7. Kapitel - Hinter dem Wasserfall
"Tretet ein, in mein Heim, hier wohne ich ganz allein ...", hieß Fiona sie nach einem langen Fußmarsch willkommen und breitete fröhlich die Arme aus.
Doch ... hier war nichts.
"Wo?", fragte Kilian mit hochgezogenen Augenbrauen und sah sich um. Die letzte Stunde waren sie den weiten Weg von der Anhöhe nach unten gelaufen und geklettert und standen nun neben dem Wasserfall, der brodelnd im Loch Pott aufschlug. Die späte Sonne spiegelte sich in ihm und verlieh den Wassermassen das Aussehen von flüssigem Feuer. Einige Regenbogenkois schwammen den Strom hinauf und ließen das Wasser noch mehr leuchten. Nur wenige hundert Meter entfernt mündete der See dann ins Meer. Er hörte das lärmende Leben des Hafens, wo Händler ihre Ware verkauften und in die Weite der Welt aufbrachen.
Kilian tastete nach seinem Kompass. Er war bisher nur einmal unten gewesen, vor sehr langer Zeit.
Hier gab es vieles - aber sicher kein Zuhause.
Fiona verdrehte die Augen. "Wo wohl?" Mit diesen Worten sprang sie auf einen Felsen nah am Wasserfall und tauchte hinter den Wassermassen ab. Sie tat das mit so einer Leichtigkeit, als würde sie sich jeden Tag über die halsbrecherischen Felskanten klettern. Vermutlich tat sie das auch.
"Worauf wartest du noch, Bürschchen? Sie hat etwas von Essen erzählt, und wir haben nicht ewig Zeit!"
Kilian verkniff sich ein Seufzen. So ging das schon die ganze Zeit: Darius lebte sein neu gewonnenes Redetalent aus und thronte erhaben auf Enyas Schulter wie der König des Waldes. Er musste seinen Vater dringend fragen, ob es ein Gegenmittel gab.
Woher hatte Fiona den Trank überhaupt gehabt? Hatte sie noch weitere, vor denen er sich in Acht nehmen sollte?
"Warte." Kilian hielt Enya zurück, die losgehen wollte, weil er so lange gezögert hatte. Er wünschte, ihm würde es so leicht fallen zu vertrauen. Stattdessen klammerte er sich an das Buch, das immer noch seltsam kalt wie Eis war. "Ich gehe vor."
Kilian trat auf den nächsten Stein. Er drückte sich eng an die Felswand. Trotzdem spürte er, wie die Tropfen seine Kleidung durchnässten, als er sich durch den schmalen Spalt hinter dem Wasserfall zwängte. Kilian wusste nicht, ob das auf seiner Stirn Schweißperlen oder Wassertropfen waren. Der Lärm des tosenden Wassers hallte lautstark an den kalten Felsen wider, als endloses Echo. Es war allgegenwärtig und drückte zusammen mit der viel zu hohen Luftfeuchtigkeit auf seine Brust, sodass er immer schwerer atmen konnte.
Moment, ein Echo?
Er öffnete die Augen.
Fiona kicherte, als sein Mund aufklappte. "Was hast du erwartet? Eine dunkle Höhle?"
Ja, wenn überhaupt, dann hatte er genau das erwartet.
Auch Enya stolperte hinter den Wasserfall und blieb stehen. "Woah!"
Selbst Darius war zum ersten Mal sprachlos. Das Eichhörnchen sah nach oben. "Wie kann hier die Sonne scheinen? Wir sind doch unter der Erde."
"Ein Hologramm."
Es sah aus, als wäre der ganze Wald eins zu eins von draußen hier hineingespiegelt. Gespiegelt traf es gut, denn Kilian bemerkte, dass alles spiegelverkehrt war. Als wäre der Wasserfall die Trennwand zwischen den Welten gewesen. Dieselben Bäume. Dieselben Steine.
"Wie geht das?"
"Die hydrothermale Reaktion des Sonnenlichts, das sich in den Molekülen des Wasserfalls bricht, sorgt für einen nivellierenden Effekt unter Ausnutzung der Neutralität und Siedetemperatur", erklärte Fiona. Als sie ihre erschrockenen Blicke sah, lachte sie. "Quatsch, keine Ahnung! Als ich eingezogen bin, war es schon so. Und mit den gerade gesagten Begriffen kann ich genauso wenig anfangen wie ihr, ich habe sie bloß in den Büchern gelesen."
"Bücher?", fragte Kilian.
"Ja. Kommt mit."
