30 - Sicily

Ich wache auf und liege allein auf meinem Bettlaken. Dieser Gedanke fühlt sich surreal an, auch wenn das meine tägliche Realität ist. Die Sonne strahlt durch meine Vorhänge, während mich der Duft von Pfannkuchen himmlisch begrüßt. Ich strecke mich, ziehe allerdings sofort wieder scharf die Luft ein, als ich merke, wie zart das Bettlaken über meine Haut streift. Wie eine Woge bricht die Realität über mir zusammen und mir fällt wieder ein, was gestern geschehen ist. Was Nacer und ich getan haben. Schützend lege ich meine Hände über meine intimsten Stellen, bis mir auffällt, dass das gar nichts bringt, weil gar niemand hier ist, der mich sehen könnte. Ich hätte viel eher meine Sachen in diesem Raum bedecken sollen, weil das die eigentlichen Dinge sind, welche Nacer nicht sehen soll. Jedes einzelne Bruchstück meines Charakters ist hier zu finden.

Da ist der Flügel, welchen ich von meiner Großmutter geerbt habe. Die drei großen Bücherregale, welche eine gesamte Wand bedecken und bis auf den letzten Millimeter mit Büchern und Novellen vollgeräumt sind. Meinen kleinen Schreibtisch, neben welchem ein weiteres Regal steht, welches mit den Unterlagen meines Studiums und Kochbüchern gefüllt ist, zusammen mit weiteren Ordnern, in welchen das wichtigste über das Restaurant und den Pub steht, falls alles in die Brüche gehen sollte. Dort sind auch die Unterlagen, mit welchen ich mich beschäftige, wenn ich einen neutraleren Blick auf gewisse Dinge haben möchte, wie zum Beispiel, wen ich als Koch einstellen soll. Was mich daran erinnert, dass das wieder einmal überfällig wäre. Telese hat sich schon wieder darüber beschwert, dass es zu viel Arbeit und zu wenig Leute hat. Darum muss ich mich heute kümmern. Ich habe schon verschiedene Leute zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, auch wenn die meisten nicht so vielversprechende Bewerbungen geschrieben haben. Ich hoffe einfach, dass sie besser kochen als sie schreiben.

Ich suche mir möglichst anständige Kleidung aus, mit welcher die Kandidaten auch empfangen werden können und ziehe mich an, ehe ich es wage, mein Zimmer zu verlassen. Ich habe ein wenig Angst davor, Nacer wieder gegenüberzustehen. Ich kann nämlich nicht deuten, was es zu bedeuten hat, dass er einfach gegangen ist. Bedeutet er, dass er es bereut? Oder hat er extra Frühstück gemacht, weil er es so gut gefunden hat? Dabei haben wir eigentlich nicht so viel gemacht. Ich betrachte mein Abbild im Spiegel und erröte sofort. Wem versuche ich eigentlich, so einen Mist zu erzählen? Für mich war es wichtig. Für mich war es eine große Sache. Ist es noch immer. Ich versuche aber, möglichst neutral zu wirken und verlasse mein Zimmer erst, nachdem ich geübt habe, gefasst zu wirken.

„Guten Morgen", begrüßt mich Nacer. Ich sterbe beinahe. Ein sanftes Lächeln liegt auf seinen Lippen. Ich verbiete mir, sie anzusehen und lächle daher nur zurück. Er schluckt und sieht auf die Platte mit den Pfannkuchen vor sich. Er scheint sein ganzes Leben zu hinterfragen, äußert allerdings keinen einzigen dieser Gedanken, sondern räuspert sich nur.

„Hast du gut geschlafen?"

Es fühlt sich an wie Small Talk. Aber es ist definitiv besser als das sonstige Schweigen, in welchem sich diese Wohnung sonst immer befindet, wenn wir beide hier sind. Small Talk bedeutet, dass wir reden. Es ist ein guter erster Schritt in die richtige Richtung.

„Ich bin zumindest nicht wach geworden, als du gegangen bist", bemerke ich so beiläufig wie möglich. Ich sehe auf seine Hände, die gerade Erdbeeren in kleine Stückchen schneiden. Ich könnte schwören, dass er sich fast einen Finger abhackt, ehe er sich wieder fasst. Gut, dass es ihm nicht egal ist.

„Ich stehe oft früher auf als du, Sicily."

Er sagt das so neutral, dass ich nicht herauslesen kann, ob es eine Rechtfertigung oder eine Entschuldigung ist. Er scheint mich damit einfach besänftigen zu wollen.

„Vermutlich. Hast du seitdem nur Frühstück gemacht? Ich hätte schwören können, schon ein wenig länger wach gewesen zu sein als du in der Küche stehst."

