich sicherlich nicht abstreiten kann, falsch gehandelt zu haben. Ich hätte es dir sagen sollen, aber in erster Linie hätte ich es gar nicht tun dürfen."
Sie sieht mich so ungläubig an, dass ich den Worten kaum selbst Glauben schenken kann.
„Was ist dieses es genau?", will sie wissen. Das ist die erste Frage, welche sie mir stellt. Ich bin froh darum, auch wenn das mit Abstand die jämmerlichste Reaktion ist, welche ich überhaupt haben könnte. Es sollte kein Erfolg sein, wenn sie etwas in dieser Tonlage fragt. Aber an diesem Punkt ist mir alles recht, was ich von ihr zu hören bekomme.
„Ich fange am besten von vorne an", seufze ich. Ich sortiere meine Gedanken und will gerade zu sprechen beginnen, als ich von einem Kellner unterbrochen werde, welcher an unseren Tisch kommt.
„Was darf es denn sein?", fragt er so gut gelaunt, dass ich beinahe mein Gesicht verziehe. Diese Stimmungslage passt so gar nicht zu dem, was gerade bei Sicily und mir los ist. Es passt genau genommen zu gar nichts. Sicily bestellt eine Speise, welche ich nicht kenne, weil sich das für mich viel zu kompliziert anhört, während ich mir eine einfache Pizza bestelle. Was will man schon mehr, wenn man in Italien ist?
„Meinst du das ernst?", zischt sie leise, sobald der Kellner verschwunden ist. Sie sieht fassungslos aus und ich frage mich, was ich schon wieder falsch gemacht habe. So viele Fehler innert kürzester Zeit sind selbst für mich ein Rekord.
„Meine ich was ernst?"
„Du hast dir mit Abstand das Gewöhnlichste bestellt, was es hier gibt. Nein, du hast das einzig Gewöhnliche hier bestellt. Du hättest so viele gute Gelegenheiten gehabt."
Sie sieht so aufrichtig frustriert aus, dass ich sanft lächle, während ich ihre Hand über den Tisch ergreife und tröstend über ihren Handrücken streife.
„Was hätte ich denn nehmen sollen?"
„Einen Fischteller oder so", sagt sie und wird plötzlich rot. Für einen Moment wirkt alles an dieser Situation so normal und wunderschön, dass sie mich umgibt wie eine Umarmung, aber das fällt wieder in sich zusammen, weil ich aufstehe, um meine Bestellung zu ändern. Denn als ich zurückkomme, ist der kurze Augenblick der Wärme verschwunden und es bleibt wieder nur die Enttäuschung in ihr zurück. Als hätte sie sich daran erinnert, wieso das Essen bisher nicht schon die ganze Zeit so funktioniert hat. Seit diesem einen intimen Moment in London, welcher hartnäckiger in meinen Erinnerungen hängt als ich es gerne hätte, hat sie so viel hoffnungsvoller und glücklicher gewirkt. Dass sie nun wieder so resigniert und erschöpft aussieht, bricht mir beinahe das Herz.
„Du hättest das nicht tun müssen, Nacer", bemerkt sie leise und nimmt einen Schluck ihres Perlweins. Wir haben nicht angestoßen.
„Zu spät. Aber darüber möchte ich jetzt auch gar nicht reden."
Stattdessen erzähle ich ihr also, wie es zu dem Gespräch zwischen Pasquale und mir gekommen ist, als ich die Befragung für sie vorgeschlagen habe. Mein Herz bricht, während ich ihr die Worte offenbare, welche sie selbst ein wenig zu brechen scheinen. Eigentlich wäre das alles nicht so dramatisch, aber sie hat mir vertraut. Sie hat mir geglaubt, sie hat mich beschützt und sie hat die Lüge unserer Beziehung weitergeführt, selbst wenn sie eigentlich die Wahrheit hätte offenbaren müssen. Sie riskiert ihre eigene rechtliche Lage für jemanden, der sie selbst direkt angelogen hat.
„Wann genau ist das gewesen?"
Dass sie nicht mehr darüber wissen will, ist beinahe schon beängstigend.
„An einem Morgen."
Ich verziehe das Gesicht. Sie weiß es da eigentlich schon. Ich sehe regelrecht, wie ihr die Gesichtszüge entgleisen.
„An welchem Morgen?"
