#46 Red And White


* 4 Wochen später *

Taehyungs P.o.V.

Ich war lange nicht so gut gelaunt. Genaugenommen bin ich schon seit Tagen so gut gelaunt, und es sieht nicht so aus als würde diese Laune in näherer Zukunft durch irgendetwas getrübt werden: Urlaub, schönes Wetter, endlich mal wieder genug Schlaf und keine nervtötenden Kollegen, die dich herumkommandieren.

Was will man mehr?

Ich sitze im Schneidersitz auf der breiten Brüstung der Dachterrasse, den Rücken an die warme Hauswand gelehnt, und lasse mir mit geschlossenen Augen die Frühlingssonne ins Gesicht scheinen.
Jungkook ist irgendwo unterwegs, kein Wunder, er muss immer irgendetwas tun, sonst würde er vermutlich eingehen wie eine Zimmerfplanze, die zu gießen ein paar mal zu oft vergessen wurde.
Ich habe also komplett meine Ruhe.

Wundervoll.

Kurz wird meine Tiefenentspannung von dem Gedanken gestört, dass mein Kumpel aus der Pampa ja heute Geburtstag hat und ich dort eingeladen bin, doch dann fällt mir das Geschenk ein, dass fertig auf dem Küchentisch steht, die Klamotten, die auf dem Bett bereitliegen und die Autoschlüssel, die wie immer auf dem Regal im Flur herumfliegen.

Alles in bester Ordnung, keine Hektik, nur früh genug fertig werden, um die eineinhalbstündige Fahrt in die Berge hinter mich zu bringen und pünktlich bei ihm zu sein, stelle ich zufrieden fest und drifte wieder in meine Tagträumerei ab.

Ich lehne den Kopf nach hinten, bis mein Hinterkopf die raue Wand berührt, und öffne blinzelnd die Augen. Mein Blick schweift über den stahlblauen, wolkenlosen Himmel, der an den Rändern schon hauchzart die rotgolgendenen Farben der Dämmerung annimmt wie ein angelaufenes Glas.

Bald wird er brennen, dieser Himmel, in allen Farben, mit denen die Sonne zu malen im Stande ist.

Ich grinse. Ich mag Sonnenuntergänge, und von hier oben kann man sie besonders gut sehen.

Ein dumpfes Vibrieren an meinem Bein unterbricht meine schwärmerischen Gedanken, und ich blinzle kurz gegen die Sonne, ehe ich das kleine Gerät unter meinem Oberschenkel hervorziehe und es mit der anderen Hand gegen das Licht abschirme, um etwas darauf lesen zu können.

Mein Handy summt munter weiter, bis ich den Anruf annehme.

"Hey, Hoseok."

"Hi, Kleiner.", begrüßt er mich, und ich höre, dass er lächelt. "Was treibst du so?"

"Na, was wohl." Ich zucke die Schultern, auch wenn er das nicht sehen kann.

"Ja gut, stimmt. Was frage ich eigentlich?", lacht er. Er weiß genau, wie ich meine Freizeit verbringe, denn er weiß, dass ich ein Sonnenanbeter bin.
"Aber fall mir nicht vom Dach."

"Ist gut, Oma.", antworte ich schmunzelnd und strecke die Beine aus, als mir etwas einfällt.

"Du?"

"Ich?"

"Hast du heute Abend schon was geplant?"

Er hält kurz inne. "...Wieso?"

"Weil ich nachher auf eine Geburtstagsparty fahre und nichts gegen eine Begleitung hätte.", erkläre ich ihm und überlege, ob ich ihm erzählen soll, wo es hingeht.
Schließlich ist es schon für mich nicht einfach.
Auch wenn es vielleicht für manch Einen verwerflich sein mag, letztendlich entscheide ich mich aus dem Bauch heraus dagegen.

"Klar.", willigt er spontan ein. "Warum nicht?"

"Super! Ich hol' dich dann in einer Dreiviertelstunde ab!"

"Eine Dreiviertelstunde?! Taehyung, das ist ganz schön-"

"Jaja, ich find's auch total schön! Bis dann also!", würge ich seinen Protest hastig ab und lege schnell auf.

