#39 Leaving


Ich lasse den Stoff der Jeans gedankenverloren durch meine Finger gleiten, ehe ich sie umständlich zusammenlege und in die Tasche, die neben mir auf dem Bett steht, zu den anderen Klamotten packe.

Im geöffneten Schrank vor mir liegen noch einige Teile, Shirts, Sportsachen, ein paar Hosen. Nach und nach verstaue ich alles in der schwarzen Reisetasche und ziehe schließlich den Reißverschluss zu. In meinen Ohren klingt das leise Geräusch fast wie ein abgrundtiefes Seufzen.

Mir fällt ein, was Jimin mir vor einiger Zeit gesagt hat.

"Wenn ich du wäre, würde ich diesen Kasten hier so schnell wie möglich verlassen wollen."

Irgendwie hat er ja Recht. Man sollte sich freuen, wenn man endlich für gesund erklärt und entlassen wird. Endlich zurück zur Familie, zurück zu Freunden und Haustieren und was weiß ich nicht noch wem. Zurück in die eigenen vier Wände. Das Leiden beenden, frei sein.

Ja, mein Leiden ist beendet. Aber ich habe nicht das Gefühl, ich müsste heim. Meine Familie ist nicht hier, sie sind weit weg, zu weit, um mich auf sie zu freuen, weil sie nicht da sein werden, wenn ich nachhause komme. Meine Freunde, wenn sie nicht, wie ich, in diesem Gebäude - oder einem ähnlichen - sind, scheinen ganz gut ohne mich klar zu kommen. Sie haben mich zwar besucht, ja, aber ich habe das Gefühl, für sie bin ich irgendwie...entbehrlich. Yoongi hat seine Musik, Namjoon hat seine Arbeit und damit halten sie sich gegenseitig auf Trab. Haustiere hatte ich nie, außer eine Handvoll Wollmäuse, die aber nicht als besonders zahm und zutraulich bezeichnet werden können. Verstecken sich bloß unterm Bett oder hinter den Schränken, und es kostet einige Mühe, sie dort herauszubekommen.

Genug davon.

Ich greife nach meinem Handy, das teilnahmslos auf dem Nachttisch liegt und mit dunklem Display an die Decke starrt, und schaue auf die Uhrzeit. In einer Viertelstunde sollte meine Mitfahrgelegenheit hier sein und mich nachhause bringen.

Ich erhebe mich und halte mich mit einer Hand locker am Bettgestell fest. Hilfe brauche ich kaum noch, in den letzten paar Wochen habe ich täglich trainiert, und mittlerweile fällt es mir schon fast leicht, zu stehen und auch zu laufen. Trotzdem habe ich immer noch eine Krücke zur Unterstützung, auf der Seite des falschen Beins, um mich im Notfall abstützen zu können.

Ich nehme die Tasche vom Bett und streiche die Decke glatt. Das Zimmer sieht wieder aus wie vorher, steril, leer und einsam. Abweisend.

Die blassen Farben der Bettwäsche, die sich leicht mit denen der Vorhänge beißen, die weiß verputzten Wände, der kalte Linoleumboden, der unter den Sohlen der Turnschuhe quietscht und ständig klebrig ist von irgendeinem Putzmittel. All das, was mir immer so hässlich und verabscheuungswürdig erschien, war in der letzten Zeit mein Zuhause. Ich habe mich so sehr an all das hier gewöhnt, dass es mir unglaublich schwerfällt, es jetzt zu verlassen und ins Ungewisse zu gehen.

Ich meine, ich weiß nicht, was mich erwartet. Komme ich allein klar? Wie sehen mich alle anderen jetzt? Was wird anders für mich, und gibt es überhaupt irgendetwas, das gleich bleibt?

