5. Kapitel - Der Pfad der Elemente

Normalerweise war Kilian niemand, der weglief. Er wäre der Erste, der stehen bleiben und wenn nötig kämpfen würde.

Aber die Fremden beherrschten Magie - dunkle Magie - und er wollte nicht wissen, was sich hinter den Schlüsseln verbarg.

Daher gab es im Moment nur eine sinnvolle Entscheidung:

"Lauf!"

Sie rannten los. Die grauen Fremden waren ihnen dicht auf den Fersen. Ihre Schritte trommelten über den Boden, sie riefen lautstarke Flüche. Kilian hörte nicht hin. Er zog Enya weiter, durch Licht und Schatten, zwischen magischen und unmagischen Pflanzen hindurch. So weit, bis er nichts mehr hörte, außer ruhig trällernden Vögeln.

Enya ließ sich keuchend gegen einen Baum sinken.

"Alles wird gut", beruhigte Kilian sie. Er stützte sich außer Atem auf seine Knie. "Wir holen ihn zurück."

"Wie?"

Eine einfache Frage, keine einfache Antwort.

Es gab Unkraut, es gab Unwesen - falls diese Männer menschlich waren, dann waren es definitiv Unmenschen. Kilian durfte auf keinen Fall zulassen, dass sie Enya und ihn erwischten - oder das komische Buch. Er hielt die Quintessentia grübelnd vor sich, während sich sein Herzschlag beruhigte. "Wir dürfen es ihnen nicht geben."

Das zu sagen, fühlte sich seltsam an, aber er wusste, dass die Fremden das Buch nicht bekommen durften.

Enya starrte es an. "Es sieht magisch aus", stellte sie schüchtern und mit einem Hauch Neugier fest. Auch Daria steckte den Kopf aus ihrer Rocktasche und schnupperte am Einband - anscheinend hatten sie nun eine tierische Begleitung. Kilian seufzte, als Daria ihn vorwurfsvoll ansah, fast als wüsste das Eichhörnchen, dass er die Elemente daraus verloren hatte.

"Ist es auch."

"Hast du es schon gelesen? Weißt du etwas, was ich nicht weiß?"

"Ich weiß viel, was du nicht weißt - immerhin bin ich älter als du."

"Das meinte ich nicht! Was steht da drin? Warum wollen die Männer es? Und warum können wir es ihnen nicht einfach geben und Papa wiederbekommen?"

Kilian schluckte, als Enya ihn mit großen Augen ansah. Sie schimmerten wie warmer Honig, gesprenkelt mit kleinen Tropfen voller Verzweiflung.

Er wollte das Buch gerne tauschen. Er könnte so zwei Probleme auf einmal lösen. Aber ein Problem würde bleiben, das größte von allen: Enyas Vergiftung.

Nicht einmal sein Vater konnte etwas tun. Kilian konnte ihn nicht zurückholen und kurz danach ein anderes Familienmitglied verlieren.

Er konnte niemanden verlieren - nicht nochmal.

Sein Vater musste dasselbe gefühlt haben. Immerhin war er bereit gewesen, alles tun, um Enyas Leben zu retten, auch wenn das bedeutet hatte, dass er sich von gruseligen Fremden einschlüsseln lassen hatte.

Kilian biss sich auf die Lippe und strich über den Einband. Er vertraute der Magie nicht.

Aber er wäre bereit, sich darauf einzulassen. Weil auch er bereit war, alles für seine Familie zu tun.

Er schloss die Augen. "Die Quintessentia handelt von den vier Elementen", sagte er und schlug das Buch auf. Er drehte es zu Enya. Die Puzzleteile, von denen er noch gar nicht gewusst hatte, dass er sie kannte, fügten sich in seinem Kopf zusammen. "Feuer, Wasser, Erde und Luft müssen auf der Elementarebene vereint werden, wenn der Vollmond im Zenit steht. Sein Licht und die freigesetzte Kraft verschmelzen und erschaffen das fünfte Element: die Quintessenz. Es ist ein Heilmittel gegen alles."

Enyas Mund klappte auf. Sie ließ sich neben ihm ins Gras sinken und nahm das Buch, um die Abbildungen förmlich zu verschlingen und jeden Millimeter des Papiers zu analysieren. Ihre Stimme zitterte, als sie die nächste Frage stellte. "Alles - auch gegen den Biss eines Irrlichts?"

Kilian brachte die Kraft für ein kleines Lächeln auf. "Ich habe dir doch versprochen, dass wir einen Weg finden. Warte - weinst du? Ich dachte, du freust dich?"

Enya schniefte und lachte gleichzeitig. "Das tue ich! Ich weiß nur noch nicht ... die Quintessenz ... gibt es sie wirklich?"

"Ich denke ... ja."

"Oh, Kilian, danke!" Sie schlang ihre Arme um ihn. Kilian wusste, dass es nicht um das Buch ging - sondern um die Hoffnung. Das wurde ihm bewusst, als er ihren Rücken tätschelte. Die Hoffnung war stark. Er hatte ihr etwas gegeben, woran sie glauben konnte.