Langsam lasse ich das Handy sinken, und während ich auf die Uhr schaue und die Beine von der Mauer schwinge, macht sich ein undefinierbares Gefühl in mir breit, das mich trotz der Sonne ganz kurz frösteln lässt.

-

Mit den Fingerspitzen trommle ich gleichmäßig auf das Lenkrad, doch auch das vertreibt das seltsame Gefühl nicht, das sich frech und überaus aufmüpfig in meinem Hinterkopf eingenistet hat.

In Gedanken versunken starre ich hinaus auf die stille Straße. Wie ich vermutet hatte, brennt der Himmel. Weiße Schleierwolken zerschneiden das glühende Rot, und ich versinke immer weiter in die Betrachtung des Sonnenunterganges; so sehr, dass ich einen regelrechten Herzstillstand bekomme, als die Autotür schwungvoll aufgeht und ein gut gelaunter Hoseok sich auf den Beifahrersitz fallen lässt.

"Erschreck mich doch nicht so!", fahre ich ihn gespielt eingeschnappt an.

"Guten Morgen auch, Tae, wir waren verabredet!", begrüßt er mich grinsend und knufft mich in den Oberarm, ehe er sich umständlich in den Anschnallgurt fädelt und anschließend die Ärmel seines weißen Hemdes aufkrempelt, das locker im Bund seiner schwarzen Jeans steckt.

Auffordernd schaut er mich an, als ich noch immer nicht den Motor starte. Das bissige kleine Gefühl hindert mich hartnäckig daran, und ich habe keine Ahnung, wie ich es loswerden könnte.

"Vertraust du mir?", frage ich unvermittelt und erschrecke mich selbst vor der plötzlichen Frage.

Auch Hoseok stockt mitten in der Bewegung und schaut mich überrascht an.

"Was? Natürlich, ich vertraue dir blind! Das solltest du mittlerweile wissen, Taehyung.", entgegnet er nach einem Moment der Irritation ernst und fügt dann scherzend hinzu: "Es sei denn, du hast vor, mich zu entführen oder so."

Das gemurmelte "So ähnlich..." geht im Aufknurren des Motors unter, ehe ich den alten Wagen aus der Parklücke auf die Straße hinaus lenke. Seine ehrliche, berührende Antwort hat das kleine Biest wenigstens ein Stück weit vertreiben können, und ich versuche, nicht daran zu denken, was auf uns zu kommt...

-

Nach einer Weile biege ich von der breiten Landstraße in die kurvige Straße hinauf in die Berge ab, während Hoseok kopfüber im Fußraum hängt und nach irgendetwas sucht, das ihm vorher heruntergefallen ist.

Als er sich aufrichtet, stößt er sich kräfitg den Kopf am offenen Handschuhfach, was mir ein schmerzhaftes Déjà-vu durch den Kopf jagt. Schnell verscheuche ich die Bilder mit einem Kopfschütteln.

"Verdammt nochmal", flucht er dann. "Kleiner, was hast du auch für eine Schrottkiste, wo Knöpfe aus dem Radio fallen und das Handschuhfach von alleine aufgeht, ohne das man irgendwas damit zu-"

Er bricht ab als er die Straße erkennt, und lässt den abgefallenen Knopf wieder fallen, der klappernd auf der nach wie vor geöffneten Handschuhfachklappe liegen bleibt.

Wie versteinert starrt er durch die Windschutzscheibe auf den grauen, rissigen Asphalt, und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich seine Hand so fest um den Türgriff schließt, dass die Fingerknöchel weiß werden. Seine Kiefermuskeln arbeiten sichtbar, so sehr beißt er die Zähne aufeinander. Angespannt warte ich darauf, dass er etwas sagt, doch er blickt nur stumm auf die Straße, sieht mich nicht einmal an, und ich traue mich nicht, ihn anzusprechen.

Dann stößt er plötzlich heftig die Luft aus und atmet einmal, zweimal tief durch, wobei er kurz die Augen schließt. Sein Griff lockert sich, die Schultern entspannen sich wieder - nicht völlig, aber ein Stück weit - und er hebt den Knopf wieder auf, um ihn schließlich scheinbar in aller Ruhe wieder ans Radio montieren und dann das Handschuhfach fest zu verschließen.