Kilian trat einen Schritt nach vorne - etwas knackte.
"Vorsicht!"
Fiona stieß ihn unsanft zu Boden. Gemeinsam landeten sie im Gras und alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst.
"Tja", meinte Fiona und richtete sich entspannt auf, als sei es das Alltäglichste der Welt, dass sich ein gefiederter Pfeil in den Baum neben ihnen gebohrt hatte. Er zitterte noch leicht und die Federn am Ende wackelten, als wollten sie lachen, wie verdammt knapp es gewesen war. "Das habe ich vergessen zu sagen: Hier liegen überall Fallen. Es war schon so, als ich eingezogen bin. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, aber ihr solltet lieber nur dorthin treten, wo ich es tue."
Der Rest des Spiegel-Waldes - Kilian beschloss ihn so zu nennen - schien harmloser. Zumindest lösten sie keine Fallen aus, bis sie eine kleine Hütte erreichten, die in der echten Welt nicht stand. Rauch stieg aus dem Schornstein und Kilian musste zugeben, dass es gemütlich aussah. Auch innen sah es normal aus - so normal, wie man es bei Fiona erwarten konnte.
Der Raum war zweigeteilt. Eine Seite war voll mit Masken in allen Größen und Formen. Füchse, Bären, Chinchidras und mehr, als könnte sie sich so aussuchen, wer sie sein wollte. Gesichter erschaffen - und zerstören. Einige ehemalige Werke lagen zerschlagen in der Ecke, gestapelt wie Brennholz. Auch Werkzeug lag überall verteilt.
Die andere Hälfte des Raumes war etwas ruhiger, aber nicht weniger chaotisch. Kilian hatte selten so viele Bücher gesehen, und sein Vater hatte als Apotheker das halbe Haus voll. Der Geruch nach Papier schwebte zu ihnen und brachte eine ganz eigene Art der Magie mit sich.
Doch eines trug die größte Magie. Mit schnellen Schritten durchquerte Kilian den Raum.
"Quintessentia", las er vor und legte sein eigenes Buch daneben. Fiona hatte exakt das gleiche Exemplar. "Wo hast du dein Buch her?"
Fiona hastete zu ihm. "Mach es nicht auf!"
"Warum?"
"Sonst verliere ich die letzten beiden Elemente."
Trotz der immer noch hohen Luftfeuchtigkeit war sein Mund plötzlich ganz trocken. "Du hast sie auch verloren?"
Fiona neigte den Kopf. "Was heißt auch?"
Auch Enya sah ihn fragend an. Ihm war nicht wohl dabei zuzugeben, dass ihm alle Elemente weggeflogen waren. Zumindest nicht, solange er nicht wusste, was genau dahintersteckte. Er brauchte erst Informationen.
"Du hast auch das Buch", meinte er, ohne wirklich auf die Frage einzugehen. "Kannst du uns etwas darüber erzählen? Und über die Elemente?"
Fiona kicherte. "Die Elem-Ente ist nicht hier."
"Entschuldige, hast du gerade Ente gesagt?"
"Elem-Ente", erklärte Fiona. "Aber frag mich nicht, was 'Elem' sein soll, das weiß ich nämlich auch nicht."
Vielleicht mussten sie anders anfangen. Enya war feinfühliger in der Hinsicht. Sie drehte sich mit Bewunderung zu den Masken. "Was hat es mit den vielen Gesichtern auf sich?", fragte sie neugierig und mit sanfter Stimme.
Fiona entspannte sich ein wenig. "Trägt heutzutage nicht jeder irgendwie eine Maske?"
"Offensichtlich nicht", widersprach Kilian und deutete auf sein bloßes Gesicht, bevor er die Arme verschränkte.
Fiona sah ihn forschend an. Dann seufzte sie. "Offensichtlich kannst du dich selbst wirklich nicht sehen."
"Was soll das wieder heißen?", beschwerte er sich. "Du sprichst in Rätseln."
"Ich spreche in Bildern."
"Ich brauche Logik!"
"Du brauchst Freiheit."
Dagegen konnte er nichts erwidern. Er nickte ergeben. "Vor allem brauche ich Hoffnung. Wir brauchen Hoffnung."
"Okay." Fiona bedeutete ihnen, sich auf den Boden zu setzen. "Was wollt ihr wissen?"
Erstaunt über den plötzlichen Anflug aus Vernunft ließen sich beide neben ihr nieder. Nur Darius hüpfte davon, auf der Suche nach etwas Essbarem, doch auch er hielt die Ohren gespitzt.
