Kapitel 10*

Der Teller vor mir wollte sich schier nicht leeren, egal wie sehr ich ihn auch anstarrte. Während ich die Wächter aus dem Augenwinkel mit einer Mordlust betrachtete, dass meine Gedanken zu dem Szenario abschweiften, in welchem ich sie dazu zwang, sich ein Messer durch das Herz zu stechen, würgte ich das Essen hinunter. Ich war überrascht, zu welchen Gedanken ich fähig war. Mit aller Kraft verdrängte ich diese - nicht, dass es tatsächlich noch passierte. Schließlich hasste ich diese Menschen, die wohl Mörder waren, aber selbst wollte ich zu keinem werden. Zumindest jetzt noch nicht, dachte ich.

Jake und Jennifer schienen die selben Gedanken zu haben wie ich. Jennifer, deren blondes Haar ihr ins Gesicht viel, runzelte die Stirn und schaute nachdenklich wie wütend, traurig und ängstlich auf das V auf ihrer Hand. Jake, der seinen Kiefer anspannte, durchlöcherte Jennifer mit seinem Blick, aber eigentlich schaute er nur in eine unbestimmte Richtung, in die sein Kopf gerichtet war.

Waren wir Freunde? Jake und Jennifer kannte ich nicht länger als sechs Stunden, doch was hatte das hier zu bedeuten? Dass, was wir erlebt, was wir gesehen hatten, das verband nur uns. Nur wir spürten den Schreck, der unser Herz schneller schlagen ließ. Nur wir wussten, wie es war, wenn das Blut gefror. Keiner hatte eine Ahnung, was hier vor sich ging. Nur wir. Und man kam wohl nicht drumherum, in bestimmten Situationen mit Menschen zusammenschweißen. Man konnte also meinen, wir waren Freunde. Alepin, Jake und Jennifer.

Beim Abendessen verstärkte sich das Gefühl, als sei man ein Gefangener. In jeder Ecke lauerten Wächter, aber das war schon immer so gewesen. Erst jetzt wurde mir klar, wie viele Buntblüter sich tatsächlich hier tummelten. Auf meiner Schule waren achthundert Schüler gewesen und ich war mir sicher, dass hier mindestens dreimal so viele waren. Wenn ich ehrlich war, war ich mir nicht im Klaren gewesen, wie viele Buntblüter existierten. In meinen fünfzehn Jahren hatte ich nie, bis jetzt, auch nur einen Buntblüter getroffen - zumindest wusste ich es nicht.

Drei Tische weiter erkannte ich Rory. Sie schaute betrübt und stocherte mit ihrer Gabel in ihrem Essen. Neben ihr saß ein Mädchen mit dunkelblauen Haaren (wobei ein deutlich schwarzer Ansatz zu sehen war), das die Augen zusammen gekniffen hatte und einen Wächter mit ihrem Blick förmlich tötete. Ich fragte mich, ob sie eine Schwarzblüterin war und somit eine Bedrohung darstellte. Aber gingen die Wächter so ein Risiko ein? Gut, theoretisch könnten wir uns vielleicht, wenn wir uns alle zusammen taten, gegen die Wächter stellen und sie besiegen. Doch ich allein, auch nicht mit Jakes und Jennifers Hilfe, würde das niemals schaffen. Aber Schwarzblüter waren dennoch eine größere Gefahr - glaubte ich zumindest.

Ich schaute mich weiter in der Halle um, Ausschau nach Alex haltend. Ich wusste nicht, wieso ich unmittelbar an sie dachte und mich um ihr Wohlbefinden sorgte, wenn ich an Schwarzblüter oder gar das Töten dachte. Aber vermutlich war das sowieso unnötig, denn ich hatte sie seit der Gala nicht mehr gesehen. Wenn sie nicht umgekommen war, was ich hoffte, war sie entkommen. Immerhin waren meine Gedanken in dieser Hinsicht positiv gestimmt.

Als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Blauhaarige richtete, folgte ich ihrem mordlüsternen Blick, der auf niemand geringerem als auf Mendes gerichtet war. Sofort verkrampfte sich meine Hand um die Gabel, die ich in dieser hielt. Offenbar wurde Mendes mehr gehasst als die anderen Wächter. Bisher hatte ich noch kaum Kontakt zu anderen gehabt, aber ich verabscheute Mendes zutiefst und konnte mir nicht vorstellen, jemanden mehr zu hassen. Ich hasste Paul Tryan, ganz klar. Ich hasste auch die Buntblüter Org. und ihren dämlichen Namen, keine Frage. Überhaupt hasste ich das Buntblütergesetz und alle Wächter, die sich gegen uns richteten. Aber Mendes stand ganz oben an der Spitze. Ich hatte keine Ahnung, woher dieser unbändige Hass auf ausgerechnet ihn kam, schließlich hatte er mich nicht schlechter behandelt, als andere. Aber etwas, und ich wusste nicht was, hatte er an sich, das zum Hassen regelrecht einlud. Und ich wagte es, die Vermutung aufzustellen, dass er etwas im Schilde führte.

