3. Kapitel - Quintessentia
Das Buch flüsterte etwas. "Öffne mich!"
Der Einband war aufwendiger und detailreicher als alle Bücher, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Linien und Schnörkel verflochten sich zu einem Schriftzug. Es schien weder aus Pappe noch Leder zu bestehen. Es sah aus wie Metall, doch als Kilian mit den Fingern vorsichtig die Ränder entlang strich, stellte er fest, dass es kalt war. Wie Eis.
"Öffne mich!", flüsterte das Buch erneut und Kilian konnte nicht anders, als dem Ruf zu folgen.
Er schlug die erste Seite auf, wo vier Punkte leuchteten: Rot, Grün, Blau und Weiß. War es möglich, dass ein Buch von innen heraus leuchtete?
Fasziniert und gebannt lehnte er sich näher. Die Lichter pulsierten - fast so, als wären sie lebendig.
Um sie herum war ein Kreis gemalt. Auch wenn es irreal klang, hatte Kilian das unerklärliche Gefühl, der Kreis schränkte ihr Leuchten ein.
Er wollte sie so gerne stärker leuchten sehen.
Hypnotisiert strich er über die kreisrunde Linie. Das Papier war rau. Eine Stelle jedoch fühlte sich seltsam an. Instabil - wie eine spröde Stelle in der Linien-Mauer. Kilian kratze über das Papier und sah, dass der Kreis sich auflöste.
Die Lichter wollten befreit werden. Er konnte sie befreien!
Er hatte vergessen, wie man atmete. Zu gebannt starrte er die leuchtenden Punkte an. Seine Finger bewegten sich wie von selbst. Dann fiel die kreisrunde Mauer zusammen.
Die vier farbigen Lichter stoben in die Höhe, als er sie aus ihrem Buchgefängnis befreit hatte.
"Hey!" Der Schreck brachte ihn zur Besinnung. Kilian stolperte rückwärts und schlug um sich, als sie um seinen Kopf zischten. Sie waren plötzlich so groß wie Äpfel und blendeten ihn. Er stieß gegen einen wahllos im Raum stehenden Bücherstapel und ruderte mit den Armen.
Die Lichter zischten durch den Raum, gegen die Lampe, gegen den Schrank. Glas splitterte, als etwas herunterfiel. Kilian landete genauso auf dem Boden. Staub wirbelte auf und vernebelte seine Sicht. Nur ein Licht blieb - das Licht des geöffneten Fensters. Dorthin flohen die vier Lichter.
Sie zischten aus dem Spalt, dann waren sie verschwunden.
"Kilian?" Sein Vater steckte den Kopf ins Studierzimmer und runzelte die Stirn, als er seinen Sohn auf dem kalten Holz liegen sah. "Ist alles in Ordnung?"
"Ich bin nur gestolpert", sagte dieser atemlos und kam schwankend auf die Beine. Er brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln. Was bitte war das gewesen?
Er wandte sich dem Buch zu. "Das habe ich gefunden. Was ist das?", fragte er und versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.
Sein Vater näherte sich der Quintessentia - die auf magische Weise wieder verschlossen war - und runzelte die Stirn noch mehr. "Das habe ich noch nie gesehen. Wo hast du das her?"
"Das lag hier, genau auf deinem Tisch."
"Seltsam."
"Fand ich auch."
Etwas hinderte ihn daran, von den schwebenden Lichtern zu erzählen. Vermutlich war es die Tatsache, dass er keinen Fehler zugeben wollte.
Sie konnten doch nicht so wichtig gewesen sein, oder? Außerdem hatte sein Vater gerade genug Sorgen.
"Das Buch ..."
Plötzlich hörten sie einen schrillen Schrei von unten - Enya.
"Später", unterbrach sein Vater ihn. Beide rannten die Treppe nach unten. Enya stand in der Küche, die Augen gefüllt mit Angst. Sie hielt ihren Arm ausgestreckt vor sich, wo sich die Bisswunde befand.
Kilian stoppte abrupt und starrte sie genauso an. "Warum leuchtest du grau?"
Enya blickte auf. "Silber", korrigierte sie. Ihre Stimme zitterte wie ein ängstliches Blatt im Sturm, als sie sich zu ihrem Vater drehte. "Papa, warum leuchtet mein Arm silbern?!"
Der Apotheker öffnete den Mund. Und schloss ihn wieder. Das Kompendium, das er noch mitgenommen hatte, fiel kraftlos aus seiner Hand, als er seine Tochter mit Tränen in den Augen betrachtete.
Enya kamen genauso die Tränen. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, doch selbst dadurch konnte sie es nicht unterdrücken.
Sie alle wussten es, auch wenn es keiner aussprach.
