4. Kapitel - Drei Fremde & zwei Schlüssel
Als er die Quintessentia dieses Mal aufschlug, redete das Buch nicht mit ihm. Doch das Schweigen beruhigte Kilian nicht - eher im Gegenteil. Die vier Lichter waren nicht zurückgekehrt und der Kreis hatte einen Riss, den er hinein gekratzt hatte. Hastig blätterte er auf der Suche nach Antworten um und stockte, als er vier prägnante Worte sah, die fast vorwurfsvoll groß auf der nächsten Seite standen:
"Feuer, Wasser, Erde, Luft", las er vor. Vier Lichter. Vier Farben.
Er hatte die vier Elemente frei gelassen.
"Ohh", stieß er gedehnt hervor. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Allerdings konnte er es auch nicht herausfinden, denn sein Vater nahm das Studierzimmer in Anspruch und wirkte dabei sehr durcheinander.
"Wer ist an der Tür gewesen?", wollte Kilian wissen.
"Nur drei Fremde, die sich verirrt haben", wich er seiner Frage aus und tigerte umher. "Mach dir keine Gedanken. Und nun geh nach draußen und nimm Enya mit. Frische Luft ist gesund und hilft bei allem. Außer bei Irrlichtern ... Aber es muss noch eine andere Variante geben, als den Vorschlag, die sie hatten ..."
Kilian hatte fast den Eindruck, sein Vater wollte, dass sie so schnell wie möglich weggingen. Aber er stellte keine weiteren Fragen. Während Enya und Daria mit den Elfen spielten, nahm er die Quintessentia mit in die hinteren Bereiche des Apothekergartens, wo selbst Käfer sich selten hin verirrten. Hier stand ein kleiner Brunnen, der längst zugewachsen und vergessen war, doch einst hatten hier schöne Blumen geblüht und Vögel im Wasser gebadet, und seine Mutter ihm Geschichten vorgelesen ...
Nun spendeten die hohen Farne nur noch eines: Schatten und Schutz vor den Augen der Welt, weil Kilian selbst noch nicht genau wusste, was er von dem Buch halten sollte.
Er schluckte. Das Buch war definitiv magisch. Normalerweise hielt er sich von den meisten magischen Dingen wie Elixieren und Kräutern fern. Magie war für den Tod seiner Mutter verantwortlich und nun dabei, seine Schwester zu töten.
Doch hatte er noch eine andere Chance, als zumindest auf Magie zu hoffen?
Kilian atmete tief durch und schlug das Buch auf. "Feuer, Wasser, Erde, Luft", murmelte er. Dann wurden seine Augen magnetisch von einem fünften Wort angezogen, das in der Mitte stand und vorher mit Sicherheit noch nicht dort gewesen war. "Quintessenz? Was soll das sein?"
Das Buch antwortete - aber nicht in Worten. Die Seiten verselbständigten sich und blätterten rasant weiter. Kilians kurzes, dunkles Haar wurde nach hinten gepustet und er musste sich am Brunnenrand festhalten. Der Wind pustete ihn in eine andere Realität - oder tauchte er ins Buch ein? Oder geschah nichts von dem, sondern die Infos flogen einfach in seinen Kopf? Der Garten war plötzlich weg. Nur noch vier Lichter waren da - die vier Elemente.
Sie schwebten über einer gesichtslosen Gestalt, die mit wehendem Umhang auf einer Plattform in einer Höhle stand. Die Person hob die Arme, als würde sie gegen unsichtbare Kräfte kämpfen. Die Elemente gehorchten und flogen näher zusammen. Als sie sich berührten, gab es einen Knall.
Goldenes Licht erstrahlte. Die Quintessenz wurde geboren. Das fünfte Element, entstanden aus den anderen vier.
Die goldene Lichtkugel schimmerte. Sie war ein Heilmittel gegen alle Leiden dieser Welt - auch gegen den Biss eines Irrlichts. Die Erkenntnis überwältigte Kilian und ließ jede seiner Zellen kribbeln.