Mit einem letzten Blick auf das sauber aufgeräumte Zimmer schließe ich die Tür. Je länger ich darüber nachdenke, desto verrückter mache ich mich. Die Krücke in der einen, die Tasche in der anderen Hand, mache ich mich auf den Weg, den Gang hinunter in Richtung des Treppenhauses. Die Treppen zu nehmen dauert zwar etwas länger, jedoch gibt es mir ein gutes Gefühl, und außerdem erinnert der Aufzug mich zu sehr an die Zeit, in der ich schwach und hilflos war. Die ist jetzt vorbei, ich hab sie besiegt. Das ist Geschichte.

Als ich die Tür zum Foyer aufdrücke, in Erwartung des üblichen Treiben in der halbleeren Eingangshalle, der Normalität der hin und her laufenden Schwestern, der kaffeetrinkenden Patienten und ihren plaudernden Besuchern, bemerke ich zuerst gar nicht, was tatsächlich los ist. Als ich aber registriere, was sich hier abspielt, fehlt nicht mehr viel und ich hätte mein Gepäck fallen lassen vor Überraschung. Wie eingefroren mustere ich die Szene, die sich mir zeigt.

Von der Tür zum Treppenhaus bis hin zum Haupteingang stehen sie Spalier. Patienten, Pfleger, Schwestern, Besucher; Kinder, Erwachsene, alle. Kurz schaue ich mich völlig überrumpelt um, doch dann kommt die Botschaft in meinem Kopf an und ein strahlendes Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Tiefe Rührung kommt über mich.

Sie stehen hier alle für mich. Für mich, ob sie mich nun kennen oder nicht, aus Respekt, aus Freude, Erleichterung, einfach, weil irgendjemand sie dazu verdonnert hat, ganz egal, sie sind hier, um mich zu verabschieden.

Wow.

Ich straffe die Schultern, fasse den Griff meiner Tasche fester und laufe den Gang hinunter, den sie für mich gebildet haben. Viele kenne ich gar nicht, bekomme aber trotzdem von allen Seiten ermutigende Zurufe, freundschaftliches Schulterklopfen und Applaus.

Plötzlich hält mich eine kleine Hand am Saum meines Shirts fest, und ich drehe mich du ihrem Besitzer um.

Es ist ein kleiner Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, der mit voller Bewunderung leuchtenden Augen zu mir aufschaut. Sein linker Arm steckt bis zum Ellenbogen in einem bunt bemalten Gips, an der Stirn hat er ein großes weißes Pflaster. Er erinnert mich an ein früheres Ich. Als ich in seinem Alter war, habe ich mir auch den Arm gebrochen, und danach sah ich genauso aus.

"Du?", macht mein Vergangenheits-Spiegelbild und zupft an meinem Shirt.

Ich hocke mich umständlich zu ihm hin.

"Was denn?", frage ich freundlich zurück.

"Bist du ein Superheld?" Mit seinen großen Augen blinzelnd er mich an.

"Nein, ich bin kein Superheld.", antworte ich und muss leicht lachen.

"Doch, du musst ein Superheld sein! Du hast nämlich ein Super-Bein.", beharrt er felsenfest. "Du bist bestimmt richtig schnell und stark. Und dann rettest du die Welt!"

"Meinst du?"

Der Kleine nickt heftig. "Ganz sicher."

Ich entschließe mich, einfach auf das Spiel einzusteigen, auch wenn ich weiß, dass es für ihn gar kein Spiel ist.

"Jetzt hast du mein Geheimnis erraten!", sage ich gespielt entsetzt und der Junge scheint sich diebisch zu freuen.

"Ich hab's ja gesagt! Du bist ein Superheld!"

Ich bedeute ihm mit einer Geste, näher zu mir zu kommen. Zögerlich tritt er auf mich zu.

"Jetzt, wo du das Geheimnis weißt", flüstere ich ihm verschwörerisch ins Ohr. "Willst du doch bestimmt mein Superhelden-Partner werden, hm?"

Ich löse eines der OP-Armbänder von meinem Handgelenk und halte es ihm hin.

Sofort strahlt er. "Au ja!"