»Wir sind keine zwölf Stunden hier, und ich halte es jetzt schon nicht mehr aus«, fing Jake plötzlich an. »Wir müssen etwas unternehmen, wenn wir nicht noch mehr wertvolle Menschenleben verlieren wollen.«

Er hatte Recht. Wir hatten keine Ahnung, was hier vorging, aber in einem Keller, in Kammer, hinter verschlossener Tür, lauerten Wände, die über und über mit Blut befleckt sind. Regale, auf denen reihenweise Phiolen mit Blut standen. Wenn wir nicht bald etwas unternahmen, würde unsere Art völlig aussterben. Vielleicht waren wir drei die nächsten.

Aber was war es, was die Wächter taten? Experimente? Tötete man die Buntblüter anschließend wirklich? Ich überlegte, was für Experimente sie durchführen könnten. Schauen, wie lange Buntblüter überleben konnten; das Blut analysieren und die Herkunft herausfinden. Aber wenn man uns lehrte, wie man unsere sogenannte Magie unterdrückte, musste das erstens heißen, dass Paul Tryan nichts davon wusste, weil er unter allen Umständen unseren Tod wollte und somit zweitens tatsächlich gegen das Gesetz gehandelt wurde.

Aber wusste er tatsächlich nichts davon? Bevor die Orangeblüterin neben mir ermordet wurde, hatte ein Wächter »Nicht schießen, man braucht sie lebend!« gerufen. Jetzt war ich wieder am selben Punkt angelangt, an dem ich auch schon auf der Gala war. Nämlich an dem Punkt der völligen Verwirrung. Es war ein Paradox, egal, wie man es drehte.

Wenn Paul Tryan hiervon wusste, dann würde das heißen, dass er nicht unseren Tod, sondern die Unterdrückung unserer Kräfte wollte. Aber er wollte unseren Tod, das konnte ich ganz klar in seinen Augen sehen. Wenn er in einer Sache nicht log, dann in der, in der er behauptete, wie sehr er Buntblüter verabscheute; dass er nicht über sie wissen wollte und einfach nur ihren Tod verlangte.

Wenn er nichts davon wusste, dann war es definitiv illegal. Dann hätten aber die Wächter auf der Gala gewusst, dass wir hier her geschickt werden würden. Wie also konnten sie sich mit uns an allen vorbei stehlen, Tryan austricksen, ohne erwischt zu werden? Immerhin würde es ihm ein große Freude bereiten, unsere Leichen zu sehen, die Tötung mit zu beobachten oder den Mord selbst zu begehen.

Mein Kopf dröhnte. Ich zählte eins und eins zusammen und kam auf fünf. Nichts ergab einen Sinn. Das frustrierte mich so sehr, dass ich meine Gabel auf den Tisch knallte und aufsprang. Ich hatte gesehen, wie andere Buntblüter den Saal verlassen hatten, ohne dass die Wächter etwas gesagt oder getan haben. Deswegen schloss ich, dass ich einfach so gehen konnte. Und das tat ich auch, den Blick auf den Boden gesenkt. Ich wollte jeglichen Augenkontakt vermeiden. Umso mehr erschrak ich, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte, nachdem ich den Saal hinter mir gelassen hatte. Ich wirbelte herum, doch mir waren nur Jake und Jennifer gefolgt. Gehört hatte ich sie nicht.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Jennifer und zog ihre Hand wieder zurück.

Ich lachte sarkastisch auf. »Natürlich, mir geht es wunderbar.« Ich drehte mich um und lief einige Schritte fort. Natürlich folgten sie mir. »Ich habe von nichts eine Ahnung, und das desillusioniert mich! Jake hat Recht: Nur wenige Stunden reichen mir aus, um die Wände eintreten zu wollen. Und das allerschlimmste ist, es gibt einen Keller, in welchem Blutabnahmen stehen! Dieses Gebäude wir von blutbefleckten Wänden gehalten!«

Zu Ende hin wurde ich immer lauter, sodass der letzte Satz ein einziges Schreien war. Ich hatte sie mühselig unterdrückt, aber trotzten traten Tränen in meine Augen. Ich darf Schwäche zeigen, sagte ich mir, denn ich bin eine verängstige Schülerin, so wie jeder andere hier auch. Ich schaute nach oben und blinzelte die Tränen weg, aber neue kamen nach. Wohl oder Übel wurden meine nächsten Worte von einem Schluchzer begleitet: »Ich habe keine Ahnung, ob meine Eltern noch leben und es ist möglich, dass ich das nie herausfinden werde.« Sie schauten mich mitfühlend an und ich blickte weg. »Nein, schaut mich nicht so an. Als würde es euch besser gehen.«

»Nein«, flüsterte Jake. »Nein, es geht uns nicht besser. Aber auch nicht schlechter. Wir sitzen alle im selben Boot und müssen alle das selbe Leiden ertragen. Nicht nur wir drei, sondern auch die hundert anderen.«

»Sollten die Worte aufmunternd klingen?« Jennifer schlug ihm leicht auf den Arm. »Die ziehen sogar mich runter. Wir kommen hier raus, irgendwie.«