Ich hätte die Frage nicht gehört, wenn ich sie nicht erwartet hätte.
„An dem Morgen."
Sicily legt sich die Hand über die Brust, vermutlich um diesen Fakt zu verarbeiten. Um auf den Schmerz klarzukommen, welchen es in ihr auslösen muss. Ich selbst kann kaum mehr atmen, weil ich mich so schlecht fühle, dass sich für einige Momente alles dreht. Ich spüre einen unerträglichen Druck in meinem Kopf, während ich mir für einige Momente wünsche, ein anderer Mensch zu sein. Nicht die Verantwortung übernehmen zu müssen, auch wenn sie nur mir zugeschrieben werden kann.
„Hast du mir die Pfannkuchen nur gemacht, weil du dich schlecht gefühlt hast?"
Ich ziehe scharf die Luft ein, während mein Gesicht aufflammt. Mir ist nicht klar, wie sie das alles so schnell zusammengesetzt hat, während ich selbst versucht habe, diesen Fakt zu unterdrücken. Sie kennt mich nach so kurzer Zeit schon so gut, dass die Schande, derartig versagt zu haben, nur noch grösser ist.
„Es tut mir leid", bringe ich hervor. Ich ersticke meine Seele mit diesen Worten. „Ich wollte dich von mir stoßen, Sicily, und ich will es noch immer tun. Es sollte mir nicht leidtun, aber jetzt sitze ich hier und kann an nichts anderes mehr denken, als dass ich dich damit verletzt habe und dass ich es mir nicht verzeihen kann, weil du das nicht verdient hast."
Ein trauriges Lächeln glänzt in ihren Augen.
„Nein, das habe ich tatsächlich nicht verdient", bringt sie hervor. Ihre Stimme ist wie Sedimentgestein mit unendlichen Schichten von Emotionen beladen. Mein Herz bricht beinahe ein zweites Mal. Diesmal nicht für sie, sondern für mich selbst. Ich bin so erbärmlich, dass ich es gar nicht richtig in Worte fassen kann. Vor mir sitzt eine wunderschöne, starke, selbstbewusste Frau und sie ist traurig wegen mir. Weil ich nicht in der Lage gewesen bin, mich anständig zu benehmen. Weil ich mich weigere, mich anständig zu verhalten. Weil ich lieber riskiere, alle in ein Übel zu ziehen, nur um mich vor einer Möglichkeit zu schützen, die vielleicht gar nicht vorkommt. Ich versuche ständig, mich von ihr fernzuhalten, nähere mich ihr mit jedem Schritt gleichzeitig aber auch. Ich bin innerlich so zerrissen, weil ich Ziele habe, die ich nicht verfolgen kann und Wünsche, für die ich nicht genug Selbstkontrolle habe, um sie einzuhalten. Ich möchte das Versprechen, welches ich vor so vielen Jahren gegeben habe, nicht brechen, aber ich kann dem Trieb nicht widerstehen, ihr nahezukommen, weil sie mich anzieht wie ein Magnet.
Unser Essen kommt und wir schweigen. Sicily nimmt einige Bisse ihres Risottos und verzieht dann das Gesicht. Ich bemerke den sehnsüchtigen Blick, welchen sie meinem Teller zuwirft und tausche die Speisen aus, ohne mich dazu zu äußern. Ich kann nicht sagen, dass ich Meeresfrüchte nicht mag, aber seit sie mir den Fischteller vorgeschlagen hat, sollte ich ihn ihr überlassen. Es ist das Mindeste, was ich für sie tun kann. Sie bedankt sich nicht oder sagt auch nichts dergleichen, aber ich spüre, dass sie dankbar dafür ist, dass sie etwas anderes essen darf. Wenigstens weiß ich nun, dass ich ihr mit meinem geschmacklosen Verhalten den Appetit nicht so sehr verdorben habe wie mir selbst.
Unnnnnd damit verschärft sich die Situation noch weiter 😬
Könnt ihr Sicilys Ärger und Nacers Schuldgefühle nachvollziehen?
Und ihr könnt euch bei @YifeiS und @useethestarsupthere bedanken, denn ich habe mich dank entschieden, die nächsten Paar Wochen statt einem Kapitel gleich zwei heraufzuladen 😊
[DOPPEL-UPDATE 1/2]
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