Nacer wird ein wenig bleich um die Nase und schluckt einige Male, was mich verwirrt. Eigentlich wollte ich ihn mit dieser Aussage nicht angreifen, aber so wie er wirkt, ist definitiv etwas geschehen.

„Nacer", sage ich vorsichtig. Seine dunklen Augen springen im Raum umher. Er scheint panisch zu sein, gleichzeitig aber auch ruhig. Er scheint Angst zu haben, aber auch nichts zu fürchten. Es fühlt sich so an, als hätte ich seine Persönlichkeit innert wenigen Sekunden gespalten und das macht mir Angst. Ich stehe auf und nehme ihm das Messer aus der Hand, ehe er sich aus Versehen noch selbst verletzt und drehe dann sein Gesicht zu mir. Seine Augen sind gezwungen, meine zu finden und ich hasse es, dass sie so leer wirken. Ich versuche, ihn zu ergründen, aber da ist nichts. Vielleicht bestehen seine Augen, seine Seele, aus so einem tiefen Abgrund, dass ich nicht dahinter blicken kann. Ich sehe ihn, aber gleichzeitig sehe ich ihn auch nicht, weil er gewisse Teile von sich immer versteckt.

„Nacer, bitte, rede mit mir", flehe ich beinahe schon. Es macht mir Angst, dass ich überhaupt nicht in der Lage bin, die Situation einzuschätzen. Als hätte ich einen Kübel Eiswasser über ihn geleert, wird er sich seiner plötzlich wieder bewusst. Sein Blick klärt sich und er löst sich von meinem Griff. Bringt Abstand zwischen uns. Ich atme zitternd ein, während ich hoffe, dass sich diese Situation nicht so entwickeln wird, wie es gerade aussieht.

„Wir haben nicht mehr als eine Abmachung, Sicily. Das sollte so bleiben", bringt er hervor. Ich habe das Gefühl, dass er mein Herz entzweischneidet, auch wenn er die Macht dazu gar nicht haben sollte. Mein Herz überschlägt sich, diesmal allerdings, weil ich nicht weiß, wie ich mit dieser Situation umgehen soll. Ich bin schlichtweg überfordert. Gestern haben wir in dieser Küche unanständige Dinge getrieben und heute sagt er mir an der genau selben Stelle, dass wir das nicht wiederholen können.

„Hast du deshalb Pfannkuchen gemacht? Weil du ein schlechtes Gewissen hast?", frage ich bitter. Der Appetit hat mich so schnell verlassen, wie er auch gekommen ist. Ehrlich gesagt fühlt sich alles bitter an. Als hätte ich in eine Zitrone gebissen, den Geschmack aber nur verzerrt gespürt. Ich denke an die vorherigen Male zurück, als er Pfannkuchen für mich gemacht hat. Als er ein schlechtes Gewissen wegen meiner Familie oder Mitleid mit mir hatte – genau genommen ist sogar beide Male genau dieselbe Diskussion der Grund gewesen. Er hat mich Weinen gesehen und dann Pfannkuchen für mich gemacht. Ich weiß nicht, was er von dieser Situation erwartet hat, aber ich weigere mich, allzu traurig zu sein, weil das ohnehin schon eine verzwickte Situation ist. Aber gleichzeitig frage ich mich, ob es vielleicht noch mehr gibt, von dem er mir erzählen müsste.

„Was ist heute Morgen geschehen?", will ich wissen, diesmal mit Nachdruck. Es ist mir durchaus klar, dass er meine anderen beiden Fragen ignoriert hat, aber diesmal möchte ich nicht einfach nachlassen, ich brauche nämlich Antworten.

„Wir haben einen Deal, Sicily."

Es klingt wie eine Entschuldigung. Was zum Teufel hat er gemacht, dass das seine Entschuldigung ist?

„Was ist geschehen, Nacer?"

Er atmet tief durch und fährt sich durch die Haare. Er scheint ernsthaft zu überlegen, ob er es mir sagen sollte. Ich habe ihn noch nie so nervös gesehen. Nacer ist sonst immer so ein selbstsicherer Kerl, dass es doppelt so beängstigend ist, wenn er einmal nicht gefasst ist.

„Es gibt möglicherweise etwas, was dir nicht gefallen wird."

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Das habe ich schon erwartet. Nacer weiß das auch, aber er versucht Zeit zu schinden. Als würde das die Wahrheit auf irgendeine Art und Weise ändern.

„Was?", frage ich drängend. Ich bin mit meiner Geduld langsam am Ende.

„Pasquale war hier."

Ich blinzle.

„Pasque? Wieso sollte das ein Problem sein? Er ist hier immer ein willkommener Gast."

Schließlich ist er noch immer mein Nachbar – wenn er zuhause ist – und zudem noch mein bester Freund.

