#45 Friends
Ich folge Jimin die Treppen hinauf auf die Kinderstation. Er hat mir noch immer nicht gesagt, was genau eigentlich das Problem ist, und nach einer Weile habe ich es aufgegeben, danach zu fragen, denn ich werde es schließlich gleich erfahren.
Auf Station herrscht wie immer reges Treiben, und vor einer Zimmertür hat sich ein kleiner Pulk an Leuten gebildet, die angeregt hin und her diskutieren, darunter Doktor Park, Doktor Choi und eine Ärztin die ich nicht kenne, zwei Schwestern, ein junges Mädchen - vielleicht sechzehn - und ein Paar, vermutlich die Eltern. Die Frau weint, während der Mann einen knallroten Kopf hat und wild gestikuliert.
Doktor Park schiebt sich durch den Menschenauflauf und kommt auf uns zu.
"Hoseok. So schnell sieht man sich wieder. Gut, dass du so schnell gekommen bist."
"Worauf hätte ich warten sollen?", entgegne ich schulterzuckend, während er schon wieder auf dem Absatz kehrt macht und mich mit einer Geste hinter sich her winkt.
Energisch scheucht der Arzt die Leute von der Tür weg und lässt mich ins Zimmer.
"Versuch dein Glück bei ihm. Von uns hat es niemand geschafft, nichtmal seine Familie."
Damit klopft er mir auf die Schulter, schließt die Tür und Stille umfängt mich. Ich drehe mich um, nach wie vor keine Ahnung, was los ist, und versuche, die Situation einzuordnen.
Zunächst fällt mir nichteinmal auf, dass sich im Zimmer eine weitere Person befindet, denn der blasse, schmale Junge geht in dem hellen, hoch aufgetürmten Bettzeug völlig unter. Nur sein schwarzes, zerzaustes Haar sticht aus dem sterilen Weiß hervor. Von Weitem fällt mir nichts an ihm auf, keine Verbände, keine Wunden oder Narben, nichts, bloß ein zerbrechlicher, zarter Körper, völlig verloren in einem viel zu großen Krankenhausnachthemd.
Langsam gehe ich auf ihn zu. Der Junge reagiert nicht, wendet nichteinmal den Kopf; er zuckt mit keinem Muskel, starrt nur stillschweigend weiß Gott wohin. Vor seinem Bett bleibe ich stehen, warte auf irgendeine Reaktion, die nicht kommt. Seine dunklen Augen sind ausdruckslos auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, darin ist keinerlei Leben zu finden, nur Leere, Müdigkeit und Stille, ein Ausdruck, der definitiv nicht in die Augen eines Kindes gehört.
Seine schmalen Finger sind krampfhaft in den Bettbezug vergraben, er umklammert die Decke so sehr, dass ich fürchte, es wird nie mehr möglich sein, diese Finger je aus dem Stoff zu lösen.
In seinem dünnen Arm steckt eine Infusionsnadel, vermutlich bekommt er Schmerzmittel, doch es sieht geradezu brutal aus, wie die Nadel unter der Haut verschwindet, als wäre sie zu groß für ihn, als hätte man mit einer Lanze eine Porzellanpuppe gestochen.
Ich habe keine Ahnung, was er hat, und doch tut er mir jetzt schon unfassbar leid.
"Hey.", spreche ich ihn leise an. Vielleicht bekomme ich ja doch irgendeine Reaktion, möglicherweise.
"Ich bin Hoseok.", stelle ich mich vor. "Und du?"
Nichts.
"Hmm...", mache ich leise und schaue auf das Schildchen an seinem Fußende. "Jisung."
Ich mache einen Schritt vom Bett weg, ziehe mir einen Stuhl heran und setzte mich neben ihn. Der Junge starrt noch immer ins Leere, als hätte man ihn einfach ausgeschaltet, den Stecker gezogen.
"Also...Jisung, ja? Okay. Hey, sagst du mir, wie alt du bist?... ... Na gut. Pass auf, du musst nicht mit mir reden. Niemand zwingt dich dazu. Aber wenn du es trotzdem machst, dann kann ich dir viel leichter helfen."
Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich bin kein Arzt, kein Psychologe, kein Therapeut, nur ein dahergelaufener Ex-Patient. Ich weiß ja nichtmal, was er hat. Sagen wird er es mir garantiert nicht. Und Doktor Park hat es mir natürlich auch nicht verraten. Ich rede also gegen eine Wand, und ich weiß nicht einmal, was ich ihr erzählen soll.
"... Was ist dir passiert, hm? ... Okay, vielleicht magst du nicht darüber reden. Kann ich verstehen, manchmal ist es hart, darüber zu reden. Weißt du, selbst mir fällt es noch schwer, zu erzählen. Aber es wird leichter, glaub ich, immer leichter, je besser man darüber wegkommt."
Was rede ich denn?! Ich weiß doch gar nicht, was passiert ist!
Ich seufze.
"Na gut. Wenn du mir nicht erzählen möchtest, was dir passiert ist, erzähle ich dir einfach was von mir. Vielleicht hörst du mir ja zu, ich weiß ja nicht, was in deinem Kopf gerade vorgeht. Okay? Okay. Ich saß vor ein paar Wochen noch genauso da wie du. Ich hatte einen schlimmen Unfall, deshalb war ich im Krankenhaus. Ist eine blöde Masche, dieses 'Ich kann dich verstehen'-Ding, ich weiß...Aber ich denke, es hilft vielleicht wirklich. Wenn man einen Verbündeten hat, weißt du? Ich wollte auch mit keinem reden. Und wenn, dann war ich richtig gemein zu ihnen. Ich war böse auf alles und jeden, weil ich alle dafür verantwortlich gemacht hab, was mit mir passiert ist. Aber die wollen alle bloß helfen, nett sein. Und das sind sie auch. Und ohne sie wäre ich nicht hier, sondern immer noch da, wo du jetzt grade bist. In einer grauen Welt, irgendwie gefangen in meinem eigenen Kopf. Ich hab gedacht, es wird nie wieder gut, und deswegen war ich verdammt wütend. Und traurig."
Nach wie vor nichts, und ich habe auch nicht wirklich das Gefühl, das meine Märchenstunde irgendetwas bringt, aber irgendetwas anderes sagt mir, dass ich weitermachen sollte, und ich gebe dem Gefühl Recht. Wenn es ihm nicht hilft, hilft es vielleicht wenigstens mir.
"Ich hab lange geschlafen. Und als ich wach geworden bin, war auf einmal alles anders, verkehrt, und das hat mir Angst gemacht, weil ich nicht wusste, wie es weitergehen wird. Aber dann ist es einfach von selbst weitergegangen, und es ist gut geworden. Es war eine schlimme Zeit, aber ich hatte jemanden, der mir geholfen hat, einen Freund, und mit einem Freund übersteht man auch schlimme Zeiten. Ich glaube, du hast auch gerade eine schlimme Zeit. Aber ich glaube auch, dass du sie überstehen kannst. Du bist doch bestimmt ein starker Junge, Jisung, oder? Bestimmt. Und denkst du nicht auch, dass es viel schneller gehen würde, dass die schlimme Zeit viel schneller zu Ende wäre, wenn du dir helfen lässt? So ist es nämlich. Aber das musste ich auch erst verstehen, und das hat ganz schön lange gedauert..."
Ich seufze, verschränke die Arme vor der Brust und strecke die Beine, die ich zuvor unter dem Stuhl gekreuzt hatte, aus. Die abgeschnittene Hose rutscht mir über das Knie hoch und meine Prothese kommt zum Vorschein. Ich selbst nehme es kaum noch wahr, es ist eben ein Teil von mir geworden, doch in den Jungen kommt plötzlich Bewegung, so plötzlich, dass ich mich schon fast erschrecke.
Er dreht den Kopf und sein starrer Blick schweift ruckartig von seinem Fixpunkt an der Wand zu meinem künstlichen Bein. Einen Augenblick lang starrt er es an, und ohne den Blick davon zu lösen, löst er die verkrampften Finger aus der Bettdecke und greift neben sich, um sie schließlich wegzuschieben. Sein Blick springt hin und her zwischen meinem Bein und seinem - oder dem, was davon übrig ist.
