16 - Nacer
Die belgische Luft tut mir gut. Sie bedeutet nämlich, dass die Luftlinie zwischen mir uns Sicily ungefähr 355 Kilometer beträgt. 355 Kilometer, welche mir innere Ruhe bringen, weil ich endlich niemandem mehr aus dem Weg gehen muss, um mein Leben in Sicherheit zu bringen. Logischerweise hat es nicht lange gebraucht, bis ihre Verletztheit in Wut umgeschlagen hat und sie sich an mir gerächt hat, weil sie so wütend gewesen ist. Ich hätte damit rechnen müssen, aber ich habe vergessen, dass der alles verändernde Faktor bei Sicily immer ihr Wahnsinn ist.
Sie schafft es, aus jeder Emotion einen Adrenalinkick für sich selbst zu machen und damit um sich zu schlagen als wäre es Feuer. Sie verbreitet den Brand so schnell und rasant, dass ich das Gefühl hatte, dort nicht mehr richtig atmen zu können. Wie hätte ich ihr sagen sollen, dass mir das alles leidtut, wenn sie nicht einmal versucht hat, mich richtig anzusehen? Sie hat sich lediglich aufgebrezelt – vermutlich um mir zu zeigen, dass sie sich nicht unterkriegen lässt – und sich so in ihrer Arbeit verloren, dass ich sie nicht einmal erreichen konnte. Und wenn sie dann doch Zuhause gewesen ist, hat sie gekocht – extra nur für sich selbst, obwohl sie sonst jeweils für uns beide gekocht hat – und das ganze Haus so gut riechen lassen, dass ich mein Zimmer so lange auslüften musste, bis ich dem Drang widerstehen konnte, darum zu betteln, dass sie mir auch etwas vom Essen abgibt. Die Spannung ist definitiv gestiegen und jetzt bin ich mehr als nur bereit, das alles in mein Feuer umzuwandeln. All die Energie, welche sich in mir aufgestaut hat, muss abgebaut werden.
Das Qualifying ist so weit so gut gewesen. Ich habe die Startnummer 1 erkämpfen können, Luciano die zwei. Pasquale muss sich mit der 4 zufriedengeben, was immer noch beachtlich ist, wenn man bedenkt, dass er heute wohl absichtlich weniger riskant fährt. Ich versuche, das positiv zu sehen, aber wenn er es morgen nicht schafft, sich nach vorne zu kämpfen, werden wir ein Problem haben. Braedin hat uns deutlich gemacht, dass wir jeden Platz auf dem Podium brauchen, jeden Punkt unbedingt nötig haben und dass Pasquale sich verdammt nochmal zusammenreißen soll, weil er sonst keine Chance hat, die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Vor dem letzten Rennen hat Pasquale nämlich so ausgesehen, als hätte er kein anderes Ziel. Nun wirkt er, als wäre er von anderen Gedanken überladen.
„Gut gemacht", kommentiert Luciano, während er mir seine Faust hinhält. Ich schäle mich aus meinem Helm, während ich ihn die ganze Zeit dabei beobachte. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab und er wirkt neugierig auf meine Reaktion. Ich habe gemischte Gefühle ihm gegenüber. Das ist das erste Mal, dass er seit dem Abendessen mit mir spricht.
„Danke", sage ich schließlich. „Du hättest mich überholen können, wenn du nicht so stark gebremst hättest."
Luciano senkt seine Faust, als er merkt, dass ich mit meiner eigenen nicht dagegen schlagen werde. Immerhin besitzt er so viel Verstand.
„Hör mal, Nacer, ich möchte nicht mit dir darüber streiten. Es geht um alte Meinungsverschiedenheiten, da haben wir uns alle schon daran gewöhnt. Sisi sollte sich einfach besinnen und dann wäre die Sache geklärt. Mit dir hat das nichts zu tun und ich möchte ehrlich gesagt auch nicht, dass sich da jemand einmischt. Das würde das Drama vermutlich nur verschlimmern, verstehst du?"
Ich zupfe an meinen Handschuhen, bis ich sie schließlich ausgezogen habe. Dass er und seine Eltern sich daran gewöhnt haben, hat man gesehen. Dass Sicily davon verletzt wurde, mindestens genauso sehr. Kein Freund dieser Welt würde sich da gegen seine Freundin und auf die Seite von Luciano stellen. Ich habe mir das Schicksal ausgesucht, dass ich nun ihr Freund bin. Selbst wenn ich es nicht wäre, würde ich dieses Verhalten nicht unterstützen.
„Luciano, ich hoffe, dass du das nicht ernst meinst und dein Verhalten überdenkst. Außerdem hoffe ich, dass du merkst, dass ich nicht in der Lage bin, mich auf deine Seite zu stellen. Sie wäre hier niemals so glücklich wie in dem Restaurant. Ich möchte nur das Beste für sie. Du solltest das als ihr Bruder eigentlich auch so sehen. Bis später."