"Was hat es mit den vier Elementen auf sich?", fragte Kilian.
Fiona ging scheinbar nicht auf seine Frage ein, denn sie stand wieder auf und nahm vier Äpfel aus dem Regal. Doch dieses Mal hatte er das Gefühl, dass er nur warten musste.
"Kannst du jonglieren?", fragte sie ihn.
"Nein."
"Ich auch nicht. Und das war das Problem." Sie warf alle Äpfel gleichzeitig in die Luft. Allerdings fing sie nur zwei, die anderen zwei landeten polternd auf dem Boden. "Seht ihr? Es entsteht eine Disbalance."
Kilians Gedanken ratterten. Rätsel. Bilder. Logik. Das Buch hatte ihm gezeigt, dass die vier Elemente zur Quintessenz verschmolzen werden mussten. "Eine Disbalance aus den Elementen? Um das fünfte Element, die Quintessenz, zu erwecken, muss man alle vier Elemente halten können", mutmaßte er.
Fiona lächelte. "Sehr gut! Die Elemente sind kraftvoll. Mein Problem war damals, dass ich nicht genug Kraft hatte, um alle Äpfel gleichzeitig zu halten. Zwei sind heruntergefallen ... oder besser gesagt weggeflogen. Ich habe sie verloren. Seither hat sich vieles verändert."
Enya sah sie einfühlsam an. "Wolltest du sie, weil ..."
Fiona lachte. "Weil ich verrückt bin? Nein, die Quintessenz sollte nicht für mich sein. Sie wäre für meine Schwester gewesen. Aber ich war diejenige, die mit den Kräften spielen wollte - und jetzt spielen sie mit mir. Ich glaube, ich habe mich verloren", sagte sie traurig und legte ihre Fuchs-Maske beiseite. "Und seither versuche ich mich zu finden."
Seltsamerweise konnte Kilian sie verstehen - zumindest auf eine gewisse, rätselhafte und unlogische Weise, die er selbst nicht verstand.
"Vielleicht helfen Kräuter", überlegte Enya und stand auf, um die in der Höhle vorhandenen Bücher nach etwas Hilfreichem zu studieren. "Wenn ich nur Papas Kompendium hätte ..."
Doch Kilian wusste, dass Fiona keine Kräuter brauchte. "Wird es besser?", fragte er, als beide allein zurückblieben.
"Erde und Luft sind weg. Damit sind mir nur Feuer und Wasser geblieben. Es sind Gegensätze. Manchmal fühle ich mich genauso gespalten, als würde ein Teil gegen den anderen kämpfen. Merk dir eins: Alles ist gut, solange die Elemente im Buch sind. Doch sobald du auf die Elementarebene trittst und ihre Macht beschwörst, werden sie ein Teil von dir. Du musst sie vereinen. Wenn du sie dann nicht halten kannst und verlierst, verlierst du auch dich selbst."
Im dämmrigen Licht funkelten ihre Augen ernst.
Kilian nickte. "Was soll ich also deiner Meinung nach tun?"
Fiona drückte ihm breit grinsend die vier Äpfel in die Hand. "Jonglieren lernen."
Und Kilian lachte. Weil es so unvorhersehbar vorhersehbar gewesen war. Er lachte, um die Verantwortung zu vergessen, die er trug und die er durch die Elemente auf sich nehmen müsste, um Enya zu retten. Denn er würde sie auf keinen Fall in Gefahr bringen, auch wenn es bedeutete, dass er sich auf das Spiel der Elemente einlassen musste.
Aber mit vier Äpfeln in der Hand fühlte sich die Aufgabe schaffbar an.
"Also." Fiona klatschte fröhlich in die Hände. "Wann brecht ihr auf?"
Enya sah zu Kilian, als erwartete sie, dass er es entschied. Kilian legte die Äpfel beiseite. "Kennst du den Weg zur Elementarebene?", wollte er wissen.
"Sicher, immerhin bin ich vor Jahren dort gewesen. Wie könnte ich den Tag je vergessen?"
Enya trat von einem Fuß auf den anderen. "Kannst du uns dorthin führen? Bitte! Vollmond ist schon morgen Nacht."
Fiona tippte sich gegen das Kinn. Dann zuckte sie mit den Schultern. "Warum nicht? Ich glaube, ich kenne sogar eine Abkürzung - ich hoffe zumindest, dass ich sie noch richtig in Erinnerung habe."
Damit war es beschlossen. Sie würden gemeinsam ins Nebelgebirge aufbrechen für eine Reise, die ihr aller Leben elementar verändern würde.
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