29 - Nacer

Angestrengt blicke ich auf Pasquales Computer vor mir. Die Statistiken und zahlen verschwimmen vor meinen Augen, auch wenn ich versuche, meine gesamte Konzentration zu bündeln.

„Es gibt eindeutige Beweise, dass es jemand aus dem Team gewesen sein muss. Die Werkstatt wäre für alle anderen zu diesen Zeiten unbetretbar gewesen."

Ich nicke und trommle mit meinen Fingern auf dem Pult. Es ist zu früh für solche Gespräche. Vor allem, wenn ich daran denke, wo ich noch vor einer halben Stunde gewesen bin. Neben Sicily aufzuwachen ist eine Überraschung gewesen, da ich mir nicht erklären kann, wie ich so fahrlässig werden und all meine Prinzipien innert wenigen Sekunden über Bord werfen konnte. Das darf nicht wieder vorkommen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass ich eine lange, kalte Dusche gebraucht habe, nachdem sich mein benebeltes Gehirn erholt und mein nackter Körper sich von Sicily gelöst hat.

Ich räuspere mich und schüttle den Gedanken ab, während ich aufstehe. Gott, schon wieder ist mir in diesem Zimmer viel zu heiss. Ich zwinge mich zu anderen Gedanken.

„Wieso hat niemand etwas gesehen?", frage ich, während ich mit den winzigen Trophäen in meinem Regal spiele.

„Weil irgendjemand lügt."

Ich ziehe scharf die Luft ein und mustere meinen besten Freund.

„Wieso würde man lügen? Das ist ein riesiger Skandal. Wenn herauskommt, dass jemand lügt, wird das schlimme Konsequenzen haben."

Pasquale zuckt mit den Schultern und lässt sie einige Male kreisen. Ich habe ihn schon länger nicht mehr so angespannt gesehen. Ich habe schon lange nicht mehr beobachtet, dass er so unruhig wirkt, wie er es jetzt tut. Sein Fuß tippt in einem raschen Takt auf den Boden, während er immer wieder mit den Fingern durch sein Haar kämmt. Seine Augen schweifen durch den ganzen Raum, während er keine Ruhe finden kann.

„Was ist los mit dir, Pasque?"

Er stockt, dann schnaubt er und sieht auf die Hände. Jede seiner anderen Bewegungen hat gestoppt. Ich halte die Luft an, während ich darauf warte, was er jetzt noch sagen könnte, aber um ehrlich zu sein, habe ich nicht die geringste Vorstellung. Pasquale war immer der ruhigere von uns beiden, auch wenn das nach außen vielleicht anders gewirkt hat. Er hat einen Geist, den man nicht brechen kann. Er arbeitet immer, bemüht sich um jeden einzelnen Fortschritt, welchen er jemals gemacht hat. Er hat es immer geschafft, mich zu beruhigen, wenn alles andere in die Brüche gegangen ist und hat mich verteidigt, wo auch immer es möglich gewesen ist. Pasquale hat mich so oft gerettet, dass ich die Ereignisse mittlerweile gar nicht mehr alle aufzählen kann. Ich kann nur garantieren, dass ich ihn noch nie so aufgebracht erlebt habe. So...verloren.

„Was mit mir los ist? Ich bin vor zwei Monaten fast gestorben, Nace. Irgendjemand von dem Team hat das eingefädelt und bisher habe ich immer geglaubt, dass das Menschen sind, auf welche ich zu hundert Prozent vertrauen könnte. Das kann ich aber nicht. Ich kann nicht auf meine Instinkte hören, weil sie mir sagen, dass mein Team hinter mir steht und mich unterstützt. Dem ist aber nicht so. Selbst du könntest irgendetwas gegen mich planen und ich könnte es nicht abstreiten, weil es momentan keine andere Grundlage gibt außer dem Fakt, dass die Anzahl Personen, welche es gewesen sein könnten von einem Wimpernschlag auf den anderen reduziert worden ist. Und ich kann mich nicht auf jemanden vertrauen, weil ich weiß, dass ich niemandem mehr vertrauen kann. Nicht zum Preis meiner Gesundheit. Ich kann höchstens noch auf Sisi vertrauen, weil sie mit all dem nichts am Hut hat. Dann aber doch wieder nicht, weil sie dich liebt."

Mein Mund wird trocken, weil ich nach allem, was er gesagt hat, nur daran denken kann, dass er sie erwähnt hat. Ich brauche auch einen Spitznamen. Ich schüttle den Kopf. Vogelscheuche ist ihr Spitzname und damit basta. Ich blicke Pasquale forschend an, während ich meine Konzentration wieder fasse. Das hier ist kein Kinderspiel und ich sollte mich endlich auch so verhalten.