Ich drücke mich an ihm und Pasquale vorbei, während letzterer mich mit großen Augen ansieht, als hätte ich gerade etwas Bemerkenswertes getan. Dabei habe ich sie nicht einmal richtig verteidigt. Ich habe ihm nicht gesagt, dass er sich wie ein Arschloch verhalten hat und dafür eigentlich verdient hätte, auf den Mond geschickt zu werden. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich ihm am liebsten eine reinhauen würde, weil Sicily wegen ihm geweint hat. Ich wäre womöglich der schlechteste Freund dieser Weltgeschichte, wenn das zwischen mir und Sicily echt wäre. Aber so ist es eben nicht. Zum Glück.
—-
Das Rennen am Sonntag verläuft ähnlich wie das Qualifying am Vortag. Gut für mich, ähnlich gut für Luciano und nicht wirklich gut für Pasquale. Ich hasse es, dass ich ihm nun vom Podium aus zuwinken könnte, statt mit ihm zu feiern. Es ist in ein Kiesbecken gefahren und auf dem letzten Platz gelandet. Das ist nicht einmal annähernd gut, wenn ich ehrlich sein soll. Braedin sieht ähnlich begeistert aus, klopft ihm aber dennoch auf die Schultern, denn er ist am Ende des Tages nicht der Boss hier. Ich weiß aber nicht genau, was läuft, weil ich im Cool-Down-Raum gewesen bin, während Pasquale sich dem Debakel stellen durfte. Ich schüttle mir den Champagner aus den Haaren, während trotz allem ein Grinsen auf meinem Gesicht liegt. Dieses Rennen hat mir persönlich Spaß gemacht und war eine gute Abwechslung zu der merkwürdigen Sommerpause, welche ich nun hinter mir habe. Ich kann nicht wiedergeben, was ich den Reportern auf ihre Fragen geantwortet habe, ich habe einfach darauf geachtet, die Sache neutral anzugehen und mich auf das Rennen zu konzentrieren und nicht auf die Arbeit hinter den Kulissen. Wenn die Untersuchung der Falls Pasquales Unfall nämlich schiefgeht, könnte das ganze Team Strafen davontragen. Jeder Punkt könnte entscheidend sein. Darum muss ich darauf achten, so viel wie möglich aus der ganzen Situation herauszuholen.
„Du bist noch nicht fertig mit dem Fahren, Nacer", informiert mich Braedin, während ich aus meiner Champagnerflasche trinke, welches mir das Rennen beschert hat. Die Trophäe ist bei dem Team, welche unseren Sieg besingt, während die Champagnerflasche herumgereicht wird und nun bei mir gelandet ist.
„Doch. Ich trinke. Fahren und Trinken ist eine schlechte Kombination, falls dir das noch keiner gesagt hat."
Braedin rollt mit den Augen.
„Für jetzt schon. Aber es ist möglich, dass am Abend noch einige Tests mit den Autos durchgeführt werden. Mit dir und Pasquale. Einzeln. Ich habe ihn schon darüber informiert. Ihr werdet einfach beide mit deinem Auto fahren müssen. Aber das sollte eigentlich kein Problem darstellen, weil es nicht um Bestzeiten, sondern um die Technik geht, die während eures Fahrens bei uns analysiert wird. Keine große Sache also und es dauert nur wenige Runden."
„Wieso glauben sie, dass wir uns selbst sabotieren würden, Braedin?", will ich wissen, während ich mich davon zurückhalte, zu viel zu trinken. Ich denke nicht, dass das im Bezug auf die Umstände eine gute Idee wäre.
„Weil dieser Fall sehr merkwürdig ist. So etwas geschieht nicht. Hier sollten keine Fehler passieren, was meistens auch so ist. Wenn sie also doch vorkommen, und das in diesem Ausmaß, munkelt man, dass es eben kein Zufall ist."
Ich nicke, während das für mich alles keinen Sinn macht. Aber es sind zu viele Kameras in der Nähe, als dass ich noch weiter darüber sprechen wollte. Man weiß nie, wer zuhört, und ich beabsichtige nicht, unnötige Risiken einzugehen.
Also zücke ich mein Handy und schieße einige Selfies mit dem Team, während wir den Sieg feiern, sodass ich später auch etwas posten kann. Gerade als ich mein Handy weglegen will, um den Sieg auszukosten, weil er doch jede Menge harte Arbeit benötigt hat, leuchtet mein Display auf. Sicily hat mir eine Nachricht geschrieben.
Glückwunsch zu dem Sieg
Damit ist auch schon das Kapital für heute zu Ende 🏆🍾
Was halten wir von Nacer?
Oder von Luciano?
Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat und dann lesen wir uns nächstes Wochenende wieder 🥰
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