»Und dafür brauchen wir einen Plan«, sagte Jake und ich blieb ruckartig stehen, als ich die erste Stufe einer Treppe meinen wollte. Ich drehte mich zu Jake um, der die Arme verschränkt hatte und ich schaffte es, ihn wütend anzufunkeln. Er kniff die Augen zusammen. »Habe ich wieder was falsches gesagt?«

»Seit ich auf dieser beschissenen Gala war«, erklärte ich, »ging alles den Bach hinunter. Erst dachte ich, mein Plan ist gescheitert. Das Blut meiner Eltern mischen, natürlich sollte es mir den sicheren Tod einbüßen! Wie kam ich nur auf so eine blöde Idee? Doch dann kam dieses verwirrend hübsche Mädchen, das mich nicht verpfiffen hat. Nein - im Gegenteil. Sie hatte schwarzes Blut und hat mir aus der Patsche geholfen. Super, mein Plan geht doch auf, dachte ich. Dann war da dieses andere Mädchen. Sie hatte orangenes Blut. Dann hetzte uns Tryan die Wächter auf den Hals und wir rannten. Schneller als ich es realisieren konnte, fällt die Orangeblüterin neben mir zu Boden. Ich habe einen Mord mit angesehen! Und bevor ich in die Ohnmacht glitt, sah ich meine Eltern, völlig am Boden zerstört, von Wächtern zurückgehalten. Mein bescheuerter Plan ging also doch in die Binsen.« Kurz holte ich Luft, dann sprach ich mit einer gefährlichen Ruhe weiter: »Dieses Risiko gehe ich nicht erneut ein. Um euch dann sterben zu sehen? Nein, danke. Ich werde nie wieder einen Plan schmieden, um mich doch nur am heißen Eisen zu verbrennen.«

Ihre Münder hatten sich aufgeklappt und sie schienen sprachlos. Jake hob sein Finger, doch lies ihn wieder sinken. Stattdessen war es Jennifer, die todernst sagte: »Nein, ich gebe Jake recht - wir brauchen einen Plan. Dein Plan war gut, nur nicht gut genug. Nicht für sie. Er ist nur schief gegangen, weil du einfach nicht genügend Zeit hattest.«

»Einen Tag«, flüsterte ich.

»Genau.« Sie lächelte schwach. »Aber jetzt haben wir mehr Zeit. Wir können länger überlegen, den Plan mehr durchdenken. Und wir haben viel mehr Köpfe.«

Jake hob eine Augenbraue. »Wir sind drei.« Mit dem Zeigefinger zeigte er demonstrativ auf jeden von uns und zählte dabei laut mit. »Das sind nicht sehr viele und keiner mehr, als Alepin und ihre Eltern zur Verfügung hatten.«

Jennifer verdrehte die Augen. »Aber im Gegensatz dazu haben wir hier hundert weitere Köpfe, die uns nicht für unseren Plan anschmieren würden. Hunderte Buntblüter, die die Freiheit wollen.«

Ich wägte die Möglichkeiten ab. Ich wollte sie nicht wegen eines gescheiterten Plans in den Tod stürzen lassen. Allerdings waren Jennifers Argumente durchaus berechtigt. Mehr Zeit, mehr Leute. Trotzdem schüttelte ich den Kopf. »Ich werde nur das schwarze Schaf in euerer Mitte sein, da bin ich mir sicher.«

Ich fuhr mit der Hand über mein Gesicht und atmete einmal tief ein und aus. Als ich meine Augen öffnete, die ich wohl geschlossen hatte, kaute Jennifer auf ihrer Lippe. Nun waren wohl auch ihr die Worte ausgegangen, nicht aber Jake.

»Nur weil einmal etwas schiefgegangen ist?«, fragte er. »Das passiert doch jedem mal. Wo ist dein Selbstvertrauen geblieben, Alepin Vason?« Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihm meinen Namen genannt zu haben. Da fiel mir wieder der Unterricht (ich weigerte mich, an das Wort Unterricht ohne Abscheu zu denken) mit Mendes ein, in dem ich meinen Namen nannte. Er war ebenfalls anwesend gewesen und musste ihn verstanden haben.

»Und selbst wenn«, fuhr er fort, »dann sagst du eben nichts und bist nur anwesend.«

Ich lachte auf. »Das schwarze Schaf kann auch ohne Worte Dummes anstellen.«

»Ach komm schon. Denk nicht so negativ von dir. Denk doch daran, wie süß Rache ist. Und wir wollen Süßes!« Er grinste.

»Tja«, murmelte ich. »Aber manchmal ist Blut süßer. Und ich werde kein Blut vergießen.« Obwohl ich mittlerweile nichts mehr dagegen hätte.

Jennifer grinste und hob eine Augenbraue. »Blödsinn, Rache ist total süß.« Sie leckte sich über die Lippen. »Blut schmeckt metallisch.«

»Das nenne ich mal ein Motto«, giggelte Jake. »Rache ist süß, Blut schmeckt metallisch.«

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