19 - Sicily
Ich lese das Papier vor meinen Augen zum hundertsten Mal genau durch.
Nacer Veenstra darf bei Sicily Vultaggio wohnen, wenn folgende Bedingungen erfüllt werden:
1) Respektvoller Umgang.
2) Solange Nacer in Sicilys Wohnung lebt, hat er im Haushalt zu helfen.
3) Nacer und Sicily führen eine Beziehung – also gehen sie auch auf öffentliche Dates.
4) Nacer besucht Sicilys Restaurant mindestens 1-2-mal pro Aufenthalt in London und macht dabei gute Werbung für das Restaurant.
5) Nacer kommt für die Hälfte der Heiz- und Wohnkosten auf.
6) Allenfalls kann Sicily Nacer zu Events begleiten, wenn ihre Anwesenheit erwünscht, beziehungsweise begründet ist.
7) Diese Vereinbarung ist nur durch zwei Unterschriften (Nacer/Sicily) gültig.
Wird eine der aufgelisteten Regeln gebrochen, muss das weitere Vorgehen besprochen und verhandelt werden, aber Nacer muss damit rechnen, dass bei schwerwiegenden Verletzungen der Regeln die Koffer zu packen sind.
Es scheint so weit so gut zu sein, also nicke ich zufrieden und unterzeichne das Papier, ehe ich es schließlich in einen Briefumschlag lege, auf welchen ich Nacers Namen schreibe. Ich habe nämlich genug davon, dass es nicht genau bestimmt ist, wer wann was zu tun hat. Wir scheinen ein Spiel zu spielen, welches mir nicht gefällt, also brauche ich endlich die Regeln, welche ich viel zu lange nicht verfasst habe. Ich habe Nacer seit drei Wochen nicht gesehen und ehrlich gesagt habe ich das gut gefunden, weil ich mich damit auf meine Ruhe konzentrieren konnte. Die Geschehnisse verarbeiten konnte.
Außerdem hatte ich ohnehin genug zu tun, da seit Nacers Besuch endlich mehr Aufmerksamkeit auf das Restaurant gezogen wurde. Ich denke zwar, dass Erfolg verdient sein sollte, aber was spricht schon dagegen, wenn man dem Zufall ein wenig nachhilft? Ich denke zumindest nicht, dass es ein Problem ist, wenn ich Aufmerksamkeit dadurch erlange, wenn ich mit Nacer ausgehe, vor allem wenn er genau dasselbe mit mir tut. Aber ich halte es nicht aus, wenn die ganze Situation zwischen uns nicht geregelt ist, also habe ich mich eben darum gekümmert.
Ich höre, wie ein Schlüssel in das Loch gesteckt wird, worauf sich direkt ein Kloss in meinem Hals bildet. Seit unserem kurzen Telefonat vor drei Wochen, habe ich ihn nur auf dem Fernseher gesehen.
Ich drehe mich also so zur Tür, dass ich ihn genau betrachten kann, wenn er eintritt. Meine Augen kleben praktisch an ihm, als er hereinkommt, während ich plötzlich nervös werde. Brauche ich ihm etwas sagen? Es wäre unhöflich, ihn nicht einmal zu begrüßen, wo ich ihn so lange nicht gesehen habe. Ich habe ihm nach jedem Rennen gratuliert, denn er hat noch einmal einen Sieg erlangt und gestern den zweiten Platz. Damit hat er sich wieder ein paar Punkte Vorsprung gesichert, was mich irgendwie stolz macht.
Als sich die Tür öffnet, steht da aber nicht nur Nacer, sondern direkt hinter ihm kommt Braedin ebenfalls herein. Ich werfe Nacer einen fragenden Blick zu, während sich auf seinem Gesicht ein breites Grinsen entsteht.
„Oh, Baby, ich habe dich schon so lange nicht mehr gesehen!", stößt er aus. Mit wenigen Schritten kommt er auf mich zugelaufen, bis er mich dann in seine kräftigen Arme schließt. Ich bin so überrumpelt, dass mir die Worte fehlen. Von allem, was hätte geschehen können, habe ich das am wenigsten erwartet. Aber mein Gehirn schaltet sich ein, während ich realisiere, dass er das alles tut, weil Braedin bei ihm ist und zusieht. Also umarme ich ihn mindestens so herzhaft zurück, während eine Hand sich in seinem Haar vergräbt und die andere über seine Schultern streicht. Seine Arme liegen um meine Hüfte, während sein Kopf in meiner Halsbeuge liegt. Seine Lippen streifen so zart über mein Schlüsselbein, das mein Atem stockt und meine Augen sich flatternd schließen, noch ehe ich die Kontrolle vollends verliere. Ich beiße mir auf die Lippen, während ich spüre, wie sich langsam, aber sicher eine Hitze in meiner Mitte ausbreitet und mich anzufeuern scheint, auch wenn dieser Feuer anders ist als alles, was ich bisher jemals erlebt habt. Sein heißer Atem streift meinen Hals, als er seinen Kopf wieder hebt und die Arme ein wenig lockert. Sein Gesicht ist meinem unendlich nah, sodass sich unsere Nasenspitzen berühren.