So schnell wie es begonnen hatte, war es wieder vorbei. Kilian spürte kaltes Gestein unter sich. Er saß immer noch auf dem Brunnen im Apothekergarten.
"Huch?" Seine Gedanken drehten sich, genauso wie sein Kopf. Das Buch lag auf seinem Schoß. Die erste Seite, wo die Elemente verwahrt worden waren, war vorwurfsvoll aufgeschlagen, als wollte sie ihm zeigen, was hätte sein können. Er hätte die Elemente vereinen können, wie die Gestalt es getan hatte, und Enya heilen können.
Doch nun waren die Elemente weg. Es gab keinen Weg mehr, die Quintessenz zu erwecken.
"Oh, bei allen heiligen Wesen von Jelera!" Kilian vergrub das Gesicht in den Händen. Der Funken der Hoffnung, der er anfangs noch verspürt hatte, schmolz dahin, wie Eis in der Sonne.
Gleichzeitig spürte er etwas in seinem Bauch aufbrodeln - Wut. Er knirschte mit den Zähnen und schlug das Buch kraftvoll zu. Warum zeigte es ihm das alles, wenn es eh zu spät war?
Blöde Magie ...
Die Farne neben ihm raschelten wie eine leise Warnung.
"Lasst das!" Kilian drückte sie energisch weg und wollte aufstehen - doch die Pflanze ließ das nicht zu. Die Blätter wirbelten über seinen Kopf und drückten ihn schwungvoll nach unten. Kilian fiel beinahe rücklings in den Brunnen.
"Was ...?"
Der Farn schob ihm Blätter in den Mund.
"Es war nur ein Moment - aber es war da! Ihr wisst, was das bedeutet", sprach jemand nur wenige Meter von ihm entfernt.
Kilian erstarrte. Die Farne verdichteten sich. Endlich erkannte er, was für eine Pflanze es war - die verschiedenen Töne, das klassische Muster: Es war Tarn-Farn!
Schritte tönten wie dumpfe Paukenschläge durch den Garten. Ein Eindringling stampfte knapp an ihm vorbei. Kilian hielt die Luft an, trotzdem stieg ihm der Geruch nach strengem Parfüm in die Nase und ließ ihn würgen.
Das Paar graue Stiefel blieb stehen, kaum zwanzig Zentimeter vor ihm. "Hast du das gehört?"
Kilian hätte genauso eine Statue auf dem Brunnen sein können, denn er regte sich nicht. Er atmete nicht. Trotzdem klang sein pochendes Herz so laut, dass der Fremde es hören musste.
Eine andere Stimme meldete sich zu Wort. "Bestimmt nur widerliche Käfer, die hier überall leben. Wir haben Wichtigeres zu tun."
"Genau! Schlüsseln wir ihn endlich ein."
Im Garten waren drei Eindringlinge. Kilian erkannte die Stimmen: Es waren die drei Fremden von vorhin.
Sie bemerkten ihn nicht. Erst als sie sich einige Meter entfernten, ließ der Farn langsam locker und Kilian holte zitternd Luft. Alle Alarmglocken in seinem Kopf schrillten. Der Garten war ein heiliger Ort der Medizin, hier durfte niemand hereinkommen!
Er wusste nicht, was einschlüsseln bedeutete. Er wusste nur eins: Er musste die Fremden aufhalten. Oder wenigstens Enya und seinen Vater warnen.
Kilian sprang auf und begann mit der Verfolgung. Die Quintessentia nahm er mit - etwas sagte ihm, dass das blöde Buch trotzdem wichtig war. Er wollte es nicht unbedacht liegen lassen.
Er huschte durch die schmalen Wege des Gartens. Jordelbeeren und Melisse kamen ihm entgegen, sie hatten ihre Wurzeln in die Hände genommen und flohen aus der Spur der stampfenden Zerstörung. Kilian versuchte auf niemanden zu treten, doch das Ausweichen verlangsamte ihn.