"Na perfekt." Behutsam mache ich ihm das Armband um das gesunde Handgelenk. "Das ist ab jetzt unser Markenzeichen, okay? Wir sind bestimmt ein super Team.", grinse ich und richte mich auf, um ihm dann meine Hand zum einschlagen hinzuhalten.

"Superhelden-High-Five!"

Der Kleine springt auf mich zu und schlägt ein.

"Gehst du jetzt die Welt retten?"

Ich nicke. "Ich gucke mal, was es so zu retten gibt da draußen. Und du, du guckst, was man hier drinnen so retten kann. Versprochen?"

Wieder nickt er. "Versprochen. Superhelden-Ehrenwort."

"Alles klar." Ich zwinkere ihm zu. "Dann bis bald, Partner!"

Im Augenwinkel sehe ich noch, wie er strahlend vor Freude seiner Mama das Armband präsentiert, ehe ich weiter Richtung Eingang laufe.

Damit sind jetzt also zwei Tage gerettet.

-

Am Ende der langen Reihe steht Siyeon neben Jimin, gegenüber von Doktor Park.

Siyeon umarmt mich und wünscht mir alles Gute. Sie ist die einzige der Schnepfen, die irgendwie an mich herangekommen ist, und ich habe sie schließlich für nicht ganz so schnepfig erklärt. Wie das passieren konnte, kann ich mir nicht erklären, jedoch haben wir uns so letztendlich ziemlich gut verstanden, sodass sie recht oft zu mir kam und sich um mich kümmerte.

Auch Jimin umarmt mich. "Hals und Beinbruch.", grinst er.

"Oh nein, bitte nicht!", stöhne ich auf und verdrehe verzweifelt die Augen.

Jimin lacht. "Spaß. Pass auf dich auf, Kumpel. Was du hier drinnen durchgemacht hast, hält nicht jeder aus. Respekt, ehrlich. Und jetzt geh und genieß die Freiheit."

Ich danke ihm und er klopft mir freundschaftlich auf die Schulter.
"Wir sehen uns."

"Ganz bestimmt."

"Hoseok.", spricht Doktor Park mich an und ich drehe mich zu ihm herum. Er legt mir die Hand auf die Schulter.

"Jimin hat Recht mit dem, was er gesagt hat. Du hast das hier mit einer erstaunlichen Stärke gemeistert, und dafür hast du meinen vollsten Respekt. Du warst ganz, ganz unten und jetzt stehst du hier. Ich weiß, dass du viele Rückschläge einstecken musstest, und ich weiß, dass du kurz davor warst, dem Ganzen eine Schlussstrich zu setzen, aber ich bin froh, dass es nicht sowrit gekommen ist. Du bist der erste und wahrscheinlich einzige Patient, den ich je hatte und haben werde, der mich so sehr beeindruckt hat. Ich danke dir, Hoseok, dass ich, trotz aller Startschwierugkeiten, die wir hatten, mit dir arbeiten durfte, und für dein Vertrauen."

Ich nicke. "Ich danke Ihnen, Doktor Park. Ohne Sie wäre ich nicht hier. Und damit meine ich nicht nur hier vor dieser Tür, sondern hier auf dieser Welt. Es tut mir leid, dass ich so ein schwerer Fall war. Danke für Ihre Geduld."

Er schmunzelt und drückt meine Schulter, ehe er die Hand wegnimmt.

"Du wirst sehen, wie viel Geduld einem bringen kann, wenn wir uns wiedersehen. Und ich weiß, dass wir und wiedersehen, Hoseok, da bin ich mir sicher.", sagt er und zwinkert mir aufmunternd zu.

"Danke.", sage ich, erst zu ihm und dann zu allen anderen, die im Raum stehen und applaudieren.

Dann schultere ich meine Sporttasche und verlasse, ohne einen Blick zurück, das Krankenhaus.

° ° °

Bis zum nächsten Kapitel!
Hab euch lieb! 💕

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