Jedes Mal, wenn Nacer abreist, breitet sich eine Stille über die Wohnung aus, welche ich sonst nicht kenne. Seit dem Golfen habe ich ihn kaum gesehen und wenn es dann doch geschehen ist, hat er mich angesehen, als würde er mich gerne ergründen und hat gefragt, ob ich etwas brauche. Ich habe immer nein gesagt und er ist verschwunden. Ich denke, dass es sich so verhalten hat, weil er geglaubt hat, er würde mir zu nahetreten. Oder vielleicht hat er auch einfach Mitleid mit mir gehabt. Ausschließen würde ich diesen Gedanken jedenfalls nicht. Aber jetzt ist er weg und seine Zimmertür steht offen, während ich nur daran denken kann, dass es ihn vermutlich erleichtert, wieder eine Auszeit von diesem Ort zu haben. Ich blicke auf mein Handy und plötzlich wird mein schlechtes Gewissen nur noch schlimmer. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas zu ihm sagen muss, auch wenn ich eigentlich nicht viel zu sagen habe.

Sicily:

Bist du gut angekommen?

Mein Herz stoppt kurz, weil das eine nichtssagende Frage ist, dann ermahne ich mich gleichzeitig aber auch, dass ich nicht so viel Panik schieben müsste. Es klopft an der Tür und ich atme erleichtert auf, weil das bestimmt Telese ist. Sie tritt mit einem breiten Grinsen in meine Wohnung, doch dieser Gesichtsausdruck fällt schnell wieder in sich zusammen, als sie mich erblickt. Während sie ein hübsches Sommerkleid anhat und aussieht wie pure Lebensfreude, sehe ich eher aus wie ein Muffel und noch viel eher wie eine Versagerin. Das passt zwar zu meiner Gefühlslage, lässt mich aber trotzdem nicht sonderlich gut aussehen.

„Was ist los, Süße?", will sie mit einem besorgten Gesichtsausdruck wissen. Für einige Sekunden schweige ich, weil ich mir überlege, was ich ihr sagen soll, dann bricht dieses Schweigen aber über mir zusammen. Ich erzähle ihr alles. Jede einzelne Sache, die es über Nacer und mich zu wissen gibt. Wieso er bei mir wohnt, dass wir diese Beziehung gar nicht wirklich führen und dass ich mich so schlecht fühle, weil mit meiner Familie einmal mehr alles in die Brüche gegangen ist. Telese hört mir geduldig zu, selbst als ich ihr davon erzähle, dass mein Bruder ein rücksichtsloses Arschloch ist und Nacers Familie auf eine absolut geschmacklose Art verwendet hat.

„Das ist...krass. Wieso hast du mir nicht schon vorher etwas von eurem Deal erzählt, Sisi? Ich hätte doch extra nach einem Mädels-Trip oder so verlangen können. Dann hätten wir ihn zuhause lassen können."

Ich zucke mit den Schultern, während ich mir über das Gesicht reibe.

„Das war doch alles unendlich dumm von mir. Er hält mich bestimmt für eine verwöhnte Göre, die zu eitel ist, um ihrer Bestimmung zu folgen."

Telese sieht mich streng an. Sie stellt ihre Tasche auf die Kücheninsel, deren weißer Marmor heute heller als sonst zu glänzen scheint. Nicht einmal die Wohnung konnte ich mich selbst anschaffen.

„Du tust doch schon, zu was zu bestimmt bist, Sicily. Das Restaurant läuft in letzter Zeit besser als sonst und wir machen langsam, aber sicher ziemlich gute Fortschritte und daher auch einen wunderbaren Umsatz. Von dem Pub muss ich gar nicht erst anfangen. Es ist einer der beliebtesten Pubs in ganz England und den hast du allein auf die Beine gestellt. Ich habe keine Ahnung, wie dir das alles nicht zu viel ist, aber gleichzeitig ist mir auch bewusst, dass das nur der Fall ist, weil du deine Arbeit mit deinem ganzen Herzblut liebst."

Ich schlucke und starre auf meine Hände, weil diese Worte nach den letzten paar Tagen wie Balsam für meine Seele sind. Gleichzeitig habe ich aber auch Schwierigkeiten, ihr das zu glauben, weil eine schlimme Kritik immer tiefer wirken wird als hundert Gute.

„Meinst du?", frage ich daher verunsichert, worauf Tele nur bekräftigend nicht. Sie schenkt uns beiden ein Glas Wasser ein.

„Ja. Und wenn du mir nicht glaubst, dann gehen wir heute persönlich in das Restaurant."

„Aber wir haben beide frei."

„Ja, darum gehen wir auch als Gäste. Ich glaube nämlich, dass dein Problem allgemein ist, dass du dich viel zu selten von deinen Verdiensten verwöhnen lässt und daher gar nicht realisierst, wie unfassbar beeindruckend sie sind."

Ich lächle leicht, weil mir diese Idee gefällt. Vielleicht bin ich selbst auch einfach zu kritisch, weil ich das ganze Szenario aus einer anderen Perspektive sehe als beispielsweise die Gäste. Vielleicht muss ich mich einfach in deren Position befinden, um wirklich zu sehen, wie alles auf jemanden wirken kann.

