17 - Sicily
Ich hätte ihm die Nachricht nicht schreiben sollen. Nun bin ich nämlich nervös, weil ich nicht weiß, ob und was er darauf antworten wird. Ich atme tief durch und zwinge mich zur Ruhe, während ich durch die Wohnung tigere. Das war so eine dumme Idee. Meine Gedanken überschlagen sich, während ich versuche, tief durchzuatmen. Das Problem ist, dass ich Nacer kenne – gleichzeitig weiß ich aber auch nichts über ihn. Ich weiß, dass er impulsiv ist, wie ein Gott fahren kann und unglaublich intelligente Dinge anstellt. Ich weiß, wie er handelt, aber nicht, wie er denkt. Ich kenne seine Lieblingsfarbe nicht. Er hat mir nie etwas von einem Lieblingsbuch erzählt, er hat nie richtig mit mir gesprochen, wir haben nur Höflichkeiten ausgetauscht – und eventuell auch Beleidigungen, aber das ist es dann auch schon gewesen.
Es bringt mich um, dass das alles ist, was ich von meinem Mitbewohner weiß. Er sollte eigentlich eine Bezugsperson sein können, obwohl wir uns nicht nahestehen, während wir uns gegenseitig lediglich im Weg stehen. Ich bleibe mitten im Flur stehen. Mir fällt gerade zum ersten Mal auf, dass seine Tür offensteht. Er macht sie nie zu, wenn er das Haus verlässt, während ich meine am liebsten versiegeln würde.
Mein Herz bleibt stehen, beginnt dann aber gleich zu rasen. Das wäre die einmalige Möglichkeit, auch wenn das alles andere als in Ordnung wäre. Ich balle meine Hände zu Fäusten, wobei sich meine Nägel in meine Handflächen bohren. Wann habe ich denn sonst eine derartige Gelegenheit? Aber es geht mich nichts an. Ich möchte auch nicht, dass er einfach in mein Zimmer geht, wenn ich nicht da bin. Obwohl das eigentlich eine andere Geschichte ist, weil ich meistens zuhause bin, wenn auch er es ist. Mein Hals wird trocken. Wie viele Möglichkeiten gibt es für mich, Informationen über ihn zu sammeln?
Keine. Ich kann so etwas sonst nie tun. Jetzt ist er mehrere hundert Kilometer von hier entfernt, er wird es schon nicht merken, wenn ich mich ein wenig umsehe. Ich habe nicht vor, eine Unordnung anzurichten. Ich werde alles genau so zurücklassen, wie ich es auch gefunden habe. Ich realisiere, dass ich mich dazu entschieden habe, in seine Privatsphäre einzudringen, als ich schon auf seiner Türschwelle stehe. Ich atme einige Male tief durch, bis ich wieder klar denken kann, ohne mich wie eine Schwerverbrecherin zu fühlen.
Der Lichtschalter gibt unter meinen Fingern ein leichtes Klicken von sich. Mein Herz gibt beinahe den Geist auf, doch dann erblicke ich die Pracht, welche Nacers Zimmer ist. Ich denke nicht, dass seine Seele in diesem Zimmer steckt, weil es weder sein einziges noch sein größtes Zuhause ist, aber es hat so viele kleine Dinge, von welchen ich gar nicht bemerkt habe, dass sie hier sind. Neben dem Bett, welches mit blauer Delfin-Bettwäsche bezogen ist, stehen zwei Regale. Daneben steht ein winziger Tisch, an welchen kaum ein Stuhl passt. Bevor ich zu dem Tisch gehe, wandert meine Neugier zu den Regalen. Es hat unzählige Bücher von Edgar Allan Poe, welche von Oscar Wilde begleitet sind und auch sonst sind edle Einbände von Klassikern zu finden. Sogar Jane Austen hat einen Platz bei ihm, auch wenn der Einband von ‚Sinn und Sinnlichkeit' nicht annähernd so abgewetzt aussieht wie der von ‚Das Bildnis des Dorian Gray'. Sonst hat er nicht unbedingt Bücher, sondern viel eher Fotoalben hier, von welchen ich mir verbiete, sie anzusehen. Er hat ein Freunde-Buch, Sachbücher Briefmarken-Alben hier. Vor den Einbänden stehen immer winzige Trophäen oder Umrisse der Rennbahnen, welche er befahren hat, zusammen mit einem eingravierten Datum. Ich habe nicht gedacht, dass er so viel davon gesammelt hat. Über seinem Tisch hängt ein Formel-1 Kalender, was mich glucksen lässt, weil es derjenige vom letzten Jahr ist. Der Monat Februar ist aufgeschlagen, während sein Gesicht mir entgegenstrahlt. Weil es ein Bild ist und nicht seine reale Version, nehme ich mir ausnahmsweise Zeit, ihn genauer anzusehen.