Das silberne Irrlicht hatte sie gebissen. Und kein Kraut aus dem Garten oder aus dieser Welt konnte das tödliche Gift noch aufhalten.
In diesem Moment, als hätte es darauf gewartet, zerriss ein donnerndes Klopfen an der Tür die Stille.
"Geht nach oben", würgte ihr Vater hervor. Ausnahmsweise widersprach keiner von ihnen. Kilian führte seine zitternde Schwester zur Treppe, die wie in Trance auf ihren Arm starrte. Jetzt, da der Prozess begonnen hatte, breitete sich das Leuchten immer weiter aus. Wenn das Gift ihr Herz erreichte, würde sie sterben.
"Ja bitte?", hörte er die Worte seines Vaters, doch er achtete nicht darauf. Viel zu fokussiert war er auf Enya, die sich auf ihr Bett setzte. Er setzte sich neben sie. Er wollte etwas sagen, doch er wusste nicht was. Also schwieg er sprachlos.
Enya brach schließlich das Schweigen. "Silber war immer meine Lieblingsfarbe", flüsterte sie und lächelte schwach. "Die Farbe hat etwas Magisches an sich. Wenn ich schon leuchte, dann wenigstens so."
Kilian brachte ein Geräusch hervor, das eine Mischung aus Lachen und Schnauben war. Das war typisch seine Schwester - versuchte in allem das Positive zu finden, war verträumt und hoffnungsvoll.
Aber sie weinte nicht mehr. Sie zitterte auch nicht mehr. Sie saß nur still auf dem Bett und atmete ruhig, als wäre jeder Atemzug plötzlich mehr wert.
In dem Moment wurde Kilian bewusst, wie stark sie war - dann konnte er es auch sein.
Er legte einen Arm um ihre Schulter und lächelte. "Ich mag silber auch."
"Stimmt doch gar nicht, du magst blau!", widersprach sie.
"Vielleicht habe ich das bisher immer nur gesagt, weil silber schon deine Lieblingsfarbe war."
"Als könnten wir sie nicht beide gleichzeitig mögen!"
"Auf keinen Fall." Er grinste.
Enya grinste nun ebenfalls. "Aber wenn du jetzt auch silber magst, muss ich mir ja eine andere Farbe aussuchen. Dann mag ich ... minze!"
Kilian verdrehte die Augen. "Das ist doch keine Farbe, das ist ein Kraut!"
"Natürlich ist es eine Farbe! Und es ist kein Kraut, es ist ein Lippenblütengewächs", korrigierte sie.
"Weil 'Lippenblütengewächs' so viel besser klingt."
Enya warf sich auf ihn - doch entgegen seiner Erwartung drückte sie ihm nur einen schnellen Kuss auf die Wange. "Nur falls ... Na ja. Weil ich es so selten gesagt habe ... Aber du bist der beste Bruder, den ich mir hätte wünschen können", meinte sie und sah plötzlich überall hin, nur nicht zu ihm.
Kilian war erneut sprachlos. Er räusperte sich, doch der plötzliche Kloß in seinem Hals wollte nicht verschwinden. "Das sagst du nur, weil ich dein einziger Bruder bin und du keinen Vergleich hast."
In dem Moment hörten sie die Tür knallen und ihren Vater lauthals fluchen. Erstaunt sahen sich beide an.
"Ich gehe mal zu ihm", beschloss Enya. Sie war bereits an der Tür, als Kilian sie stoppte.
"Ich würde mir auch keine andere kleine Schwester wünschen. Wir finden einen Weg - irgendwie. Versprochen."
Enya lächelte und für einen Moment spürte er das feste Band der Geschwisterliebe zwischen ihnen, das stärker als alles andere war. "Schon okay. Danke", flüsterte sie.
Als sie ging, wusste er, dass sie wiederkommen würde. Doch irgendwann würde sie für immer gehen müssen. Kilian war nicht bereit dazu, das zu akzeptieren, auch wenn er nicht wusste, ob er in der Lage war, sein Versprechen zu halten.
Vielleicht war es nicht immer einfach - aber warum musste man erst etwas fast verlieren, um zu erkennen, wie wichtig es war?
Er ließ sich rücklings auf das Bett fallen, bevor er sich ruckartig wieder aufsetzte.
Verlieren. Er hatte vorhin die vier Lichter verloren, als sie aus dem Fenster geflogen waren. Gab es doch einen Zusammenhang? Waren sie wichtig? Sicher war es kein Zufall, dass das magische Buch ausgerechnet jetzt aufgetaucht war.
Solange er etwas hatte, woran er glauben konnte, musste er es versuchen. Kilian musste sich dringend die Quintessentia ansehen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top