Verwundert über seine Reaktion schaue ich ihn an. Mit allem hätte ich gerechnet; dass er mich anschreit, mich bittet, umzudrehen oder anzuhalten, mit allem, aber nicht damit.

Er erwidert den Blick kurz und lächelt leicht. Seine Augen spiegeln dunkel eine seltsame Ruhe und etwas, das ich nicht deuten kann.

"Ich hab gesagt ich vertraue dir.", ist das Einzige, was er sagt, ehe er sich daran macht, einen passenden Sender zu suchen.

Anscheinend spürt er meinen immer noch irritierten Blick auf sich, denn ohne mich anzusehen tadelt er mich: "Und jetzt schau auf die Straße. Schlimm genug, dass du mich hierher bringst. Dann fahr wenigstens vernünftig."

Ich weiß, dass er mir nicht böse ist, doch trotzdem richte ich augenblicklich meinen Blick auf die Fahrbahn und fasse das Lenkrad fester, während er am Radio herumspielt, sich kurz darauf zurücklehnt und anfängt, irgendein ein Lied mitzusummen.

-

Es ist verdammt warm im Auto. Ich löse die obersten Knöpfe meines dunkelroten Hemdes, während ich Hoseok aus dem Augenwinkel beobachte.

Ja, es ist warm, aber das kommt nicht nur von der leicht angeschlagenen Klimaanlage.

Ich weiß genauso gut wie er, wo wir sind, und die Anspannung heizt uns noch mehr auf als die Wärme an sich.

Noch zwei lange Biegungen, dann sind wir genau dort. Ich weiß wie schwer es für ihn sein muss, und ich bewundere seine Stärke, mit der er hier sitzt und sogar noch mit mir herumalbert.

Zwar sitzen wir beide hier mitsingend und herumspaßend; verdammt angespannt sind wir trotzdem. Den Blick konzentriert  auf die Straße gerichtet summe ich ein altes Lied mit, das gerade läuft, eines meiner Lieblingslieder, genau das, das unmittelbar vor dem Unfall lief.

Eine Gänsehaut überzieht meine Arme und meinen Nacken und macht keine Anstalten, sich jemals wieder verflüchtigen zu wollen. Trotz der Wärme fühle ich mich als hätte eine kalte Windböe mich erwischt.

Durch die gerade zu grünen beginnenden Bäume sieht man rot-weißes Absperrband im leichten Wind flattern, dort, wo immer noch das Loch im Zaun ist. Hoseok greift nach meiner Hand, die ein wenig verkrampft auf den Schalthebel liegt, und ich spüre, dass auch seine Finger kalt sind und leicht beben.

Konzentriert lenke ich den Wagen um die kritische Kurve, und das Geäst gibt den Blick frei auf die halb zugewucherte Schneise, die das Motorrad sich damals ins Gestrüpp geschlagen hatte. Es sieht aus wie eine tiefe Narbe, die nie mehr ganz verheilen wird, genau so wie die Narbe, die er auf seiner Seele trägt.
Wie Reißzähne stehen die abgebrochenen Enden des Zauns noch immer in die Luft, dazwischen zerrt der Wind an dem rot-weißen Absperrband.

"Soll ich anhalten?", frage ich leise, mit einem Seitenblick auf Hoseok, der mir ziemlich blass erscheint; seine gerade, starke Haltung lässt ihm jedoch nichts anmerken. Er atmet langsam aus und schaut mich an.

"Nein.", sagt er schließlich mit fester Stimme und fährt dann bedächtig fort: "Ich bin beim letzten Mal hier nicht durchgekommen. Beim letzten Mal war hier Schluss, das Ende meiner Reise. Beim letzten Mal hat diese verdammte Kurve mich gebrochen. Diesmal nicht. Dieses Mal lasse ich das hier einfach hinter mir. Vielleicht komme ich irgendwann zurück, vielleicht werde ich irgendwann mal hier sein und alles an mir vorbeiziehen lassen. Aber nicht heute. Heute bist du bei mir und deshalb bleiben wir nicht stehen. Ich bin zu oft stehen geblieben, und du hast mich dazu gebracht, weiterzulaufen. Wir bleiben hier nicht stehen, weil du mir geholfen hast, im Kopf darüber wegzukommen, genau so wie du mir heute dabei hilfst, ganz real und echt darüber wegzukommen. Dieses Mal lasse ich mich nicht brechen."