Sein kantiges Gesicht könnte Stein schneiden. Seine Nase ist gerade wie ein Pfeil, was auf den meisten Gesichtern langweilig aussieht, aber seines wunderschön werden lässt. Seine Lippen sind bordeauxrot wie gärender Wein, während seine Augen so dunkelbraun sind, dass ich darin fast schon ein Schwarz erkennen könnte. Sie sind so besonders, weil sie meistens matt sind wie ein dunkler Ferrari bei Mitternacht, können aber so hell leuchten, dass sie in ein Mahagonibraun übergehen. Seine Haare sind schwarz wie eine Winternacht, liegen aber stets gekämmt und geordnet auf seinem Kopf. An den Seiten sind sie kürzer geschnitten, aber nirgends lässt sich sein Schädel erkennen. Alles an seinem Gesicht sieht so edel aus, dass ich mich manchmal frage, wie Nacer nicht in einer Privatschule auf einer Schulbank sitzt und über Poeten philosophiert, welche in seinen Regalen stehen, direkt neben den Andenken an sein momentanes Leben. Ich habe noch nie eine derartig vermischte Welt gesehen, aber es erinnert mich nur stärker daran, wie viele Gesichter dieser Mann haben kann und wie beeindruckend ich das finde. Ich zwinge mich, nicht auf seine Schultern zu starren, welche seinen Fahr-Anzug über die Brust spannen. Es ist nicht das erste Mal, dass mir auffällt, wie unendlich attraktiv dieser Mann ist.
Ich zwinge mich, den Blick von dem Kalender zu lösen und blicke auf seinen Schreibtisch. Mehr als ein Notizbuch und ein Bleistift liegen nicht darauf. Ich fahre mir durch die Haare. Ich kann mir das nicht ansehen. Damit würde ich zu sehr in seine Privatsphäre dringen. Das kann ich ihm nicht antun.
Stattdessen öffne ich seine Schubladen – als wäre das auf irgendeine Art besser. Kein Wunder fühle ich mich wie eine Schwerverbrecherin, wenn ich Dinge tue, die ich eigentlich lieben bleiben lassen sollte. Doch mein Atem stockt einmal mehr, als ich in der untersten Schublade eine gelbe Mappe finde. Die beiden anderen sind leer. Vorsichtig nehme ich die Mappe heraus. Die neugierige Seite von mir kann nicht anders, auch wenn das in keiner Hinsicht moralisch ist. Ich wünschte, dass ich meiner Neugier nicht so unterworfen wäre, wie ich es eben bin.
Ich schätze den Fakt, dass das alles A4-Blätter sind, sodass es nicht allzu schwer werden sollte, hier Ordnung zu wahren. Ich sehe mir ein Blatt nach dem anderen an, während mein Gehirn nicht nachvollziehen kann, was für Informationen ich da aufnehme. Auf jedem Blatt steht etwas anderes über Kabel, Räder und Reifen, in jedem Paragrafen ist eine andere Möglichkeit aufgelistet. Wenn ich mich von Luciano in diese Welt hätte ziehen lassen, würde ich nun vielleicht verstehen, was ich sehe. Aber ich sehe nur, dass diese Blätter alle neu sind. Ich denke, dass sich Nacer seit Pasquales Unfall viel eingehender mit diesem Themengebiet auseinandersetzt. Oder vielleicht bilde ich mir das alles nur ein, denn ein Rennfahrer zu sein, bedeutet nicht nur, hinter dem Lenkrad zu sitzen, sondern auch, dass man sein eigenes Auto in- und auswendig kennt. Dass man versteht, was los ist. Dadurch sollte er automatisch auch das von Pasquale viel besser verstehen, denn die beiden fahren dieselbe Version eines Autos. Nacer hätte den Unfall demnach auch haben können. Ich glaube sogar, Pasquales Namen auf einem der Blätter gesehen zu haben, aber als mein Handy klingelt und mir beinahe einen Herzinfarkt beschert, verfluche ich mich endgültig für meine Neugier und räume alles wieder zurück. Wer auch immer diesen Unfall untersucht, Nacer tut ganz gewiss dasselbe. Zumindest hoffe ich das. Denn sonst gibt es absolut keine andere Erklärung für all diese frisch aufgelegten Dokumente, welche ich gerade gesehen habe.
Ich lösche das Licht und gerade als ich in die Küche komme und nach meinem Handy greife, hört es auf zu klingeln. Ich war wohl ein wenig zu langsam. Ich entsperre es und sehe nach der Nummer, nur um Nacers Namen darüber leuchten zu sehen. Mein Mund wird trocken, doch ich zwinge mich, ihn zurückanzurufen. Vielleicht hat er mir etwas Wichtiges zum Sagen.
Was möchte Nacer wohl 🫢😊?
Hat euch das Kapitel gefallen?
Was haltet ihr davon, dass Sicily sich Nacers Sachen angesehen hat?
Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat und dann lesen wir uns nächste Woche wieder 🧡
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