„Ich glaube, dass mir diese Idee gefällt."

Telese wirkt zufrieden mit sich selbst und entschuldigt sich dann, weil sie unbedingt aufs Klo muss. Ich nutze die Gelegenheit, um nachzusehen, ob Nacer mir irgendwelche Nachrichten hinterlassen hat.

Nacer:

Ja. Turbulent, aber ganz okay. Immerhin habe ich nicht in die Tasche von Braedins Frau gekotzt.

Sicily:

Ohje. Dann muss es wohl übel gewesen sein.

Sicily:

Hat es nicht Kotztüten gehabt?

Nacer:

Doch...waren aber so umständlich verpackt, dass man sie nicht rechtzeitig aufbekommen hat. Pasquale hat sich aber dafür entschuldigt und gesagt, dass er für den verzrsachten Schaden der Tasche aufkommen würde :D

Sicily:

Hat er Flugangst?

Nacer:

Womöglich. Obwohl ich das eigentlich nicht glaube. Er macht sich immer lustig über mich und ich denke nicht, dass er es tun würde, wenn er selbst Angst hätte.

Sicily:

Du hast Flugangst?

Nacer:

Ja ☹

Sicily:

Das wusste ich nicht...

Nacer:

Es gibt viele Sachen, die du nicht über mich weißt.

Meine Finger verharren über der Tastatur. Er hat recht. Und ich frage mich, ob ich überhaupt das Recht hätte, nach diesen Dingen zu fragen. Ob er es mir gestatten würde, so tief in sein privates Leben einzudringen und einen Platz zu finden.

Nacer:

Ich stelle mir immer vor, dass ich in einem Auto sitze. Dort ruckelt es auch und das Adrenalin hält mich bei Verstand. Dann wird mir nicht schlecht. Allgemein ist es vor dem Flug schlimmer als während des Flugs.

Sicily:

Ich hätte niemals erwartet, dass du vor dem Fliegen Angst hast. Ihr fliegt doch so oft...?

Nacer:

Es ist tatsächlich nicht eine unglaublich praktische Angst, aber das kann ich jetzt auch nicht mehr ändern. Ich muss jetzt jedenfalls gehen, Braedin dreht sonst noch durch.

Sicily:

Okay, bis später

Nacer:

Ja.

Ich starre ein wenig verdattert auf meinen Bildschirm. Das war wohl die erste vernünftige Konversation, welche ich mit Nacer geführt habe und es hat sich gut angefühlt. Es fühlt sich gut an, dass ich nun etwas über ihn weiß, was vielleicht nicht alle wissen. Es gibt mir ein gewisses Gefühl von einem winzigen Ehrenplatz, auch wenn ich mir im selben Moment verbiete, so viel in etwas zu interpretieren, was er mir einfach so geschrieben hat. Vermutlich wissen das alle, die jemals eine Nachricht mit ihm getauscht haben.

„Sag mir nicht, dass du gerade mit Mr. Heißer Rennfahrer geschrieben hat", quietscht Telese, welche im Türrahmen des Badezimmers steht. Sie hat sich seitlich daran gelehnt und ich frage mich, wie lange sie schon dasteht und mir zusieht. Ich sollte mich nicht so ertappt fühlen, wie ich es nun tue, weil eigentlich gar nichts bei dieser Konversation dabei war. Ich habe tatsächlich selten so ein unschuldiges Gespräch geführt und das sollte sie eigentlich wissen.

„Wieso nicht?", bringe ich hervor, worauf sie noch einmal ein Quietschen ausstößt. Dabei klatscht sie begeistert in die Hände. „Wieso ist das so eine große Sache, Telese? Das sind nur unschuldige Nachrichten, ich schwöre es!"
Telese sieht mich so an, als hätte ich ihr gerade die größte Lügengeschichte aufgetischt, welche sie jemals hören musste.

„Weil dein Gesicht brennt, als hätte er es höchstpersönlich entflammt. Außerdem hast du gegrinst wie eine Verrückte, als du mit ihm geschrieben hast. Das sind nicht unbedingt Anzeichen dafür, dass da nichts läuft. Genau genommen bin ich mir sogar sicher, dass da etwas ist. Ich habe euch beobachtet, Sisi. Ich habe geglaubt, dass da eine Beziehung ist, und ich kenne dich in- und auswendig. Ich denke nicht, dass ich euch das abgekauft hätte, wenn da nichts wäre."

Ich schlucke und suche nach einem Protest, aber alle Antworten, die ich auf Lager habe, scheinen sich zu einem Wirrwarr zu entwickeln, welches ich ihr nicht auftischen kann.

„Es ist wirklich nicht so", bringe ich also nur hervor, ehe ich das Thema wechsle und ihr die Möglichkeit wegnehme, etwas darauf zu antworten.

Ist da etwas an Teleses Theorie 😊🤔?

Habt iht Flugangst?

Ich wünsche euch ein schönes Wochenende und wir lesen uns bald wieder 🥰