"Okay.", antworte ich ein wenig sprachlos und reiße den Blick endgültig von dem los, was mal war.
Was uns zusammengebracht hat. Wo alles angefangen hat. Reiße den Blick los von der Zerstörung und dem Leid, das hier begonnen hat, vom 'Vorher'; von dem angetrunkenen, verzweifelten Jungen, der das hier mit angesehen hat und dem einsamen, schwerverletzten Motorradfahrer, dessen Leben irgendwo dort unten im Dreck, im kalten Schlamm in den Händen eines anderen gelegen hat.

Wir fahren wortwörtlich weg von dem kaputten jungen Mann, der dachte, es wäre alles vorbei, und von der schwarzen Zeit, die er durchmachen musste, um jetzt hier zu sein. Von dem hartnäckigen Krankenpfleger, der ihn nicht aufgab und deshalb zu dem Freund wurde, der ich immer noch bin, und dem unbelehrbaren Patienten, der zu dem offenen, warmherzigen Menschen wurde, der auch er heute ist.

Das alles ist Geschichte. Eine Geschichte, die zwar vorüber ist, aber mit roter Tinte niedergeschrieben in unseren Herzen, in unseren Köpfen, in unseren Seelen. Wir teilen ein Schicksal, und wir werden nie vergessen, was hier, im Wald im Nirgendwo, passiert ist, was dort unten im Schlamm, auf dem nassen Waldboden zwischen Blut, Dornen und abgebrochenen Ästen, entstanden ist. Denn es ist passiert, und wir werden nicht versuchen, es zu vergessen. Es ist passiert, und egal wie hart es war, es war gut, dass es passiert ist.

Wie ein Symbol für das Ende all dessen und für den Beginn eines neuen Kapiteld in unseren Lebensgeschichten regnen plötzlich kleine weiße Blüten von den Bäumen links und rechts auf die Straße, auf das Autodach, die Motorhaube, überallhin.

Wie leuchtender Schnee aus einem flammenden Himmel, Schnee, der alles in Eis bettet und fortwäscht, legen sie sich über all das, was hinter uns liegt.

Ja, es ist vorbei, und doch ist es noch lange nicht zu Ende.

Wir sind immer noch hier, und wir haben noch so viel zu-

"TAEHYUNG, PASS AUF!!!"

Hoseoks Hand krallt sich an meine, seine Finger sind auf einen Schlag eiskalt. Ich spüre ihn überdeutlich neben mir ohne ihn anzusehen, wie eine elektrische Spannung, wie einen starken Magneten, und plötzlich stehe ich unter Starkstrom.

Meine Augen, die die ganze Zeit über fest auf die Straße geheftet waren, stellen das scharf, was ich schon viel früher hätte wahrnehmen müssen, auch wenn ich weiß, dass das nicht möglich gewesen wäre; und es durchzuckt mich wie ein lähmender Stromschlag.

Zwar liegt die Kurve schon hinter uns, doch auf dieser Straße gibt es mehr als nur diese eine.

Als hätte man mir mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen sehe ich plötzlich überdeutlich klar das Spiegelbild des roten Himmels in dunklem Glas.

Wie ein Eimer Eiswasser ergießt sich das grelle Licht über mich, und eine eiserne Flutwelle rollt auf mich zu.

Das ist der Moment, indem wir beide es ganz genau wissen.

Wissen, dass wir es nicht ändern können.

In meinem Kopf höre ich Hoseoks Stimme "Ich danke dir" sagen, während die selben Worte meine Lippen verlassen.

Mit der freien Hand zieht er meinen Kopf an seine Schulter als wollte er mich beschützen vor dem, was kommt, so wie ich ihn vor dem beschützt habe, was war, und vergräbt das Gesicht in meinen Haaren, während ich das Lenkrad loslasse und mich an ihm festhalte.

Ich kann es nicht mehr ändern.
Vielleicht ist es ja Schicksal.

Und dann ist da alles auf einmal, im Bruchteil einer Sekunde.

Gefühle.

Erinnerungen.

Zu hell.

Rot.

Zu laut.

Weiß.

Zu schnell.

Rot.

Zu nah.

Weiß.

Zu still...



















































Schwarz.












° ° °
The End

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