Deshalb kam er zu spät.
Als er den Eingang des Gartens erreichte, hatten die drei Fremden bereits die Tür erreicht. Mit ihren grauen Stiefeln und grauen hochgeschlossenen Mänteln wirkten sie auf seltsame Weise wie wandelnde Statuen. Ihre Haltung war steif, ihre Gesichter steinhart. Dort war kein Funken Freude zu erkennen.
Sein Vater öffnete die Tür und seine Gesichtszüge entgleisten. "Was ...?"
"Können wir hereinkommen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, schoben sie sich ins Haus.
Kilian rannte auf das Fenster zu. Er duckte sich und spähte über die Kante. Auch Enya und ihr Eichhörnchen Daria waren auf die Besucher aufmerksam geworden. Irritiert und neugierig kam sie näher. "Kilian, die Elfen sind unruhig. Wer sind ..."
"Psst!"
Enya duckte sich schnell, als der Blick des einen Mannes haarscharf am Fenster entlang glitt. Sein Gesicht war blass wie ein Geist, seine Augen schwarz wie Teer. Gleichzeitig suchten sie die Umgebung so aufmerksam wie ein hungriger Wolf ab.
Enyas Mund klappte auf, doch die tiefe Falte zwischen Kilians Augenbrauen ließ sie bereits ahnen, dass etwas nicht stimmte.
"Hast du dich entschieden, Apotheker?", klang die Stimme des Fremden leise durch den Fensterspalt. "Es ist deine einzige Chance. Du weißt besser als alle anderen, dass es sonst nichts gibt." Der Mann mit den Wolfsaugen starrte seinen Vater erbarmungslos zu Boden. Mit seinem goldenen Kragen, goldenen Knöpfen am Mantel und hochgehobenem Kinn wirkte er wie der Anführer der Gruppe.
"Ich ..." Sein Vater knitterte den Saum seines Hemdes. Er wischte sich über die Stirn. Kilian hatte ihn selten so kraftlos gesehen. Machtlos.
Und gleichzeitig so entschlossen.
"Was wollt ihr dafür?", fragte sein Vater.
"Nichts. Wir machen das aus reiner Herzensgüte, um verzweifelten Familien zu helfen", flötete der Fremde. Er holte zwei Gegenstände aus seiner Tasche. "Du musst nur wählen, welchen du willst."
Kilians Herz übersprang einen Schlag, als er erkannte, was er seinem Vater anbot: Es waren zwei Schlüssel.
Schlüsseln wir ihn ein.
"Nicht!" Auch Enya erkannte die Gefahr. Gleichzeitig und mit lautem Protest sprangen die Geschwister auf, im selben Moment, als ihr Vater entschlossen den rechten Schlüssel ergriff.
Er wirbelte herum und erblickte seine Kinder am Fenster. Die Fremden zuckten zusammen.
Plötzlich ging alles ganz schnell.
Die Miene seines Vaters wandelte sich von väterlicher Entschlossenheit zu erschrockener Reue. Der Schlüssel glühte. Seine Hand verblasste, gefolgt von seinem ganzen Körper. Der Schlüssel saugte ihn ein. Es dauerte kaum einen Wimpernschlag, dann war er verschwunden.
Eingeschlüsselt. Er war fort.
Kilian und Enya starrten die Fremden durch das Fenster an. Sie konnten nicht glauben, was geschehen war.
"Na, das ist eine Überraschung", stellte der Anführer fest. Er hielt das Schlüssel-Gefängnis entspannt als eine Trophäe vor sich. "Er ist jetzt an einem viel besseren Ort."
Er lachte - Kilian und Enya nicht.
Dann wurde auch seine Miene steinhart. Sein Blick bohrte sich wie zwei spitze Dolche in die Quintessentia, die Kilian noch immer in der Hand hielt. "Schnappt sie euch", befahl er.
Seine Handlanger stürzten nach vorne, um die Geschwister ebenfalls einzuschlüsseln.
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