"Jetzt verstehe ich es." Enya richtete sich auf. "Wenn wir schnell die Quintessenz finden, überlebe ich. Danach brauchen wir das Buch nicht mehr und können es eintauschen, um so Papa zu befreien. Wir können alle wieder zusammen sein und alles wird gut!"

Kilian nickte. "Ja", stimmte er zögerlich zu, weil der Schritt 'schnell die Quintessenz finden' sie wahrscheinlich noch vor eine Herausforderung stellen würde. Aber er brachte es nicht über das Herz, Enya zu beichten, dass er die Elemente verloren hatte. Sie mussten sie suchen, was wertvolle Zeit kosten würde.

Aber sie konnten es schaffen.

Zum ersten Mal spürte Kilian die Magie davon, wie es war, an Magie zu glauben.

Es war wie eine Knospe, die aufblühte. Wie ein Licht, das den Weg wies. Wie eine Kraft, die ihm Flügel verlieh.

Es fühlte sich ... seltsam gut an.

"Wo ist die Elementarebene?", fragte Enya.

Kilian wusste es nicht. Aber das Buch kannte die Antwort. Er blätterte um und es blätterte von selbst schwungvoll weiter, bis es stoppte. Kilian lehnte sich mit klopfendem Herzen über die Schrift.

"Die Elementarebene ist an einem verborgenen Ort in den Bergen, der nicht zugänglich für Menschen ist. Dort gibt es eine Höhle mit einer Öffnung nach oben, damit das Mondlicht hineinstrahlen kann", fasste er zusammen und verzog den Mund unglücklich.

"In den Bergen ... das Nebelgebirge! Und der Vollmond im Zenit ..." Enya hielt aufgeregt die Hand in den Himmel und spähte zwischen ihre Finger. Auch wenn dort die Sonne stand, schien sie etwas zu erkennen und den Zustand des Mondes wie eine Uhr ablesen zu können. "Vollmond ist schon morgen Nacht! Wir können also morgen die Quintessenz erwecken und übermorgen sind wir alle wieder zusammen! Das ist wunderbar! Das ist ... du bist plötzlich etwas blass. Geht es dir gut, Kilian?"

Kilian stand schwankend auf. "Alles bestens. Komm, wenn es schon morgen ist, dann sollten wir uns beeilen."

Er ballte seine Hand zur Faust, damit Enya das Zittern nicht sah. Morgen Nacht, ein unzugänglicher Ort, ... selbst wenn sie es zum Nebelgebirge schaffen würden - die Entfernung sah aus, als würde man es nicht einmal mit einem Pferd in eineinhalb Tagen schaffen - musste er noch herausfinden, wo die Elemente waren. Der Plan, der bis gerade noch machbar geklungen hatte, fühlte sich plötzlich nicht mehr so machbar an.

Der Hauch der Magie, den er gespürt hatte, verpuffte.

"Hier." Enya reichte ihm Kräuter, die wie Petersilie aussahen. "Nimm die."

Kilian ergriff sie, als er Enyas sorgenvollen Blick sah. Sie war diejenige, die vergiftet war - er sollte sich um sie kümmern, nicht andersherum! In Gedanken versunken kramte sie in einer ihrer erstaunlich vielen Rocktaschen und Kilian musste schmunzeln. Das war typisch Enya - immer um andere besorgt.

"Hier." Er überreichte ihr im Gegenzug die Quintessentia wie einen Startschuss, damit das Abenteuer losging.

Sie hatten etwas mehr als einen Tag. Sie waren zu zweit - oder dritt, wenn er das Eichhörnchen Daria mitzählte. Auf der Suche nach vier Elementen, um das Fünfte zu finden, Enya zu retten und ihren Vater zu befreien.

"Ich darf das Buch nehmen?", fragte Enya mit großen Augen.

"Ja. Und soll ich dir ein Geheimnis verraten? Es kommuniziert mit dir, wenn du genau hinhörst. Oder fühlst. Oder schaust - ach, es ist seltsam, aber es hat etwas Besonderes. Genauso wie du, deshalb darfst du uns führen."

Enya schloss die Augen und drückte das Buch mit einem breiten Lächeln fest an ihre Brust, während Kilian hoffte, dass sie empfänglicher für die Magie war, auf die er sich gerade probierte, einzulassen. Enya würde das sicher schneller gelingen.

Sie glaubte an Magie. Er glaubte an sie.

Kilian hoffte, dass das genügte, um Wunder wahr werden zu lassen.

Doch Enyas nächsten Worte ließen seine Hoffnung verschwinden.

"Ich spüre nichts."

"Probiere es nochmal", sagte er. "Das Buch redet auf seine eigene Weise in Bildern."

Enya schloss die Augen. Endlose Sekunden vergingen. Dann riss sie sie auf. "Ich habe eine Idee!"

Enya lief los, tiefer in den Wald. Kilian folgte ihr.

Eines wusste er sicher: Egal wo der Pfad der Elemente ihn hinführen würde, er würde ihm folgen. Bis zum letzten Ende.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top