„Ja, deshalb habe ich ihn auch überhaupt hereingelassen. Wir haben geredet."

„Hast du ihm von der Abmachung erzählt?"

Ich stelle ihm so viele Fragen, fällt mir auf, und ich erhalte so wenige Antworten. Ich habe definitiv das Gefühl, als müsste man Nacer die Antworten aus der Nase ziehen, wenn man etwas Plausibles hören möchte.

„Nein. Natürlich nicht. Das war doch ein Teil davon. Was für einen Zweck würde es erfüllen, ihm das jetzt noch zu sagen? Die Abmachung ist dazu da, dass er meine Präsenz hier nicht hinterfragt."

Ich zucke mit den Schultern, während ich mich langsam wieder setze. Ich schenke mir ein Glas Milch ein. Dabei liegt mein Blick die ganze Zeit auf Nacer, auch wenn er mich kaum wahrzunehmen scheint. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf abgeht, dass er sich so davon in den Bann ziehen lässt.

„Er hat über den Fall gesprochen. Den Fall seines Unfalls."

Nacer presst die Lippen zusammen, als würde er die Fortsetzung dessen am liebsten für sich behalten. Ich frage mich, wie schlimm die Erkenntnisse denn eigentlich sein müssen, wenn er sich so verhält.

„Und?"

„Es sind weitere Untersuchungen und Befragungen notwendig."

Ich schnaube. An diesem Zustand ist überhaupt nichts Neues. Ich verstehe nicht, wofür Nacer die Spannung so stark aufgebaut hat, wenn das alles gar keine spezifische Bedeutung hat, sondern nur zusammenfasst und weiterführt, was auch schon in den vergangenen Wochen thematisiert worden ist.

„Es wird auch eine Aussage von dir notwendig sein", beendet er seine abgehakten Aussagen schließlich. Ich blinzle überrumpelt, während ich mich frage, wieso um alles in dieser Welt meine Aussage nötig ist. Ich bin nicht einmal dort gewesen. Ich bin die ganze Saison noch an keiner Lokation gewesen, welche irgendetwas mit dem Rennfahren zu tun hat. Ich verstehe nicht, wie es so weit kommen konnte, dass jetzt meine Aussage nötig ist.

„Wieso?", bringe ich erstaunt hervor.

„Weil du verschiedene Verhältnisse zur Rennbahn hast. Als Schwester, enge Freundin und als meine Freundin. Das geht nicht einfach so an den Behörden vorbei. Sie erhoffen sich vermutlich einen distanzierten, aber doch umfassenden Blick auf die Situation, wenn sie dich befragen."

Nacer zuckt mit den Schultern, als wäre das kein Problem. Dabei ist doch er derjenige, welcher ein derartiges Theater gemacht hat, als ich ihn danach gefragt habe.

„Was ist das Problem dabei?", will ich wissen. Daran, dass sich sein Blick verdunkelt, merke ich, dass das die richtige Frage gewesen ist. Sein Körper scheint plötzlich bis aufs Äußerste gespannt zu sein, während sein Kiefer vermutlich Steine entzweien könnte. Mein Mund wird ein wenig trocken, weil ich schon wieder nicht anders kann, als mich zu fragen, wie sich sein Körper wohl anfühlen würde. Ich verbanne diese Gedanken allerdings, weil sie in dieser Situation so fehl am Platz sind.

„Du musst nächstes Wochenende vorbeikommen. Bei den Anlagen. Die Befragungen sind vor Ort und um den Terminkalender der Rennen aufgebaut. Es tut mir leid."

Nacer streicht sich ein letztes Mal durch die Haare und verschwindet dann im Badezimmer. Er muss sich nicht dafür entschuldigen, dass die Befragungen an einem Ort sind, dass ist wohl kaum seine Schuld. Das ist nun einmal so. Dass meine Stimme notwendig ist, hat auch nicht er zu verantworten. Deshalb finde ich es plötzlich auch wieder so herzerwärmend, dass er mir Pfannkuchen gemacht hat. Vielleicht glaubt er, dass ich mit ihnen meine Familie besser ertragen kann, weil Pfannkuchen einfach alles besser machen. Ich lächle leicht über diesen Gedanken und nehme mir einen, während gleichzeitig auch Angst in meinem Inneren schlummert. Es gibt einen guten Grund, wieso ich es vermeide, ein Rennen vor Ort mitzuerleben.

Wie ist die Situation zwischen Nace und Sisi 😬?

Wie wird das Rennwochenende für die beiden wohl verlaufen?

Hat euch das Kapitel gefallen?

Geniesst den Schnee und das Wochenende und wir lesen uns bald wieder ☃️❄️💙

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