Dem Jungen hier vor mir fehlt ein Bein.
Genau wie mir.
Zaghaft streckt er die Hand aus und berührt das stabile Metall und Plastik meiner Prothese. Dann schwebt seine Hand kurz zwischen uns in der Luft, ehe er ebenso behutsam mit den Fingerspitzen über sein dick verbundenes Bein streicht.
Er hebt langsam den Kopf, lässt die Decke wieder über sein Bein fallen und schaut mich zum ersten Mal richtig an. In seinen Augen ist noch immer kein richtiges Leben, nur irgendein winziger Funke,
ich kann seinen Ausdruck nicht wirklich deuten, trotzdem bin ich unheimlich froh darüber, irgendwie zu ihm durchgedrungen zu sein.
"Ich bin zehn."
Die leise, brüchige Stimme ist fast nicht hörbar. Ich schaue ihn an, überrascht, dass er mit mir gesprochen hat.
"Ich heißt Jisung. Und ich bin zehn.", wiederholt er, heiser und zaghaft.
"Hallo, Jisung." Ich lächle, doch in mir friert noch immer der Schock über sein junges Schicksal meine Nerven ein.
"Hallo, Hoseok.", entgegnet er und verfällt wieder in Schweigen.
"Du hast mir zugehört?"
Er nickt kaum merklich und seine Hände umklammern wieder die Bettdecke. Er schaut auf seine Finger.
"Willst du mir erzählen, was dir passiert ist?", frage ich mit ruhiger Stimme.
Erst schüttelt er den Kopf. Dann nickt er. Dann schüttelt er wieder den Kopf, und schließlich sagt er: "Ich weiß es nicht."
"Das macht nichts. Wenn du willst, kannst du es mir auch später noch erzählen."
"Ich weiß es nicht. Was passiert ist. Ich habe geschlafen, danach. Ganz lange, so wie du."
Er schaut auf, sieht mich an und in seinen Augen schimmern Tränen.
"Aber es tut weh. Es darf nicht wehtun, ich kriege doch Medizin."
"Dir tut bestimmt nicht dein Bein weh. Dir tut wahrscheinlich dein Herz weh.", sage ich und spreche damit aus, wie ich mich selbst so lange gefühlt habe. Der Kleine hier lebt meine Geschichte nochmal. Ich weiß zwar nicht, wie es passiert ist, aber was passiert ist, und es ist das Gleiche, was ich durchlebt habe.
Und ich werde ihm helfen, darauf gebe ich alles, was ich habe. Ich will ihm helfen, so wie Taehyung mir geholfen hat, denn ich will nicht, dass jemand hier allein sein muss, erst recht kein Kind. Das ist meine Bestimmung.
Wieder nickt er und klammert sich noch stärker ans Bettzeug.
"Ich kann nie mehr Fußball spielen. Und Fangen. Und nie mehr klettern und schwimmen und laufen und stehen und...und...", steigert er sich in seine Verzweiflung hinein und schluchzt auf.
Ich setze mich vorsichtig auf seine Bettkante, ich will ihm nicht näher kommen als er will, ihn nicht erschrecken.
Zögerlich strecke ich den Arm nach ihm aus, und ebenso zögerlich rutscht er zu mir und vergräbt sein Gesicht in meinem Shirt.
Vorsichtig nehme ich den Kleinen in den Arm, und während er sich schluchzend und zitternd an mir festhält, rede ich leise auf ihn ein.
"Hör zu, Jisung. Ich verstehe dich. Ich hab das alles auch durchgemacht, so wie du. Ich hab das auch gedacht. Und ich wollte nicht glauben, dass das nicht stimmt. Schau mich an. Ich kann aufstehen, ich kann laufen, ich gehe oft schwimmen, und bestimmt kann ich auch Fußballspielen. Obwohl ich glaub ich nicht besonders gut darin bin, ich schieße bestimmt nur Eigentore..."