Alles an dieser Situation ist so intim und ehrlich, dass ich für einen Moment vergesse, was für Lügner und Schauspieler wir eigentlich sind. Sein Atem küsst mein Gesicht, bevor ich diesen Gedanken äußern kann. Sanft wie eine Feder streichen seine Lippen über meine und machen mich kirre, während ich nicht verstehe, wieso ich so auf einen Mann reagiere, mit welchem ich nichts, außer eine Abmachung, für welche wir die Regeln bisher noch nicht einmal richtig festgelegt haben.
Braedin räuspert sich, ehe die Situation ausarten kann und die Berührungen nicht mehr sanft, sondern leidenschaftlicher werden, was mich und Nacer beide aus unserem Schauspiel reißt. Mein Mund wird trocken wie eine Wüste, während ich begreife, was überhaupt vorgefallen ist. Wir haben uns geküsst. Ich habe Nacer geküsst und er mich. Heiliger Hühnerhaufen! Meine Augen öffnen sich, während ich gegen das Licht blinzle, welches heller zu strahlen scheint als sonst.
„Spätestens jetzt wird mir klar, dass diese Beziehung definitiv keine Lügengeschichte ist", bemerkt Braedin mit einem höhnischen Gesichtsausdruck, welcher mich stocken lässt. Irgendetwas steckt hinter seinem Ton, aber ich kann nicht herauslesen, was es schlussendlich ist.
Ich löse mich aus Nacers Umarmung und bringe Distanz zwischen uns, während ich mir ein Glas Wasser hole.
„Möchte sonst jemand Wasser?", frage ich aus solidarischen Gründen, wobei ich versuche, die Stille zu überbrücken.
„Gerne", sagt Braedin. Nacer schüttelt den Kopf. Er bedeutet Braedin, die Schuhe auszuziehen und bei der Tür zu lassen, während ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Dabei schenke ich Braedin ein Glas ein, während ich den Brief subtil vom Tisch zu nehmen versuche, ohne aufzufallen. Wenn Braedin dieses Papier sieht, wird unsere Beziehung auffliegen, dessen bin ich mir zu hundert Prozent sicher.
„Ich muss leider bald gehen, also kann ich nicht viel länger hier sein, ich wollte jedenfalls noch da sein, wenn du ankommst, Nace."
Die Lüge kommt mir leichter von den Lippen als sie sollte. Ich habe definitiv noch keine fixen Pläne bisher gehabt. Es scheint mir allerdings so, als müsste Extrastunden zu arbeiten. Das eignet sich gerade gut, denn im Pub hat es immer genug zu tun. Nacer durschaut mich wie eine Scheibe Glas, aber ich kleistere mir dennoch ein großes, unglaubwürdiges Lächeln auf die Lippen, um meine Worte zu unterstreichen.
„Das ist so süß von euch beiden", kommentiert Braedin. Ich reiche ihm ein Glas Wasser. Zumindest eine Vorwarnung von Nacer wäre nett gewesen, aber das kann man bei ihm direkt vergessen. Ich glaube nicht, jemals jemanden getroffen zu haben, der so egoistisch ist.
„Kannst du uns vielleicht eine Sekunde geben?", fragt Nacer an Braedin gerichtet, welcher anscheinend nichts Besseres zu tun hat als diese Szene wie ein Schauspiel zu betrachten.
„Na klar. Ich warte in deinem Zimmer."
Nacer knippt kurz in seine Richtung, wartet allerdings, bis die Tür geschlossen ist, ehe er seinen Blick wieder auf mich richtet und skeptisch eine Augenbraue in die Höhe zieht.
„Wieso zur Hölle hast du mich geküsst?", will ich flüsternd wissen, ehe er über Belangloses zu sprechen beginnen kann. Ich spüre noch immer das Kribbeln seiner Lippen auf meinen, als hätte mich dieser Kuss wie ein Stromschlag getroffen und schwerwiegende Folgen hinterlassen.
„Das tut man, wenn man zusammen ist, Sicily."
Ich schnaube, rede mir allerdings ein, dass ich später darauf zu sprechen kommen werde. Ich muss mir genau überlegen, wie ich einem Volltrottel klarmachen soll, dass er mich nicht einfach küssen sollte. Dieses Recht steht ihm nicht zu. Händchen halten ist schon genug anstrengend.
„Wieso hast du mir nichts von Braedin gesagt? Das wäre eine Information, welche mich als deine Freundin interessiert hätte, du Schlaumeier."
Nacer schürzt seine Lippen, weil er es anscheinend nicht mag, wenn man seine Argumente gegen ihn verwendet.
„Wir werden später noch reden", weicht er aus.
„Definitiv. Sieh es dir später an. Ohne deinen Freund."
Ich drücke ihm den Briefumschlag in die Hand, wobei ich darauf achte, keinen zu großen Körperkontakt zu halten. Seine Berührungen sind eben gefährlich, vor allem, weil er meist genau weiß, was er tut. Er könnte niemals ein Rennfahrer sein, wenn seine Körperkontrolle nicht allumfassend faszinierend wäre. Ich schüttle den Gedanken ab und verschwinde in meinem Zimmer, ohne vorher eine Antwort abgewartet zu haben.
Was halten wir von dem intimen Nacer-Sicily-Moment 😏?
Wie findet ihr den Vertrag?
Wie gefällt euch die Geschichte bisher?
Bis zum nächsten Kapitel 💛
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