Der Geruch von Angst



Schon seit über einer Stunde saß Lou als Fuchs am Fuße des steinernen Drachen und wartete. Der Nachtwind fuhr ihr mit sanften Fingern durchs Fell. Ein einzelner Regentropfen tropfte von einem von Lous Schnurrhaaren. Die Blätter der Bäume rauschten und wisperten im Wind, als wollten sie den Waldbewohnern etwas mitteilen.

Als Lou Rosannas Botschaft erhielt, war sie ganz aufgeregt gewesen. Ihre Schwester hatte anscheinend Seelenklopfer gefunden, die sich den Rebellen anschließen wollten. Mit deren Hilfe würde es um einiges leichter werden den König zu stürzen.

Jeder wusste, dass Seelenklopfen die mächtigste unter den menschlichen Gaben war. Gemeinsam mit seinem Zwilling, nur mit Hilfe der Gedanken, Feinde entkräften, ja sogar töten zu können; Lou konnte sich kaum vorstellen wie es war Besitzer einer solch mächtigen Gabe zu sein. Sicherlich nicht sehr angenehm, diese immer vor anderen verstecken zu müssen, dachte Lou. Da war es doch in der Gesellschaft bei weitem angesehener, ein Zweigesicht zu sein und sich nur in einen Fuchs verwandeln zu können. Das erzeugte wesentlich weniger Ängste bei Anderen.

Aber jetzt, nach dem sie schon seit über einer Stunde hier bei Nacht und Nebel herum saß, begann sie daran zu zweifeln, ob die Seelenklopfer überhaupt noch kamen. Nach dem sie noch eine Weile so da gesessen hatte, bemerkte sie den Geruch von einem unbekannten Menschen.

Neugierig spitzte Lou die Ohren und ihre Fuchsnase schnupperte. Der Mensch, oder genauer gesagt das Mädchen, hatte sich gegen den Wind genähert. Daher hatte Lou sie auch erst so spät gerochen. Ein Zweig zerbrach und das Knacken tönte erschreckend laut durch die Nacht.

Die Gedanken jagten in Lous Kopf herum, wie ein Schwarm Schmetterlinge. Wer war das? Eine von den beiden Seelenkopfern? Und wenn ja, warum war sie dann allein?
Wäre es möglich, dass das Mädchen vielleicht auch nur zufällig hier vorbei gekommen war? Vielleicht auf der Suche nach Feuerholz? Oder, und dass wäre alles andere als gut, war es eine Spionin vom König?

Ein blasses Mädchen mit zerzaustem, feuerrotem Haar kam aus dem Unterholz getaumelt und blickte sich suchend um. Offenbar hatte sie vor kurzen viel geweint, denn ihre Augen waren rot und geschwollen.

Lou huschte hinter die Drachenstatue und verwandelte sich zurück. Wenn sie heraus finden wollte, wer dieses Mädchen war, würde sie mit ihr reden müssen und das ging als Fuchs nicht.

Der schlammige, aufgeweichte Waldboden schmatzte widerlich unter Lous Schritten. Langsam ging sie auf das Mädchen zu.

»Bist du die Schwester von Rosanna?«, das Mädchen sprach so leise, dass es kaum noch zu verstehen war. »Sie hat mir gesagt ich sollte hier her kommen«. Neugierig betrachtete Lou das Mädchen. »Ja du hast Recht. Ich bin Rosannas Schwester«, sagte sie. Das Misstrauen in Lous Stimme war nicht zu über hören. »Wer bist du?«, fragte sie das fremde Mädchen vorsichtig. »Ich heiße Fura«, erwiderte diese, warf einen hektischen Blick über die Schulter und fragte ängstlich: »Können wir bitte wo anders hingehen?«

Lou kniff verwundert die Augen zusammen. »Warum denn das?«, leichte Sorge mischte sich in den Argwohn in ihrer Stimme »Du wirst doch nicht etwa verfolgt oder?«, fragte Lou und schaute sich nun vorsichtshalber auch prüfend um.

»Naja«, druckste Fura herum »verfolgt wurde ich schon, aber ich glaube ich konnte sie abschütteln. Mein Bruder wurde bei der Flucht gefangen genommen«, sagte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Es war beinah unmöglich zu verstehen was Fura unter dem Schluchzen sagte. »Sie haben ihn bestimmt in den Kerker geworfen und... und sie werden ihn ganz sicher hinrichten! Wir können doch nichts für unsere Gabe!« brachte sie hervor. Unter heftigem Schluchzen sank Fura zu Boden und vergrub das Gesicht in den Händen.

Eine Woge von Mitleid stieg in Lou auf. Sie konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie schrecklich es für sie gewesen war als ihr Vater gestorben war und Rosanna, ihre Schwester an der sie sehr hing, später das Land verließ, um bei Freunden ihrer Eltern zu leben. Sie streckte Fura die Hand entgegen und half ihr auf die Beine. »Ich helfe dir. Wir werden deinen Bruder retten«, gleich nach dem sie diese Worte ausgesprochen hatte, bereute Lou sie bereits. Es war überhaupt nicht gesagt, dass sie Furas Bruder retten konnten. »Ich meine«, korrigierte Lou sich daher schnell, »wir werden alles tun was wir können, um ihn zu retten.«

Fura nickte zittrig runzelte dann aber die Stirn und fragte unsicher: » Musst du da nicht zuerst euren Anführer fragen? Fuchslist?«. Lou prustete los und schüttelte den Kopf »Nein, das erkläre ich dir später«, lachte sie. »Komm erstmals mit, ich bring dich ins Lager«, mit diesen Worten ging Lou in das Dickicht des Waldes hinein. Als sie sich schon einige Meter von Fura entfernt hatte, drehte sie sich noch einmal um. »Ach und bevor ich es vergesse: Ich heiße Lou«, ergänzte sie und lächelte Fura an.