„Du solltest sie in dem Fall auch verhören lassen", bringe ich hervor. Sobald ich die Worte ausgesprochen habe, bereue ich sie schon. Er sollte das nicht tun. Sicily hat vielleicht nichts zu verstecken, aber es würde ihr das Herz brechen, wenn sie wüsste, wie weitgehend das Misstrauen ihres besten Freundes ihr gegenüber ist.

„Das kannst du nicht ernst meinen."

Pasquale sieht mich so fassungslos an, wie ich mich fühle. Ich stürze mich selbst ins Verderben, weil ich dabei bin, Sicily in eine unangenehme Situation zu bringen. Ich würde die Worte gerne zurücknehmen, aber dann denke ich wieder an die letzte Nacht und daran, dass so etwas nicht mehr geschehen darf. Ich habe mir geschworen, niemanden mehr so nahe an mich ranzulassen. Auch sie nicht. Wenn ich sie von mir abschrecke, traut sie sich vielleicht nicht mehr, sich mir zu nähern. Wenn ich sie davon abhalte, mir zu nahe zu kommen, wird sie vielleicht damit aufhören, mir mit jedem Blick so unter die Haut zu gehen.

„Doch", würge ich hervor und halte mir die Brust, als würde dieser Verrat mir körperliche Schmerzen bereiten. Dabei ist es kein Verrat. Ich bleibe mir selbst treu. Das ist das Allerwichtigste. Sicily sollte keine Hoffnungen haben, denn genau genommen habe ich ihr gestern ausdrücklich gesagt, dass ich sie hasse. Ich hasse es, dass sie mich ablenkt, wenn ich mich konzentrieren muss. Ich hasse es, dass sie meine Gedanken belagert. Ich hasse alles an ihr so sehr, dass ich an nichts anderes mehr denken kann. Dass ich heute neben ihr aufgewacht bin, ist nur ein Fehler gewesen. Etwas, was ich nicht wiederholen werde. Einmal und nie mehr, auch wenn ich noch keinen konkreten Plan habe, wie ich das meinem Körper vermitteln soll, der neuerdings elektrisiert auf Sicilys Gesellschaft antwortet.

„Das Recherchen-Team kann aber nicht hierherkommen. Sicily muss zu uns kommen. Meinst du, dass das nächstes Wochenende gehen wird? Sie hat dich ohnehin noch nie besucht, das wäre also die perfekte Gelegenheit dafür."

In meiner Brust zieht sich alles so stark zusammen, dass ich einige Sekunden brauche, um mich zu fassen. Pasquale sieht mich erwartungsvoll an. Ich habe ihm ja auch vermittelt, dass das gut wäre. Ich fühle mich als wäre ich der schlimmste Verräter der Weltgeschichte. Ich reibe mir über den Nasenrücken und versuche, die Übelkeit in mir zu verdrängen. Ich muss dringend wieder damit anfangen, intensiver zu trainieren. Auch wenn ich das nicht tun sollte, weil ich dann durch die antrainierten Muskeln schwerer werde, was in einem Rennen entscheidend sein könnte.

„Ich werde sie fragen", bringe ich mühsam hervor, worauf Pasquale nur eine Augenbraue in die Höhe zieht. Vermutlich kann er mich momentan so gut lesen wie eine Zeitung, die er jederzeit auf seinem Mobiltelefon abrufen könnte.

„Gut. Das wird aber kein leichter Brocken. Du musst sie wahrscheinlich eher überreden. Sie und der Rest verstehen sich offenbar nicht so gut."

Pasque verzieht das Gesicht, während er seinen Laptop zuklappt. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen mein Regal, wobei ich das letzte Bisschen Halt suche, welchen es in meinem Leben noch gibt. Ihre Familie. Verdammt, ich bin so unendlich dumm. Ich werde die Krokodilstränen, welche sie dank Luciano und dem Rest vergossen hat, niemals vergessen. Ich werde niemals vergessen, wie niederschlagen, traurig und kaputt sie gewesen ist. Und ich werde es mir niemals verzeihen, wenn ich sie absichtlich in eine Situation bringe, welche für sie ähnlich heikel ist.

„Ist mir bewusst", sage ich zu Pasquale und klopfe ihm auf die Schulter, als er an mir vorbeigeht. Wenigstens einer von uns, welcher sich heute keine Feindin machen wird.

Wie wird das Gespräch zwischen Nacer und Sicily wohl laufen?

War das eine gute Idee von ihm 🤔?

Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat & wir lesen uns bald wieder 🥰

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