Zwischen zwei Schluchzern muss der Junge in meinen Armen kichern.
Dass meine grottigen Fußballfähigkeiten mir noch mal behilflich sind...
"Und das schaffst du auch. Und wenn du magst, helfe ich dir dabei. Und wenn es hundert Jahre dauert, dann dauert es hundert Jahre, aber ich bleibe bei dir und helfe dir, das verspreche ich."
Er hebt den Kopf und schaut mich unter Tränen grinsend an. "So alt wirst du doch gar nicht. Du bist doch schon mindestens hundert.", nuschelt er schniefend.
Ich muss schmunzeln. "Das werden wir ja sehen. Und jetzt, Jisung", ich krame ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfe ihm vorsichtig die nassen Wangen ab, "trocknen wir erstmal deine Tränen ab. Und dann..."
Er zieht die Nase hoch. "Dann?"
"Dann hol ich uns ein Eis."
Sofort macht sich ein Lächeln auf seinem schmalen Gesicht breit.
"Aber vorher", sage ich und hebe den Zeigefinger, "Vorher machen wir noch einen Deal. Ich versprech dir, dass ich jeden Tag zu dir komme, und dich niemals im Stich lasse, solange du mich brauchst, und dass ich dir so lange den Rücken stärke, bis wir beide ein Wettrennen durch den Flur da draußen machen können. Weißt du, wir passen doch super zusammen, schließlich hast du das Bein, was mir fehlt, und ich das, was dir fehlt. Da können wir doch direkt loslaufen, oder?
Und ich verspreche dir, dass ich immer dein Freund bin, wie mein Freund es für mich ist, damit du niemals alleine bist hier drin."
Er nickt, während er mir aufmerksam zuhört, mit schräggelegtem Kopf, wie ein Hundewelpe.
"Und dafür versprichst du mir, dass du versuchst, stark zu sein. Du bist nämlich stark, wie ein Löwe. Es ist okay, wenn du mal weinen musst, aber du darfst dich nie unterkriegen lassen, okay? Versprich mir, dass wir beide zusammen das durchziehen, alles, was kommt. Dass du mutig bist und dir von uns helfen lässt, und dass du diese Zeit schaffst, auch wenn sie schwer wird. Wir beide schaffen das zusammen. Deal?"
Ich halte ihm die Hand zum einschlagen hin, und er holt aus und gibt mir mit aller Kraft, die er aufbringen kann, Fünf.
"Deal. Und jetzt Eis.", sagt er und grinst breit.
"Alles klar. Schoko?"
"Schoko.", stimmt er zu, lässt sich in seine Kissen sinken und schließt die Augen.
Er ist wirklich wie ich, nur in klein... Vielleicht ist es Schicksal... Vielleicht soll ich meine Geschichte nochmal erleben, und besser machen...
Ich drehe mich um, um Eis holen zu gehen, und zucke zusammen.
"Wo kommst du denn her?!"
Im Türrahmen lehnt Jaebum, mit verschränkten Armen, und schaut mich aufmerksam an. Er ignoriert meine Frage gekonnt und lächelt anerkennend.
"Glückwunsch, Hoseok. Du bist wirklich der Richtige für das hier. Du bist angekommen."
Ich gehe zur Tür und nicke.
"Danke."
"Nur die Wahrheit. Ich bin stolz auf dich. Und jetzt lass uns Eis holen gehen, ich will auch eins."
Kaum merklich zwinkert er mir zu und macht auf dem Absatz kehrt, um den Gang herunterzumarschieren.
Mit einem Lächeln auf den Lippen schließe ich die Tür, nachdem ich mich noch einmal nach Jisung umgesehen habe, der - mit ein wenig mehr Farbe im kindlichen Gesicht als zuvor - ruhig in seinem zu großen Bettdeckenberg liegt und schläft.
° ° °
Hey! 🙋
Jaa...
Ich hab nix zu erzählen :3
DANKE für den Riesensupport und eure Mithilfe beim Special 💕🙈
Hat echt mega Spass gemacht!
Bis zum nächsten Kapitel!
Hab Euch lieb! 💕
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