Lou rieb sich die Augen. Der Wind fuhr draußen durch die Blätter und brachte den Baum kaum merklich zum Schwanken. Das Feuer, an dem Lou, zusammen mit ihren Offizieren und Fura saß, flackerte und zischte in der großen, gusseisernen Feuerschale. Sie saßen schon eine ganze Weile hier oben im Baumhaus, ihrem Versammlungsort im Rebellenlager.

Als Lou mit Fura zurück ins Lager gekommen war, hatte sie sofort eine Versammlung einberufen. Wie erstaunt Fura sie angeschaut hatte, als Lou sich ihr im Lager als Fuchslist vorstellte. Fura hatte dann den versammelten Rebellen alles über sich erzählt: über ihr Leben auf der Burg, ihren Zwillingsbruder Liam, die besondere Gabe der Beiden: das Seelenklopfen. Sie erzählte, wie viel Sorge und Angst die Zwillinge haben mussten, dass man ihre besondere Gabe, die selbst König Ravitan gefährlich werden konnte, entdecken würde und wie sie schließlich doch verraten wurden. Liam war bei der Flucht von den Wachen gefangen worden.

Lou schaute in das blasse und erschöpfte Gesicht von Fura. Sie wollte lieber nicht zu genau darüber nachdenken, wie es Furas Bruder Liam jetzt erging. Eins war aber klar: Wenn sie ihn lebend aus der Burg bekommen wollten, mussten sie schnell handeln.

Trotz des Windes, der durch die Lücken der schlecht gedämmten Wände pfiff, war es drückend heiß im Versammlungsort. Ob dafür jetzt das Feuer oder Chirons schlechte Laune verantwortlich war konnte Lou nicht sagen.

Um Liam zu retten, war es nötig in die Burg zu gelangen. Dass sie ihn retten wollten, darin waren sich alle Anwesenden einig.

Zur Überraschung aller war die Frage wie sie in die Burg hinein kommen sollten, schnell geklärt. Fura kannte einen Geheimgang der aus einem Waldstück hinter den königlichen Gärten direkt in die Burg führte. Fura hatte diesen anscheinend zusammen mit ihrem Bruder, auf deren gemeinsamen Streifzügen durch die Burg entdeckt.

Zuerst glaubte Lou Fura nicht. Sollte es wirklich so einfach sein? Aber ihr Fuchsinstinkt, auf den hundertprozentig Verlass war, sagte ihr, dass Fura die Wahrheit sprach.

Alte Geheimgänge gab es bei Burgen öfter mal, soweit Lou wusste. Im Falle einer Belagerung der Burg, konnte so ein Geheimgang der rettende Ausweg für die Burgbewohner sein. Gut verborgen, waren solche Fluchttunnel. Der Ein- und Ausgang war immer ein wohlgehütetes Geheimnis. Umso größer war ihr Glück, dass sie nun im Besitz dieses Wissens waren.

Wenn sie erst mal in der Burg waren, würde Sarah allein weiter gehen. Dank ihrer Gabe, dem Schattenspringen, würde es für sie hoffentlich nicht allzu schwer sein, zuerst die Wache auszuschalten, um dann unbemerkt in den Kerker zu gelangen und Liam zu befreien.

Auf dem Rückweg würden sich Sarah und Liam dann allerdings ohne schattenspringen raus schleichen müssen. Sarah konnte Liam mit ihrer Gabe nicht mittransportieren. Sie mussten einfach darauf hoffen, dass sie nicht bemerkt werden würden, wenn sie zu Fuß zurück Richtung Geheimgang unterwegs waren.

Sollte es Probleme geben, würden Chiron, Fura, Aaron, Hiroko und sie im Schutz des Geheimgangs warteten um im Notfall zu Hilfe eilen könnten.

Als das Feuer in der Mitte des Baumhauses schon beinahe vollständig ausgebrannt war und nur noch ein paar kleine Flammen, müde flackernd über der glühenden und funkelnden Glut tanzten, hatten sie endlich eine Lösung gefunden.

Nach langen, ermüdenden Diskussionen waren sie darin überein gekommen, Furas Bruder erst in der nächsten Nacht zu retten. Es war einfach zu riskant, sich in die Burg des Rabenkönigs zu schleichen ohne vorher noch einmal zu prüfen ob der Geheimgang auch wirklich da endete wo Fura sich zu erinnern glaubte.

Außerdem brauchten sie nach diesen anstrengenden nächtlichen Planungen unbedingt noch ein bisschen Schlaf, um ausgeruht die Befreiung von Liam anzugehen.

Lous Kopf schmerzte schrecklich. Sie sollten zusehen, dass sie möglichst schnell ins Bett kamen. Morgen würden sie wieder die ganze Nacht auf den Beinen sein.         

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